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  „Aus den Tiefen der Zeit” von Sujen   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen gehören den Eigentümern von Mission Erde/Earth: Final Conflict. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Das Schicksal eines südamerikanisches Straßenmädchen wird zum Streitpunkt zwischen Da'an und Zo'or
Zeitpunkt:  Die Story spielt in der dritten Staffel, nach der Episode „Das Königsgrab”
Charaktere:  Arkana, Sandoval, Zo'or, Da'an, [Liam, Renee, Augur]
 
Widmung:  Für Jasmin!
 

 

AUS DEN TIEFEN DER ZEIT

 

Teil 2
 

Die Washingtoner Botschaft schien so viel mehr zu Da'an zu passen als das Mutterschiff. Letzteres war Zo'ors Machtbereich. In jedem noch so kleinen Winkel des Schiffes war Zo'ors Autorität zu spüren, so als wäre das ganze Schiff förmlich davon durchdrungen. Die Botschaft jedoch unterstand Da'an, und er regierte diese abgeschlossene Welt mit Freundlichkeit und Sanftmut, was sich überall bemerkbar machte. Im Gegensatz zu Zo'or behandelte Da'an die Menschen, die ihm dienten, höflich und mit Achtung vor dem, was sie waren und repräsentierten.
Im Rahmen dessen, was er gegenüber der Synode vertreten konnte, hatte Da'an sich über die Anweisung Zo'ors hinweggesetzt, Arkanas Abstammung keinem Menschen zu offenbaren, und hatte seinen Beschützer eingeweiht. Da'an war sicher, daß Zo'or Agent Sandoval ebenfalls ins Vertrauen gezogen hatte, zumindest soweit, wie Zo'or fähig war, seinem menschlichen Attaché zu vertrauen. Daher war der Führer der Synode nicht in der Position, Da'ans Offenheit gegenüber Major Kincaid zu kritisieren oder gar als Mißachtung seiner Autorität anzuprangern.
„Was geschieht nun mit ihr?” fragte Liam.
„Das hängt von der Synode ab”, meinte Da'an. „Bis auf weiteres wurde die Verantwortung für Arkana mir übertragen.”
„Es überrascht mich, daß Zo'or das Mädchen ausgerechnet Ihnen anvertraut hat, anstatt es an Bord des Mutterschiffs zu behalten.”
„Ich muß zugeben, daß ich ebenfalls erstaunt bin. Möglicherweise fühlt Zo'or sich durch ihre Anwesenheit irritiert. Vielleicht hofft er, das Problem zu verringern, indem er es ignoriert.”
„Das Problem?”
„Seit jeher vertritt Zo'or die Auffassung, daß eine Vereinigung unserer beiden Rassen weder jetzt noch in Zukunft erstrebenswert ist. Für ihn käme es einer Verunreinigung unserer Gene gleich, so daß er bisher nicht einmal bereit war, dies auch nur in Erwähnung zu ziehen. Nun wird er mit der Tatsache konfrontiert, daß einer unser edelsten und angesehensten Führer die Menschheit offenbar für würdig erachtete, sich langfristig mit den Taelons zu vereinigen. Für Zo'or ist das nur schwer zu ertragen, zumal es seine bisherige Vorgehensweise im Hinblick auf die Menschheit in den Augen der Synode in Frage stellt.”
„Gefährdet es seine Position als Führer der Synode?”
„Nein”, erwiderte Da'an.
Die Stimme des Taelons klang neutral. Doch seine Augen begegneten der Hoffnung in Liams Stimme mit einem Hauch von Bedauern, und für die Dauer eines Lidschlages hing zwischen ihnen ein unausgesprochenes Leider.
In Momenten wie diesem herrschte zwischen ihnen jenes wortlose Einverständnis, das Da'an in dieser Intensität erst einmal zuvor geteilt hatte, mit dem verstorbenen Commander Boone. Dieses Gefühl glich dem, was den Taelon mit dem Gemeinwesen verband, auch wenn es sich in wesentlichen Punkten davon unterschied. In gewisser Weise war dieses Band beinahe stärker, denn es basierte auf persönlicher Sympathie, auf Freundschaft. Es war etwas Besonderes, etwas Kostbares, ein Geschenk des Universums an zwei Individuen, die so verschieden waren und dabei zugleich so ähnlich.
Das Geräusch leiser Schritte veranlaßte Kincaid, in Richtung der Tür zu sehen, in der Arkana erschienen war. Die Veränderung im äußeren Erscheinungsbild des Mädchens war so nachhaltig, daß er unwillkürlich den Atem anhielt.
Arkanas Haut und ihr Haar glänzten vor Sauberkeit. Nun, da der Dreck verschwunden war, erkannte Liam, daß der Teint des Mädchens die Farbe von Milchkaffee hatte, und befreit vom Staub der Straßen Bahias schienen ihre Locken aus leuchtend schwarzem Lack zu bestehen. Ihr Haar war hochgesteckt worden, wodurch sie erwachsener wirkte. Es wurde von silbernen Spangen gebändigt, die mit Opalen verziert waren. Anstelle des zerlumpten, schmutzigen Fetzens, das die Bezeichnung Kleid kaum verdient hatte, trug sie nun ein Gewand aus elfenbeinfarbener Seide. Es reichte hinab bis zu ihren Füßen, die in passenden Schuhen steckten. In der Taille wurde es von einem breiten Gürtel aus Silberplättchen gehalten. Die weit geschnittenen Ärmel verengten sich an den Handgelenken, und der hochgeschlossene Kragen vervollständigte den Eindruck einer Edelfrau aus längst vergangenen Jahrhunderten.
Unter seinem Blick errötete Arkana.
„Ein wenig unpassend, nicht wahr?” meinte sie mit einem kleinen, unsicheren Lächeln.
„Nicht unbedingt modern”, räumte Liam ein. „Doch Sie sehen toll aus!”
Ihr Lächeln gewann an Sicherheit. „Wirklich?”
„Warum sollte ich Sie anlügen, Miss Diaz?”
„Bitte, nennen Sie mich Arkana. Miss Diaz, das klingt so ... alt.”
„Einverstanden. Ich glaube, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße ...”
„Liam. Ich weiß. Da'an hat mir viel von Ihnen erzählt. Sie beschützen ihn, und Sie helfen ihm dabei, die Menschen zu verstehen. Sie sind sein ... Freund.” Das leichte Heben ihrer Stimme enthielt eine Frage, die verriet, daß der Taelon diesen Begriff nicht explizit verwendet hatte.
„Ja”, sagte Liam mit einem Seitenblick auf Da'an, dessen blasse Haut zum Ausdruck seiner tiefen Freude bei dieser Antwort die Tönung wechselte. „Das bin ich. So wie er mein Freund ist.”

 
* * *
 

Die Daten flimmerten in einer rasanten Geschwindigkeit über den Schirm, die sogar für das um ein Vielfaches gesteigerte Sehvermögen eines Implantanten zu schnell war. Trotzdem starrte Agent Sandoval konzentriert auf das Display und speicherte mit Hilfe seines CVI's möglichst viele Daten, in seinem Gedächtnis ab, mit deren Auswertung er sich später befassen würde.
Zo'ors Miene war ausdruckslos. Doch der Companion-Agent diente dem Führer der Synode lange genug, um den wachsenden Unmut hinter der gelassenen Fassade des Taelons zu spüren. Zo'or empfand das junge Mädchen aus Südamerika offenbar als ernstzunehmende Bedrohung. Um so mehr als er sich ihrer nicht so leicht entledigen konnte, wie er es mit anderen getan hatte, die seinen Zielen im Weg gewesen waren.
Eine gründliche Überprüfung durch die besten Taelon-Wissenschaftler hatte Da'ans Annahme bestätigt. Die DNA von Arkana Diaz enthielt Spuren der DNA von Ma'el. Sie war ein Nachkomme Ma'els. Mochten auch Jahrhunderte zwischen Ma'els Entscheidung, sein Erbe an die Menschheit auf diese Weise weiterzugeben, und Arkanas Geburt vergangen sein. Es änderte nichts an der Tatsache, daß sie in direkter Linie von Ma'el abstammte, und das Interesse der Synode an ihr und der Klärung ihres Status' schützte sie. Zumindest vorerst.
Zo'ors Gedanken kreisten um die Frage, die ihn beschäftigte, seit Da'an in Begleitung von Arkana die Brücke des Mutterschiffs verlassen hatte: Was, wenn die Synode mit Rücksicht auf das hohe Ansehen Ma'els am Ende zu der Entscheidung gelangen sollte, daß das Mädchen ungeachtet ihrer Menschlichkeit ein Taelon war? Er versuchte, die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, daß es dazu kam, und das Ergebnis war beunruhigend. Längst bereute er seinen voreiligen Entschluß, Da'an das Mädchen zu überlassen. Doch ihm wollte keine Begründung einfallen, die stichhaltig genug war, um die Rücknahme seiner Einwilligung vor der Synode zu rechtfertigen. Und dafür, daß er gezwungen sein würde, das zu tun, würde Da'an gewiß sorgen, sollte er ihm die Sorge für Arkana wieder entziehen. Da es Zo'or nie in den Sinn gekommen wäre, einem Menschen gegenüber einzuräumen, einen Fehler begangen zu haben, verzichtete er darauf, diesen Punkt mit Agent Sandoval zu erörtern. Statt dessen konzentrierte er sich darauf, eine mögliche Option nach der nächsten in Erwägung zu ziehen, um sie nach kurzer Überlegung sofort wieder zu verwerfen.
Dann, ganz allmählich, nahm ein Gedanke Gestalt an. Eine Möglichkeit, die ihm lohnenswert genug erschien, um die Überlegung weiterzuverfolgen.
Er deaktivierte das Display mit einer Bewegung seiner Hand und richtete die Aufmerksamkeit auf seinen Beschützer.
„Gibt es unter Ihren Mitarbeitern jemanden, den Sie für eine Beförderung empfehlen können, Agent Sandoval?”
„Für welche Position?”
Zo'or lehnte sich zurück. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm dieser Plan.
„Für die eines Companion-Beschützers”, erwiderte er.

 
* * *
 

Das Bild der violett schimmernden Kugel, die mitten im Raum zu schweben schien, erlosch. Da'an hatte während des Vortrags seinen Blick kein einziges Mal von Arkana gewendet. Das Leuchten in den Augen des Mädchens, die Art, wie sie gebannt auf das Display gestarrt hatte, faszinierten den Taelon. Sie war so begierig, alles über jene ferne Welt zu erfahren, von der sie stammte. Nachdem sie die erste Verwirrung überwunden hatte, hatte sie sich erstaunlich rasch an die Tatsache gewöhnt, daß sie ein Nachkomme von Ma'el war. Da'an vermutete, daß Ma'el gemeinsam mit seiner DNA die Bereitschaft weitergegeben hatte, zu akzeptieren, daß es nichts in diesem Universum gab, das nicht möglich war.
„Der Taelon-Heimatplanet ist wunderschön”, faßte Arkana ihre Eindrücke von dem, was er ihr gezeigt hatte, zusammen. „Wieso haben Sie eine Welt, die so herrlich ist, verlassen, um hierher zu kommen?”
„Die Erde ist ebenfalls schön”, wich Da'an aus. Arkana war selbst gemessen an menschlichen Maßstäben sehr jung. Verglichen mit den Taelons, war das Mädchen so jung, daß es sich nur schwer fassen ließ. Siebzehn Jahre. Sogar der jüngste Taelon, Zo'or, war bereits vor einem Jahrtausend geboren worden. Wie sollte er einem derart jungen Wesen das ganze furchtbare Ausmaß dessen, das die Taelons gezwungen hatte, ihre Heimat zu verlassen und zur Erde zu reisen, begreiflich machen? Die Bilder, die sie gesehen hatten, entsprachen der Wahrheit lediglich bedingt. Früher einmal war der Heimatplanet ihrer Rasse ein Juwel gewesen, das unter den Sternen des Alls seinesgleichen gesucht hatte. Heute war von dieser Schönheit, dieser Pracht, welche Arkana so begeisterte, nichts geblieben, nicht einmal ein fahler Abglanz, der bezeugen konnte, wie einzigartig diese Welt gewesen war. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde er Arkana aufklären. Er würde ihr von der Zerstörung ihrer Heimat erzählen und von den Jaridians. Doch für den Moment war die Illusion, die das Strahlen in ihren Augen gleichermaßen auch für ihn erschuf, zu kostbar, um sie zu zerbrechen.
„In unseren Datenbanken befinden sich noch weitaus mehr Informationen”, fuhr Da'an fort, erleichtert, weil sie nicht auf einer Beantwortung ihrer Frage beharrte. Er vollführte eine Bewegung mit der linken Hand, worauf eine Reihe von Daten auf dem Display erschien.
Schlagartig verwandelte Arkanas lebhafte Begeisterung sich in sichtliches Desinteresse. „Das ist langweilig”, erklärte sie.
„Es handelt sich um einen Bericht über Ma'el”, sagte Da'an, in der Hoffnung, ihr Interesse zu wecken. „Er ist an vielen Orten der Erde gewesen, darunter auch in Irland. Die Kelten hielten in für einen mystischen König, und als er starb, bestatteten sie ihn in einer ...”
„Das ist langweilig”, wiederholte Arkana. „Nicht die Geschichte über Ma'el”, ergänzte sie, als sie den Kummer bemerkte, den ihre Worte Da'an bereiteten. „Haben Sie vielleicht Bilder von Irland? Oder von Ma'els Grab?”
„Natürlich.” Da'an hob erneut die Hand, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung, als ihm der tiefe Sinn der Frage bewußt wurde. Über Jahrtausende hatten die Taelons ihre Zivilisation kultiviert. Arkana war zum Teil Taelon. Darüber hatte er vergessen, daß die Menschheit sich auf einem Stand ihrer Evolution befand, bei dem Dinge, die ihm selbstverständlich erschienen, durchaus nicht selbstverständlich waren.
„Du kannst nicht lesen.”
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Trotzdem schüttelte Arkana den Kopf. „Das stimmt nicht!” erklärte sie. Es klang trotzig, als müsse sie sich gegen einen persönlichen Vorwurf verteidigen.
„Da wir beide wissen, daß meine Worte der Wahrheit entsprechen, erblicke ich keinen Sinn darin, diese Wahrheit zu leugnen”, meinte Da'an sanft.
„Sie wissen gar nichts!” Von einem Moment zum nächsten waren ihre kindliche Freude und das zaghafte Vertrauen, mit dem sie ihm nach anfänglichem Zögern begegnet war, verschwunden. In ihrem Blick lag Abwehr.
„Du hast recht”, bestätigte der Taelon. „Ich weiß nahezu nichts über dich und das Leben, das du geführt hast, bevor Agent Sandoval dich an Bord des Mutterschiffs gebracht hat. Doch ich würde diesen Zustand sehr gerne ändern, sofern du gewillt bist, deine Vergangenheit mit mir zu teilen.”
„Da gibt es nicht viel zu teilen.” Arkana zuckte mit den Achseln. „Meine Mutter hat in einer Bar gearbeitet. Sie hat serviert, und sie ist mit Männern für Geld aufs Zimmer gegangen. Einer von denen ist mein Vater. Keine Ahnung, wie er hieß. Vermutlich wußte sie das selbst nicht. Sie hat alles versucht, um mich loszuwerden, denn das letzte, das sie gebrauchen konnte, war ein Balg, das ihr am Rockzipfel hängt und ihr Leben ruiniert. Als ob es da noch was zu ruinieren gegeben hätte. Trotzdem ist sie niemals müde geworden, mich für ihr mieses Dasein verantwortlich zu machen. Irgendwann ist mir klar geworden, daß ich mein Leben selbst in die Hand nehmen mußte, wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte. Da bin ich abgehauen. Danach habe ich mich einige Jahre auf den Straßen von Bahia herumgetrieben. Glauben Sie an Gott?” fragte sie unvermittelt.
Die Frage kam unerwartet, und die Ernsthaftigkeit, mit welcher Arkana sie stellte, erstaunte den Taelon.
„Im Gegensatz zu den meisten Menschen haben wir Taelons keine Religion”, erwiderte er.
„Heißt das, daß Sie an nichts glauben?”
„So würde ich das nicht ausdrücken. Wir glauben an die Macht des Schicksals, daran, daß im Universum Strömungen existieren, welche das Leben aller Geschöpfe beeinflussen. Doch wir glauben nicht an eine Art höheres Wesen, zu dem wir aufsehen und an das wir uns mit Gebeten wenden, wie viele Menschen es tun.”
„Weil sie dumm sind. Sie singen und sie preisen einen Gott, den es gar nicht gibt. Denn wenn es ihn geben würde, müßte er die Gebete schließlich erhören, oder?”
„Das kann ich nicht beurteilen. Soviel ich weiß, denken die meisten Menschen, daß sie keinen Anspruch auf göttliche Gnade haben, daß es die Entscheidung des Gottes, zu dem sie beten, ist, ob er ihre Bitten erfüllt.”
„Vorausgesetzt, daß Gott überhaupt existiert.” Arkana zögerte kurz. „Ich glaube nicht daran, daß es Gott wirklich gibt. Als ich klein war, hatte ich ein Heiligenbildchen. In der Straße, wo meine Mutter und ich gewohnt haben, da war am Ende eine Kirche. Der Priester war sehr nett, und er hat mich gemocht. Er mochte alle Kinder. Er hat immer gesagt, er würde sich wünschen, daß alle auf der Welt so unschuldig wie Kinder wären. Dabei waren wir alles andere als unschuldig. Ich meine, kaum daß wir laufen konnten, haben wir angefangen, die Touristen zu bestehlen. Aber der Priester war ein guter Mann, der uns für besser hielt, als wir waren. Er hat uns Bonbons geschenkt, und er hat uns von Gott erzählt. Jedem von uns hat er so ein Heiligenbildchen gegeben. Auf jedem war ein anderer von den Heiligen abgebildet. Es gibt Unmengen von Heiligen, wußten Sie das? Der auf meinem Bild hatte langes, weißes Haar und einen Bart. Er war hübsch angezogen, in blau und rot, und um seinen Kopf hatte er einen Strahlenkranz. Ich habe das Bild ständig mit mir herumgetragen. Im Ausschnitt meines Kleides, damit der Heilige so dicht wie möglich an meinem Herzen war. Der Priester hat mir seinen Namen gesagt, aber ich habe ihn vergessen. Doch ich erinnere mich, daß es ein schöner Name war, ziemlich lang und klangvoll. Der Priester hat dauernd von der Liebe der Mutter Maria und dem Jesu-Kind geredet, aber für mich war der Heilige auf dem Bild Gott. Immer wenn meine Mutter betrunken war und gejammert hat, oder wenn sie mit fremden Männern auftauchte und mich raus vor die Tür schickte, habe ich das Bild hervorgezogen und darum gebetet, daß der Heilige vom Himmel herunter steigen und etwas tun würde, um mein Dasein zu verbessern. Er ist nie gekommen.”
„Und deshalb denkst du, daß Gott nicht existiert?”
„Das ist besser, als zu denken, daß er sich für die verzweifelten Bitten eines kleinen Kindes nicht interessiert hat, oder?”
„Diese Argumentation erscheint mir logisch.” Obwohl es ein faszinierendes Thema war, hätte Da'an es vorgezogen, über etwas anderes zu sprechen. Denn was aus seiner Sicht eine interessante, theoretische Überlegung war, bedeutete für Arkana weitaus mehr, als er erfassen konnte. Da'an hatte bereits desöfteren die Erfahrung gemacht, wie wichtig die Religion für die meisten Menschen war. Er erkannte den tiefen Schmerz, der hinter Arkanas Worten steckte. In jungen Jahren war ihr und ihrem Vertrauen darauf, daß eine höhere Macht existierte, der an ihrem Schicksal lag, eine Wunde zugefügt worden, die offenbar niemals richtig verheilt war. Jedes ihrer Worte schien ihn aufzufordern, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie sehnte sich nach dem Glauben, den sie als Kind besessen und verloren hatte, das konnte er spüren. Er hätte ihr gern geholfen, ihren verschütteten Glauben wiederzufinden, doch er vermochte es nicht. Wie hätte er, der selbst nicht glaubte, das bewerkstelligen sollen? „Hast du das Bild noch?” fragte er schließlich, um die Hilflosigkeit, die er empfand, nicht in Schweigen, das als mangelndes Interesse gewertet werden konnte, ausarten zu lassen.
„Nein. Ich habe es verloren. Sonst hätte ich es, als ich älter wurde, wahrscheinlich in lauter winzige Fetzen zerrissen, oder ich hätte es verbrannt. Ich hätte gern zugesehen, wie das Gesicht des Heiligen verkohlt wäre. Das hätte mir gefallen.” Sie lächelte bei dieser Vorstellung. Doch es war ein trauriges Lächeln. „Sie haben recht”, sagte sie leise. „Ich kann nicht lesen. Sind Sie nun enttäuscht?”
„Dazu besteht keine Veranlassung.” Traurigkeit erfüllte Da'an. Darüber, daß dieses Mädchen seit frühster Jugend an so viel Leid hatte erdulden müssen. Wann immer er mit der Kälte konfrontiert wurde, mit der Gleichgültigkeit, mit der die Menschen einander viel zu oft begegneten, dann schlich sich jener Zweifel ein, den er bislang standhaft ignoriert hatte. Konnte es sein, daß Zo'or mit seinen Bedenken hinsichtlich der Menschheit möglicherweise recht hatte? War die Menschheit ungeachtet der Hoffnungen, die er hegte, vielleicht doch noch nicht so weit entwickelt, daß eine Vereinigung mit den Taelons erstrebenswert war? In Zo'ors Augen war die Menschheit eine primitive und gewalttätige Rasse. Unzivilisierte Wilde, die ihren Planeten ausbeuteten und sogar ihre eigene Art aus niedrigen Motiven töteten, etwas, das nicht einmal Tiere taten. Anfangs hatte Da'an die Menschheit auch nicht anders betrachtet. Doch dann, als er einige Menschen näher kennenlernte, war ihm bewußt geworden, wie einzigartig diese Rasse war. Verglichen mit den Taelons waren die Menschen tatsächlich primitiv und gewalttätig. Aber daneben zeichneten die Menschen sich durch Eigenschaften aus, welche Da'an Bewunderung abnötigten: Wissensdrang und die Fähigkeit zu wahrer Größe. Die Selbstlosigkeit, mit der viele Menschen sich für ihre Mitmenschen aufopferten, hatte den Taelon tief berührt. Ärzte, die sich auf Leprastationen der Gefahr einer Ansteckung aussetzten. Zivile Helfer, die in Kriegsgebieten humanitäre Hilfe leisteten. Menschen, die ihr eigenes Leben opferten, um dasjenige eines anderen zu retten. Zo'or sah nur das, was er sehen wollte. Er weigerte sich, das Gute, das Edle zu akzeptieren, das in ihnen steckte. Er hatte keinen Blick für die Gefühle und Leidenschaften der Menschen, sofern er sie nicht für seine Zwecke nutzen konnte. Schicksale wie das von Arkana schienen Zo'ors Ansicht zu bestätigen, das die Menschen den Taelons niemals ebenbürtig sein würden. Doch hatten sie selbst nicht ebenfalls eine dunkle Vergangenheit? Mochte sie auch viele Jahrtausende zurück liegen, konnte sie nicht geleugnet werden. Ma'el hatte vorausgesehen, daß Taelons wie Zo'or versuchen würden, die Menschheit zu versklaven. Daher hatte er ihnen ein Vermächtnis hinterlassen, das nicht ignoriert werden konnte.
Da'an fühlte Arkanas Blick auf sich ruhen. Das Mädchen barg in sich so viele Widersprüche. Auf der einen Seite intelligent und zu erfahren, zu reif für seine Jugend. Auf der anderen unwissend. Arkana erinnerte ihn an einen ungeschliffenen Edelstein. Sie trug das Potential zur Vollkommenheit in sich, doch sie benötigte Führung und Unterstützung, um es zu entfalten.
Einst war Ma'el Da'ans Mentor gewesen. Nun hatte das Schicksal dem einstigen Schüler den Abkömmling seines Lehrers gesandt, damit er ihn lehrte und formte. Wie schmerzlich hatte er seinen Mentor vermißt. Jetzt, nach zweitausend Jahren hatte der Kreis sich endlich wieder geschlossen. Aus den Tiefen der Zeit hatte Ma'el ihm dieses Mädchen geschickt, um das zu vollenden, was er einst auf der Erde begonnen hatte: die Vereinigung der Taelons und der Menschen.

 
* * *
 

Sandoval umkreiste den jungen Mann in dem unauffälligen grauen Anzug. Obwohl er ihn persönlich ausgewählt und Zo'or empfohlen hatte, hielt er an dem üblichen Ritual fest, einen Kandidaten vor dem Companion, der über seine Einstellung entschied, ins Kreuzverhör zu nehmen.
Der junge Mann ahnte nicht, daß sein Vorgesetzter ihn selbst vorgeschlagen hatte, und Sandoval beabsichtigte nicht, ihn das erfahren zu lassen. Weder jetzt noch später. Er wußte nicht, was Zo'or vorhatte. Doch wenn der Taelon glaubte, er würde ihm jemanden bringen, der geeignet war, seinen Platz als Beschützer einzunehmen, irrte er sich. Er hatte zu hart gearbeitet und zu viel aufgegeben, um potentielle Rivalen um die Position als Zo'ors rechte Hand zu fördern.
„Warum wollen Sie ein Companion-Beschützer werden, Lieutenant Miller?” fragte er.
„Weil ich die Companions bewundere, Sir”, kam es zurück.
„Sind Sie bereit, sich ein CVI implantieren zu lassen?”
„Ja, Sir.”
Zo'or, der das Gespräch scheinbar unbeteiligt verfolgte, fragte sich, ob Agent Sandoval sich wirklich einbildete, ihn täuschen zu können. Die Akte von Lieutenant Steve Miller war makellos. Es wimmelte nur so vor Auszeichnungen für Tapferkeit und besonderen Einsatz. Doch Da'an war nicht der einzige Taelon, der über einen sicheren Instinkt verfügte, wenn es darum ging, Menschen richtig einzuschätzen. Bereits bei seiner ersten Begegnung mit Agent Sandoval hatte Zo'or das Potential in ihm erkannt - und seine Ambitionen. Es war leicht gewesen, Sandoval auf seine Seite zu ziehen, ehe Da'an überhaupt bemerkte, was direkt unter seinen Augen vor sich ging. Im Grunde hatte Da'an ihm Sandoval geradewegs in die Arme getrieben, mit seiner übertriebenen Zuneigung für Commander Boone, die seinen ersten Implantanten zur Bedeutungslosigkeit degradiert hatte. Etwas, das jemand wie Agent Sandoval auf Dauer nicht ertrug. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Sandoval in seiner Eifersucht und seinem Schmerz über Da'ans Zurückweisung für Zo'ors Angebot empfänglich wurde. Eine Entscheidung, die Zo'or bislang nicht bereut hatte.
Der junge Mann, dessen blaue Augen voll kindlicher Bewunderung zu dem Taelon aufsahen, mochte ein guter Agent sein. Doch selbst mit einem CVI würde er niemals an Sandoval heranreichen. Aber das spielte keine Rolle, da Zo'or nicht beabsichtigte, Sandoval zu ersetzen. Eines Tages würde das vielleicht nötig werden, sollte Sandoval seinen Ehrgeiz nicht zügeln. Doch für den Moment war er der fähigste Attaché, den Zo'or sich wünschen konnte. Auch wenn diese Sache ihn einmal mehr in seiner Auffassung bestärkt hatte, daß es ein Fehler wäre, Sandoval blind zu vertrauen.

 
* * *
 

Das Straßencafé befand sich an einem weitläufigen Platz. Zur Verschönerung des Stadtbildes waren auch hier überall riesige Kübel mit Blumen aufgestellt worden. Die Betreiber der angrenzenden Geschäfte und Restaurants hatten bereitwillig die Pflege übernommen, denn sie hatten rasch erkannt, daß die blühende Pracht den Kunden gefiel, und was dem Wohlbefinden der Kunden diente, förderte den Umsatz.
Renée Palmer und Liam Kincaid saßen an einem der runden Bistrotische, die künstlich darauf gestylt worden waren, antik zu wirken. Das Café fühlte sich seinem französischen Namen Chez Louis offenbar verpflichtet, denn es hätte ohne weiteres am Montmartre in Paris sein können. Farbenfrohe Markisen verzierten die Fenster mit den unterbrochenen Scheiben. Bunte Sonnenschirme spendeten den Gästen an den eleganten Tischen mit den schwarzen Beinen und den hellen Platten aus imitiertem Marmor Schatten. Die Stühle hatten halbhohe, geschwungene Lehnen und kreisförmige Sitzflächen, und die meisten von ihnen waren besetzt. Das Wetter meinte es gut, und die überteuerten Preise, die in verschnörkelter Schrift auf der Karte aus beigem Papier standen, wurden durch das Ambiente des Cafés ausgeglichen.
Eine Kellnerin mit einer weißen Rüschenschürze über dem dezenten schwarzen Rock und einem adretten Häubchen im hochgesteckten Haar brachte die Bestellung. Einen Eiskaffee mit Sahne und einen Eisbecher mit Früchten, in dem neben einer Waffel anstatt der üblichen Schirmchen zwei Miniaturfähnchen steckten. Die französische Flagge in trauter Eintracht mit den Stars and Stripes der Vereinigten Staaten. Ein Amerikaner, der Nationalstolz mit unverhohlenem Stolz auf seine Wurzeln auf dem alten Kontinent verband.
Bei dem Gedanken wünschte Liam sich wie so oft, mehr über seine Herkunft zu wissen, seine eigenen Wurzeln besser zu kennen. Er hatte unendlich viele Fragen und niemanden, dem er sie stellen konnte. Irgendwo tief in seinem Unterbewußtsein verborgen, schlummerten einige Antworten, doch er hatte bisher noch keinen Weg gefunden, die Botschaften zu entschlüsseln. Manchmal schien es ihm, als würden leise Stimmen in seinem Kopf wispern, ohne daß er verstand, was sie ihm zuraunten, und bisweilen sah er wirre Bilder vor seinem geistigen Auge, die er nicht zu deuten vermochte. In seinen Träumen tauchten Orte und Personen auf, die ihm fremd und dabei zugleich vertraut waren, aber am Morgen war es ihm nicht möglich, sich an Einzelheiten zu erinnern. Alles, das ihm im Gedächtnis haften blieb, waren diffuse Eindrücke, verschwommene Fetzen, winzige Bruchstücke, wenige Teile eines riesigen Puzzles.
Gedankenverloren rührte Liam in seinem Eiskaffee, während er zusah, wie Renée den Löffel mit dem langen Stiel in ihr Eis tauchte. Sie nahm eine üppige Portion und balancierte sie genüßlich in ihren Mund. Sogar eine so profane Tätigkeit wie Essen wirkte bei Renée eleganter als bei anderen. Vielleicht lag es daran, daß sie stets gekleidet war, als wäre sie geradewegs einem Modemagazin für wohlhabende Yuppies entstiegen. Heute trug sie ein dunkelblaues, schmal geschnittenes Kostüm, das ihre schlanke Figur betonte und ausgezeichnet zu ihrem blonden Haar paßte. Sie war perfekt frisiert, ihre Lippen schimmerten in einem seidigen Rosé und ihre polierten Fingernägel kündigten von einem regelmäßigen Besuch in einem Manikürstudio. Eine einreihige Perlenkette vervollständigte das Bild einer erfolgreichen und dabei vornehmen Unternehmerin. Sie hatte ihre langen Beine übereinander geschlagen, und Liam registrierte unbewußt, daß ihre Schuhe exakt denselben Ton wie ihr Kostüm hatten. Für einen zufälligen Beobachter war es vermutlich unvorstellbar, daß ausgerechnet diese Frau der Befreiungsbewegung angehörte und bei Bedarf die eleganten Kleider mit einem Kampfanzug und Stiefeln vertauschte, um an Aktionen gegen die Taelons teilzunehmen. War es nicht seltsam, wie sehr Menschen dazu neigten, sich an reinen Äußerlichkeiten zu orientieren?
Renée schob einen weiteren Löffel Eis in den Mund und leckte ihn ab.
„Sind Sie sicher, daß Sie das alles schaffen?” erkundigte Liam sich.
„Falls Sie darauf spekulieren, daß ich Sie kosten lasse, muß ich Sie enttäuschen”, erwiderte sie zwischen zwei Bissen. „Glauben Sie, daß dieses Mädchen von Ma'el abstammt?” kam sie auf den Grund der Verabredung zurück.
„Da'an und Zo'or glauben es.”
„Welche Konsequenzen denken Sie, hat das für uns und die Menschheit?”
„Ich bin mir nicht sicher. Arkana Diaz ist der lebende Beweis dafür, daß Da'an recht hat, daß eine Vereinigung zwischen Taelons und Menschen möglich ist. Ihre Existenz könnte die Auffassung der Synode ändern und gegen Zo'or beeinflussen.”
„Zugunsten von Da'ans Plänen, unsere Rassen zu vereinigen? Was ist, wenn die Menschheit das überhaupt nicht will? Ist Ihnen eigentlich jemals der Gedanke gekommen, daß Da'ans Ziele für manche Menschen in gewisser Weise nicht minder erschreckend sind als diejenigen von Zo'or?”
Liam starrte sie an. Dieser Überlegung war ihm tatsächlich bisher nie in den Sinn gekommen.
„Da'an möchte den Menschen helfen.”
„Sie überraschen mich, Liam. Ich hätte Sie nicht für so naiv gehalten. Da'an und Zo'or sind in Bezug auf den Weg anderer Meinung, aber im Grunde verfolgen sie beide dasselbe Ziel: Die Menschheit soll ihren Krieg führen.”
„Da'an geht es lediglich darum, die Menschheit auf eine mögliche Invasion vorzubereiten.”
„Wachen Sie auf, Liam. Falls die Jaridians wirklich zur Erde kommen sollten, dann wegen der Taelons, nicht wegen uns. Die Taelons sind ihre Feinde, nicht wir. Wenn Da'an der Menschenfreund wäre, den Sie so hartnäckig in ihm sehen wollen, warum setzt er sich nicht dafür ein, daß die Taelons unseren Planeten verlassen? Sie mögen es ja erstrebenswert finden, Da'an dabei zu unterstützen, eine neue Rasse zu kreieren. Doch nicht alle Menschen teilen Ihre Meinung. Ich zumindest wäre durchaus zufrieden, wenn die Menschheit sich ohne Einmischung der Taelons eigenständig weiterentwickelt.”
Liam begann zu bereuen, Renée von Arkana erzählt zu haben. Er konnte ihren Standpunkt verstehen, aber die Vorstellung, sie könnte mit dieser Neuigkeit geradewegs zu Doors gehen, mißfiel ihm außerordentlich.
„Ich erwarte, daß Sie diese Information vertraulich behandeln”, sagte er.
„Sie meinen, ich soll Jonathan Doors gegenüber Stillschweigen bewahren.”
„Eigentlich meinte ich, daß Sie niemanden davon erzählen sollen. Geben Sie mir Ihr Wort, es für sich zu behalten”, ergänzte Kincaid, als er die Ablehnung in ihren Augen bemerkte. „Das ist kein Spiel, Renée. Wenn Sie möchten, daß ich Ihnen weiterhin vertraue, müssen Sie mir versprechen, daß diese Sache unter uns bleibt.”
„Versprechen können gebrochen werden.”
„Nicht von Ihnen.”
„Nein”, bestätigte sie.
Ihre Blicke kreuzten sich. In einem stummen Duell rangen beide um die Oberhand, bis Renée, wenn auch widerstrebend, nachgab.
„Also schön”, seufzte sie. „Ich gebe Ihnen mein Wort.”

 
* * *
 

Zo'ors Haut wechselte mehrfach die Farbe, ein sichtbares Zeichen der Erregung. Zorn funkelte in seinen Augen, so greifbar, daß Sandoval, der Zeuge des Streites war, ihn fast fühlen konnte.
„Wie kannst du es wagen, mich in dieser Weise zu übergehen?”
„Als Mitglied der Synode habe ich das Recht, ihr jederzeit einen Antrag zur Entscheidung vorzulegen”, erklärte Da'an. „Dazu benötige ich deine Erlaubnis nicht.”
„Ich werde keinem Menschen den Zugang zum Gemeinwesen gestatten!”
„Es geht hier nicht darum, was du gestattest, Zo'or. Die Synode wird entscheiden. Außerdem ist Arkana zum Teil Taelon.”
„Sie ist ein Mensch.”
„Sie trägt das genetische Erbe von Ma'el in sich. Nicht einmal du kannst das leugnen.”
„Das rechtfertigt es noch lange nicht, ihr die Teilnahme am Gemeinwesen zu gewähren.”
„Arkana ist eine Nachfahrin von Ma'el. Es ist unsere Pflicht, sein Vermächtnis zu ehren und sie in seinem Sinn zu lehren. Das Gemeinwesen kann Arkana dabei helfen, zu lernen, sich das Wissen anzueignen, auf welches sie aufgrund ihrer Herkunft einen rechtmäßigen Anspruch hat.”
„Das werde ich niemals dulden.”
„Du wirst es dulden müssen, wenn die Synode meinem Antrag stattgibt.”
„Du meinst, falls sie es tut”, berichtigte Zo'or. „Nimm zur Kenntnis, daß ich meinen ganzen Einfluß geltend machen werde, um zu verhindern, daß das passiert.”
„Dessen bin ich mir durchaus bewußt, auch ohne daß du es besonders betonst.” Da'ans Blick verlor seine gewohnte Sanftmut. „Sieh dich vor, Zo'or. Vergiß nicht, daß Arkana kein gewöhnlicher Mensch ist, mit dem du nach Belieben verfahren kannst, ohne daß die Synode dich zur Rechenschaft zieht, sollte ihr ein Leid geschehen.”
„Willst du damit etwas Bestimmtes andeuten? Falls ja, so ist es mir entgangen.”
„Das bezweifle ich”, bemerkte Da'an mit einem Seitenblick zu Sandoval. Damit drehte er sich um und ließ den anderen Taelon einfach stehen.
Zo'or sah Da'an nach, rang sekundenlang stumm darum, die Kontrolle über die rasende Wut, die ihn erfüllte, nicht zu verlieren. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Bedauerlicherweise hatte Da'an recht. Das Interesse der Synode an Arkana schützte sie vor den üblichen Methoden, mit denen er sich eines Menschen zu entledigen pflegte. Doch bekanntlich führten viele Wege zum Ziel.
„Wurde Lieutenant Miller das CVI bereits implantiert?” fragte er.
„Doktor Belmann wollte die Prozedur morgen früh durchführen”, erwiderte Sandoval. „Soll ich veranlassen, daß der Termin vorverlegt wird?”
Zo'or nickte. „Ja.”

 
* * *
 

Eine steile Falte hatte sich auf Arkanas glatter Stirn gebildet, die von der Konzentration zeugte, mit der das Mädchen sich den Zeilen auf dem Display widmete. Es handelte sich um eine einfache Geschichte, eine irdische Fabel, rund um eine Bohnenranke und einen Bauer, der hoffte, sein Glück zu machen, indem er die Ranke ins Unermeßliche wachsen ließ.
„Die Ranke kletterte hinauf ... bis zu dem ... Schloß in den ... Wolken”, las Arkana vor.
„Und wenn Sie nicht gestorben sind, dann leben Sie noch heute”, erklang es lachend.
Das Mädchen errötete bis zu den Haarwurzeln.
Da'an warf Liam, der das Büro betreten hatte, einen tadelnden Blick zu.
„Ich bitte um Entschuldigung”, sagte Kincaid, um lächelnd hinzuzufügen: „Ihre Fortschritte sind bewundernswert, Arkana.”
„Da'an ist ein guter Lehrer”, gab sie das Kompliment weiter.
„Nicht halb so gut wie seine Schülerin”, erklärte der Taelon mit unverhohlenem Stolz. „Liam hat recht. Deine Intelligenz und deine Auffassungsgabe sind bemerkenswert.”
„Wie hat Zo'or auf Ihren Antrag reagiert?” erkundigte sich Liam.
„So wie ich es erwartet habe.”
„Verstehe. Sie haben mich zu sich gerufen”, wechselte Kincaid das Thema.
„Ja”, bestätigte Da'an. „Arkana hat mich gebeten, ihr mehr über das Shaquarava zu erzählen, und ich dachte mir, daß Sie das möglicherweise ebenfalls interessieren könnte.”
Blick und Stimme des Taelons waren neutral. Nichts verriet, daß sie beide wußten, daß Liam sich für alles interessierte, was mit dem Shaquarava zusammenhing und warum das so war.
„Setzen Sie sich zu uns, Liam”, lud Da'an seinen Beschützer freundlich ein.
Arkana, die auf einer breiten Couch mit blauem Bezug saß, die Da'an eigens für sie in seinem Büro hatte aufstellen lassen, rückte ein Stück zur Seite.
Lächelnd kam Liam der Aufforderung nach und nahm neben ihr Platz.
„Das Shaquarava ist ein uraltes genetisches Erbe unseres Volkes”, begann Da'an. „Zu Beginn unserer Evolution war es ein natürliches Organ, mit dessen Hilfe wir uns gegen Feinde verteidigten.”
„Haben die Taelons das Shaquarava nur zur Verteidigung benutzt?” fragte Liam.
Da'an gestattete sich ein heimliches Seufzen. Er hätte wissen müssen, daß sein Beschützer die Gelegenheit, die sich ihm unverhofft bot, ergreifen würde, um jene Antworten zu erhalten, die er ihm bisher verweigert hatte.
„Nicht ausschließlich”, erwiderte er. „Unsere Vorfahren waren .. unzivilisiert und alles andere als friedliebend veranlagt. Das Shaquarava diente ihnen auch dazu, Stammesfehden auszufechten und Kriege zu führen, außerdem fand es bei verschiedenen Ritualen Verwendung.”
„Dann hat Ma'el mit seinem Shaquarava getötet?” fragte Arkana leise. „So wie ich?”
„Nein”, widersprach Da'an. „Ma'el besaß kein Shaquarava.”
„Warum besitze ich es dann?” Arkana drehte ihre Hände nach innen und betrachtete in einer Mischung aus Abscheu und Faszination ihre Handflächen. „Ich habe damit getötet.”
„Das Shaquarava wurde durch die Verbindung unserer beiden Rassen wieder erweckt. Ma'el war ein Visionär, der bereits damals überzeugt war, daß die Vereinigung mit den Menschen uns das zurückgeben würde, was wir auf unserer Suche nach Vollkommenheit verloren haben.”
„Wieso sollten die Taelons sich das Shaquarava zurückwünschen?” erkundigte Arkana sich, ohne den Blick von ihren Händen abzuwenden. „Mir hat es kein Glück gebracht. Weil ich es nicht beherrschen kann, habe ich einen Mann getötet, und dafür wäre ich gehängt worden, wenn Sie mich nicht gerettet hätten. Warum, in aller Welt, sind Sie so scharf auf dieses Shaquarava?”
Da'an und Liam tauschten einen Blick.
Sie müssen es ihr sagen, forderte der Companion-Agent stumm. Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.
„Wie ich bereits erwähnte, das Shaquarava diente unseren Vorfahren in erster Linie dazu, sich gegen ihre Feinde zu verteidigen”, wich Da'an aus. „Tatsächlich ist es weniger das Shaquarava, nach dem wir streben. Denn es ist nicht die einzige Fähigkeit, die wir im Verlauf der Jahrtausende verloren haben. Wir sind ein sterbendes Volk.”
„Wie meinen Sie das?” fragte Arkana. „Die Taelons sind doch nicht... krank ... oder?”
„Die Bedeutung meiner Worte bezieht sich auf die traurige Tatsache, daß wir im Streben nach geistiger Vollkommenheit die physische Seite unserer Existenz außer Acht gelassen haben. Der letzte Taelon wurde vor tausend Jahren geboren.”
„Heißt das, die Taelons können keine Kinder kriegen?” Arkanas Tonfall machte deutlich, daß sie den Umstand, sich nicht fortpflanzen zu können, keineswegs für tragisch hielt. Im Gegenteil.
„Wir haben die genetische Fähigkeit verloren, uns zu reproduzieren”, bestätigte Da'an. „Jeder Taelon, der auf die nächste Ebene hinübergleitet, schwächt das Gemeinwesen über den Verlust seines Wissens und seiner Erfahrungen hinaus. Denn die Lücke, die er hinterläßt, bleibt unverschlossen.”
„Ist das der Grund, weshalb ein Taelon niemals einen anderen Taelon töten würde? Jedenfalls nicht aus profanen persönlichen Gründen?”
„Das lediglich zum Teil richtig”, erwiderte Da'an, Liams Anspielung auf Zo'ors Versuche, ihn zum Wohle des Gemeinwesen zu töten, ignorierend. „Das Streben nach Vollkommenheit ging mit der Abkehr einher, Gewalt gegen einander auszuüben. Später, als wir das Ausmaß der Konsequenzen unserer evolutionären Weiterentwicklung erkannten, wurde die Achtung und Bewahrung des Lebens noch wichtiger.”
„Allen Lebens, oder nur des Lebens eines Taelon?” Liam hatte den Satz noch nicht beendet, da bereute er seine Äußerung bereits.
Da'ans Gesichtsfarbe veränderte sich. Sein Blick zeigte Bestürzung und Schmerz über diese unerwartete Anklage.
„Es tut mir leid, Da'an. Ich wollte nicht ...”
„Doch, das wollten Sie.” Der Taelon sah seinen Beschützer direkt an. „Ich achte und verstehe Ihre Gefühle. Aber so wie Sie den Ozean nicht anhand eines einzelnen Tropfens beurteilen können, Liam, bitte ich Sie, meine ganze Spezies nicht allein auf der Grundlage des Verhaltens eines Taelons zu bewerten.”
„Eines Taelons, den Ihr Volk auserkoren hat, sein Führer zu sein.”
„Was ist denn mit Zo'or?” brachte Arkana sich in Erinnerung. Ihr Blick wanderte von Da'an zu Liam und wieder zurück.
„Im Gegensatz zu Da'an betrachtet Zo'or die Menschheit nicht als ebenbürtig”, sagte Liam.
„Sind wir das denn?” Die ehrliche Verblüffung des Mädchens überraschte Kincaid. Offenbar sah sie sich weder als gleichrangig noch schien sie das sonderlich zu stören.
„Das hängt von der Definition des Begriffes ab”, antwortete Da'an an Liams Stelle. „Zo'ors Definition unterscheidet sich von der meinigen, so wie unsere Auffassungen in etlichen Dingen recht verschieden sind.”
Arkanas Neugier war geweckt. „Dann halten Sie die Menschen für ebenbürtig?” fragte sie.
„Nein. Jedoch bin ich fest überzeugt, daß die Menschheit den Taelons mit der Zeit ebenbürtig werden wird. Deine Spezies, Arkana, steht kurz davor, einen entscheidenden Schritt in ihrer Evolution zu machen, auch wenn Zo'or das bedauerlicherweise nicht wahrhaben möchte.”
„Ist er deshalb so wütend darüber, daß ich von Ma'el ... abstamme? Vielleicht wäre es besser, wenn es nicht so wäre, ich meine, es ist irgendwie ... verrückt, daß ich mit Ihnen verwandt sein soll.”
„Das klingt beinahe so, als würdest du dir wünschen, diese Verwandtschaft hätte sich niemals offenbart, so als würdest du den Umstand, davon erfahren zu haben, bedauern.”
„Es war einfacher, als ich nur Arkana Diaz war”, räumte sie ein. „Nicht, daß ich mich nach dem Leben, das ich geführt habe, zurücksehne, naja nicht wirklich jedenfalls ... aber ...”
„Aber was?”
„Diese Mauern um mich herum. Und dann dieses Land, es ist so ... fremd, sogar die Sonne ist kälter hier. Ich vermisse das Meer. Die Brandung. Den Geruch nach Fischen im Hafen. Oberhalb des Hafens von Bahia gibt es eine schroffe Klippe, dort oben steht ein uralter Olivenbaum. Er trägt zwar kaum noch Früchte, doch er ist wunderschön. Darunter habe ich oft gesessen und auf das Meer und die Schiffe geschaut. Manchmal habe ich sogar unter diesem Baum geschlafen. Der Himmel erscheint einem oben auf der Klippe so nah, man glaubt, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um die Sterne über sich berühren zu können. Es tut mir leid, Da'an. Sie sind so gut zu mir, und ich bin so furchtbar undankbar. Sie haben recht, ich wünsche mir manchmal, niemand hätte das mit Ma'el je erfahren.”
„Es erfüllt mich mit Trauer, daß du unglücklich bist.”
„Nein, nein”, wehrte sie sofort ab. „Ich bin nicht unglücklich, ich bin gerne bei Ihnen. Ich mag Sie, Da'an, und ich möchte noch so viel von Ihnen lernen, über Sie - und über Ma'el.”
„Es ist wichtig, seine Wurzeln zu kennen.” Über Arkanas Schulter suchte der Taelon Liams Blick. „Um zu wissen, wer man ist, muß man wissen, wer diejenigen waren, von denen man stammt.”
„Das ist wohl wahr.”
Beim Klang dieser Stimme fuhren Liam und Arkana herum.
„Darf ich erfahren, weshalb du es nicht für nötig erachtet hast, deinen Besuch anzukündigen, Zo'or?” erkundigte Da'an sich.
„Mir ist nicht bewußt, daß ich verpflichtet wäre, das zu tun.”
„Du bist es nicht. Doch es entspricht den Geboten der Höflichkeit.”
„Menschlichen Geboten vielleicht. Ich bin der Führer der Taelon-Synode, und ich suche jeden Taelon auf, wann immer ich es für erforderlich halte.”
„Was führt dich zu mir?”
„Das Bestreben, unsere Differenzen beizulegen. Es war voreilig und unbedacht von mir, dich wegen deines Antrags in Bezug auf Arkana zu tadeln, Da'an. Da sie unstreitig ein Nachfahre Ma'els ist, verlangt der Respekt, den wir ihm und seinem Andenken schulden, es in der Tat, ihr jegliche Hilfe zuteil werden zu lassen.”
„Ich bin erfreut, daß du deine Meinung geändert hast, auch wenn es überraschend kommt.”
„Da Arkana Ma'els genetisches Erbe in sich trägt, halte ich es für erforderlich und angemessen, diesen Umstand in den Augen der Taelons und der Menschen dadurch zu würdigen, daß Arkana ab sofort bis zur endgültigen Entscheidung der Synode über ihren Status sämtliche Privilegien eines Companions verliehen werden.”
„Du bist erstaunlich großzügig, Zo'or. Darf ich fragen, was diesen plötzlichen Sinneswandel verursacht hat?”
„Als Companion hat Arkana natürlich auch Anspruch auf einen eigenen Beschützer”, erklärte Zo'or, ohne Da'ans Frage zu beantworten. In Zo'ors Begleitung befand sich neben Agent Sandoval ein junger Mann, auf den er nun deutete. „Das ist Lieutenant Steve Miller. Er hat vor einer Stunde sein Implantat empfangen.”
„Schlägst du vor, daß Lieutenant Miller Arkanas Beschützer werden soll?”
„Nein.” Zo'or lächelte. „Lieutenant Miller wird künftig meine Sicherheit garantieren.”
Die Blicke von Da'an und Liam flogen zu Sandoval, der bei dieser Eröffnung keine Miene verzogen hatte.
Zo'ors Blick folgte ihnen. Sein Lächeln vertiefte sich. „Mit sofortiger Wirkung ernenne ich Agent Sandoval zu Arkanas Beschützer.”

 

 

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