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  „Jenseits der Nacht” von Sujen   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen gehören den Eigentümern von Mission Erde/Earth: Final Conflict. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Beckett und Sandoval arbeiten in London zusammen, um Sabotageakte einer britischen Widerstandszelle aufzuklären
Zeitpunkt:  Die Story spielt in der Mitte der ersten Staffel, nach der Episode „Das keltische Grabmal”
Charaktere:  Siobhan Becket, Ronald Sandoval, DeeDee Sandoval, [La'el, Zo'or, James Lynley, Tom O'Mally, Anne Rice, Da'an]
 

 

JENSEITS DER NACHT

 

Teil 2
 

Das Haus stammte aus den Anfängen des achtzehnten Jahrhunderts, und die Denkmalschutzbehörde hatte peinlichst darauf geachtet, daß kein Mauerstein und keine Butzenscheibe entfernt worden waren. Von außen wirkte das Cottage mit dem Fachwerk, dem Schieferdach und den Efeuranken, die fast jedes Fleckchen Wand bedeckten, als ob es einem Märchen entsprungen wäre. Unwillkürlich wartete man darauf, daß durch die Holztür mit den kunstvollen Beschlägen aus Eisen jeden Moment eine verhutzelte Hexe oder eine verzauberte Fee hinaustreten würde.
„Was wollen wir hier?” fragte Sandoval.
„Warten Sie es ab.” Beckett betätigte den altmodischen Türklopfer in Form eines Löwenkopfes mit einem Ring im Maul.
Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf einen Mann frei, der ein kariertes Hemd und eine graue Kordhose trug, die an den Knien ausgebeult war. In seinem Mundwinkel steckte eine Pfeife, der eine dünne, gekräuselte Rauchfahne entstieg.
„Hallo, Siobhan. Lange nicht gesehen.” Sein Blick streifte Sandoval. „Ein Freund von dir?”
„Könnte man sagen. Das ist Agent Sandoval, der Beschützer von Zo'or.”
„Hab' schon von ihm gehört. Ich bin Ben Driskell.”
Widerstrebend nahm Sandoval die schwielige Hand, die der Mann ihm reichte ...
... um Sekunden später auf den Knien zu liegen, sein rechtes Handgelenk so verdreht, daß der Skrill sich in seinen Rücken bohrte. An seiner Kehle spürte er den Druck von Driskells Fingern, und der Griff um seinen Nacken verriet ihm, daß er es mit einem Profi zu tun hatte, der fähig war, ihm mit einer einzigen Drehung seiner Hand das Genick zu brechen, sollte er den Versuch unternehmen, sich zu befreien.
Beckett hatte sich nicht gerührt. „Laß ihn los, Ben”, verlangte sie.
„Dein Freund hält sich für überlegen, weil er ein Implantat im Gehirn hat. Das mag ich nicht.”
„Implantanten sind normalen Menschen überlegen”, stellte Beckett fest.
„Wenn das so ist, warum liegt er dann auf den Knien?”
Beckett ging in die Hocke, wodurch ihr Gesicht sich auf gleicher Höhe wie Sandovals befand.
Sie streckte ihre rechte Hand aus und legte sie sanft auf Sandovals Schulter.
„Laß ihn los!” wiederholte sie.
„Erschießt du mich sonst?”
Beckett sah Driskell über den Skrill an ihrem Handgelenk, der auf seinen Bauch zeigte, an.
„Ja”, erwiderte sie leichthin.
„Schon gut, reg dich nicht auf.” Lachend lockerte Driskell seinen Griff, worauf Sandoval sich mit einem Ruck befreite und herumwirbelte.
Beckett sprang auf und fiel Sandoval in den Arm, als er seinen Skrill auf Driskell richten wollte.
„Ben steht auf unserer Seite. Wir waren in der selben Anti-Terror-Einheit. Er arbeitet verdeckt und versorgt mich mit Informationen, die mir dabei helfen, den Taelons besser zu dienen.”
Sandoval schüttelte Becketts Hand ab und rückte seine graue Krawatte, die bei dem Gerangel verrutscht war, wieder zurecht.
„Für einen Nicht-Implantanten sind Sie erstaunlich gut in Form. Doch in Ihrem Interesse rate ich Ihnen, etwas Derartiges nie wieder zu versuchen. Nie wieder!”
„Für einen Implantanten ist dein Freund ziemlich hitzig”, meinte Driskell trocken.
„Sagen Sie Ihrem Freund, daß er aufhören soll, über mich in der dritten Person zu sprechen!”
„Ganz schön empfindlich.” Driskell grinste. „Fließt in Ihren Adern zufällig irisches Blut?”
Sandoval ignorierte die Frage.
Driskell zuckte mit den Achseln. Er drehte sich um und bedeutete Beckett und Sandoval, ihm in das Innere des Cottage zu folgen, das im Wesentlichen aus einer geräumigen Wohnküche bestand, in der sich das gesamte Leben des Bewohners abzuspielen schien, rund um einen riesigen Herd und eine breite Couch, die sowohl zum Sitzen als auch zum Schlafen diente. In einer Ecke befand sich ein runder Tisch aus dunklem Holz, um den vier Stühle gruppiert waren, von denen keiner zum anderen paßte, geschweige denn zum Tisch. Offenbar beschränkte Driskells Vorstellung von Wohnqualität sich darauf, daß Möbel stabil und praktisch zu sein hatten, ohne sich um optische Gesichtspunkte zu scheren. An einer der beiden Schmalseiten des Raumes war ein Kamin in die Wand eingelassen, in dem ein Feuer flackerte. Überall lagen Packungen mit Fertiggerichten, angebrochene Schachteln mit verschiedenen Cornflakes-Sorten, halbleere Milchflaschen und zerdrückte Bierdosen herum, in einem heillosen Durcheinander mit schmutzigem Geschirr, Kleidungsstücken, Zeitschriften und Bergen von bekritzeltem Papier, die Hälfte davon in Form zerknüllter Bälle.
„Es ist nicht ganz so ordentlich wie Sie es von Ihrem Büro vermutlich gewohnt sind”, meinte Driskell, als er Sandovals Blick bemerkte.
„Was hast du für uns?” fragte Beckett.
„Ein Gesicht und einen Namen.” Driskell schob eine Cornflakes-Schachtel beiseite, nahm das Foto, das halb darunter gelegen hatte, und reichte es Beckett.
Das Foto war leicht verwackelt. Trotzdem war der blonde Mann darauf gut zu erkennen. Er war gerade dabei, ein großes Gebäude zu verlassen und lachte jemandem zu, der sich außerhalb des Bildes befand.
„Sein Name ist O'Mally”, erläuterte Driskell. „Thomas O'Mally.”
„Sohn von Kenneth und Megan O'Mally”, fuhr Beckett fort. „Geboren und aufgewachsen in der Nähe von Dublin. Er hat in Harward Archäologie und Sprachen studiert, bis sein Vater bei einer Militäraktion der britischen Armee ums Leben gekommen ist. Danach hat er sich auf seine irischen Wurzeln besonnen, das Studium abgebrochen und sich der IRA angeschlossen. Drei Jahre später soll er bei einem Gefecht in Belfast getötet worden sein, ohne daß seine Leiche je gefunden wurde.”
„Nun wissen wir, warum”, sagte Driskell. „Mister O'Mally erfreut sich bester Gesundheit. Er hält sich in London auf, und so wie es aussieht, hat er sich einen neuen Gegner gesucht.”
„Sind Sie sicher, daß er unser Mann ist?” vergewisserte Sandoval sich.
„Einigen wir uns darauf, daß O'Mally mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter den Sabotageakten auf die Taelon-Einrichtungen steckt oder zumindest bis zum Hals darin verwickelt ist.”
„Was ist das für ein Gebäude im Hintergrund?” fragte Sandoval.
„Die Universität”, antwortete Beckett. „Was könnte er dort gewollt haben?”
Driskell fischte ein zweites Foto aus den Papierbergen auf dem Tisch. Es zeigte einen hageren Mann, der einen braunen, unauffälligen Anzug trug. Die Augen hinter der Brille mit dem schmalen, goldenen Rand, waren hell und klar. Neben ihm stand eine dunkelhaarige Frau in einem roten Kleid. Sie hatte ihr Gesicht von der Kamera abgewandt und redete offenbar erregt auf ihren Begleiter ein.
„Professor James Lynley”, sagte Driskell. „Er hat einen Lehrstuhl für Archäologie an der Universität von London. Die Frau heißt Anne Rice. Ebenfalls eine Archäologin. Die drei kennen sich aus Havard.”
„Lynley ist mindestens zwanzig Jahre älter als Rice und O'Mally”, wandte Sandoval ein.
„Die beiden haben bei dem Professor studiert, bei dem Lynley zur gleichen Zeit habilitiert hat, daher der Altersunterschied. Inzwischen leitet Rice ein Museum für Antike in Nottingham. Weder sie noch Lynley sind bisher mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Zumindest nicht offiziell.”
„Denkst du, sie gehören zur Befreiungsbewegung?” fragte Beckett.
„Möglich. Vielleicht handelt es sich hier aber auch nur um ein harmloses Klassentreffen. Was denkst du, Siobhan?”
„Agent Sandoval?” gab Beckett die Frage weiter.
„Mister O'Mally ist offensichtlich nicht in London, um in Erinnerungen zu schwelgen. Warum also sollte er sich die Muße nehmen, das zu tun. Wir sollten ihn bitten, uns das zu beantworten.” Sandoval sah Driskell an. „Wo genau hält er sich im Moment auf?”
„Vermutlich in irgendeinem Pub.”
„Soll das heißen, daß Sie ihn aus den Augen verloren haben?”
„Sieht wohl so aus”, räumte Driskell ein. „Hören Sie, der Kerl ist ein ehemaliges Mitglied der IRA. Glauben Sie etwa, die IRA hätte uns damals derart zu schaffen gemacht, wenn ihre Leute nicht in der Lage gewesen wären, bei Bedarf spurlos unterzutauchen? Er war gemeinsam mit Anne Rice bei Lynley. Später kam Lynleys Assistentin vorbei.”
„Seine Assistentin?”
„Mary Sullivan. Sie überarbeitet das Buch, an dem er gerade schreibt. Sie ist nur an die Tür gekommen und hat ihm ein Manuskript gebracht. Ich habe sie überprüft. Sie scheint sauber zu sein. O'Mally hat zehn Minuten nach ihr das Haus verlassen, ist in die Subway gestiegen und im Gewühl der Menge verschwunden.”
„Was ist mit Lynley und Rice?” erkundigte sich Beckett.
„Sie hat bei ihm übernachtet. Jetzt hält er gerade seine erste Vorlesung. Sie ist im Museum, schaut sich an, was die Konkurrenz zu bieten hat.”
Sandoval und Beckett tauschten einen Blick.
„Kümmern Sie sich um Professor Lynley”, sagte Sandoval. „Ich werde mich derweil mit Miss Rice unterhalten.” Damit drehte er sich um und verließ das Cottage.
„Auf ein Wort noch, Siobhan”, hielt Driskell Beckett, die Sandoval folgen wollte, zurück. „Wenn ich Sandoval vorhin nicht losgelassen hätte, hättest du mich doch nicht wirklich erschossen, oder?”
„Was glaubst du, Ben?” Beckett umarmte ihn. „Du bist mein Freund.” Ihre Wange ruhte an seiner, und ihr Mund an seinem Ohr, als sie leise flüsterte: „Sonst hätte ich dich bereits dafür getötet, daß du die Hand gegen ihn erhoben hast.”

 
* * *
 

Sie liebte das Büro mit den hohen Bogenfenstern, die hinaus auf den weitläufigen Park des Campus gingen, fast genauso die Bibliothek. Die Möbel hätten jeden Antiquitätenhändler entzückt. Lynley mußte ein Vermögen dafür ausgegeben haben.
Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, und als sie heute früh in den Spiegel ihres winzigen Badezimmers geschaut hatte, war sie versucht gewesen, im Sekretariat der Universität anzurufen und darum zu bitten, man möge Professor Lynley ausrichten, daß sie heute nicht käme, weil sie krank sei. Doch die Vorstellung, den Tag allein mit ihren Erinnerungen in ihrer Wohnung zu verbringen, hatte sie bewogen, es sich anders zu überlegen. Kopfschmerzen hin oder her, es war besser, sich von Arbeit ablenken zu lassen, als im Selbstmitleid zu versinken.
Sie hatte eine Stunde damit verbracht, sich zurecht zu machen. Normalerweise benötigte sie morgens nur knapp zwanzig Minuten. Aber ihr Gesicht war so blaß gewesen, und die Ränder unter den vom Weinen geröteten Augen so tief und dunkel, daß sie sich mehr Zeit genommen hatte, um sich mittels diverser Schminktricks soweit in Form zu bringen, daß sie sich auf die Straße traute.
Als sie in der Universität eintraf, hatte Lynleys erste Vorlesung bereits begonnen. Er hatte im Sekretariat die Nachricht hinterlassen, daß sie den Rohentwurf von Kapitel sechzehn in seinem Büro finden würde. Die Sekretariatsangestellte kannte sie und hatte ihr Lynleys Büro aufgeschlossen, denn natürlich hatte der Professor wieder einmal vergessen, seinen Schlüssel für sie zu hinterlegen. Das tat er meistens, in diesem Punkt bestätigte er das Bild des zerstreuten Gelehrten in jeder Hinsicht.
Sie hatte beschlossen, der Einfachheit halber in Lynleys Büro zu arbeiten, bis seine Vorlesung zu Ende war. Dann konnten sie auch noch rasch einige Dinge bezüglich des Manuskriptes besprechen, bevor sie ihren üblichen Platz in der Bibliothek aufsuchte.
Sie war so vertieft, daß sie das Klopfen überhörte und erst aufsah, als eine Frau eintrat und so abrupt stehenblieb, als hätte sie damit gerechnet, das Büro leer vorzufinden.
Tatsächlich war Beckett überzeugt gewesen, niemanden anzutreffen, nachdem keiner auf ihr Klopfen reagiert hatte. Die Tür war nicht verschlossen, eine günstige Gelegenheit, sich in Abwesenheit des Professors in seinem Büro umzusehen. Statt dessen sah sie sich unerwartet mit dieser blonden Frau konfrontiert, die sie irritiert anblickte.
„Miss Mary Sullivan?”
„Ja, und wer bitte sind Sie?”
„Companion-Agent Lieutenant Beckett. Sie sind Professor Lynleys Assistentin?”
Ein Companion-Agent.
Sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden.
„Ich habe Ihnen eine Frage gestellt.”
„Da Sie meinen Namen kennen, wissen Sie vermutlich, daß ich Professor Lynleys Assistentin bin, weshalb also fragen Sie mich das? Und mit welchem Recht betreten Sie sein Büro, ohne daß Sie hereingebeten wurden?”
„Ihr Ton gefällt mir nicht, Miss Sullivan.”
Bist du von Sinnen, schalt sie sich in Gedanken. Die Frau ist ein Companion-Agent, und du reizt sie, noch schlimmer, du benimmst dich verdächtig. Was, wenn sie dich festnimmt? Du darfst das nicht riskieren, nicht nach allem, was es dich gekostet hat, deine Vergangenheit auszulöschen.
„Es tut mir leid, Lieutenant Beckett, ich wollte nicht unhöflich sein. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?”
„Ja.” Beckett setzte sich unaufgefordert. „Sie könnten mir einige Fragen in Bezug auf Ihren Arbeitgeber beantworten, während ich auf ihn warte.”
Ihr Blick flog zu der antiken Uhr, die auf einer Biedermeierkommode neben der Tür stand. Es war Viertel vor elf. Die Vorlesung war gerade zuende. Professor Lynley würde sich, wie es seine Art war, noch kurz mit den Studenten unterhalten, die ihn im Anschluß an die Vorlesung stets noch mit allerlei Fragen bestürmten, dann würde er sich auf den Weg in sein Büro machen.
„Das könnte aber eine Weile dauern”, sagte sie langsam. Sie war keine besonders gute Lügnerin, zumindest war sie das früher nicht gewesen. Inzwischen war sie besser geworden. Wenn das gesamte Leben auf einer Lüge aufgebaut war, brachte man es zwangsläufig zur Meisterschaft im Lügen, jedenfalls dann, wenn man überleben wollte.
Beckett, die ihrem Blick gefolgt war, runzelte die Stirn. „Wieso?”
„Die nächste Vorlesung beginnt erst um Viertel nach zwölf. Professor Lynley wollte direkt vom Hörsaal in die Stadt, zumindest hat er das heute früh noch gewollt.” Warum log sie überhaupt? Sie wußte es nicht. Sie handelte instinktiv, wie ein Tier, das die Gefahr witterte, spürte sie, daß diese Frau eine Bedrohung darstellte, für den Professor, und vielleicht auch für sie selbst.
„Professor Lynley verläßt den Campus für gewöhnlich nicht zwischen den Vorlesungen.”
Sie hielt sich nicht damit auf, sich zu fragen, weshalb Lieutenant Beckett anscheinend genau über Lynleys Gewohnheiten informiert war. Diese Frau war ein Companion-Agent. Eine Jägerin, die ihre Beute einkreiste. Wer den Gegner kannte, war ihm gegenüber im Vorteil, eine Weisheit, welche Lieutenant Beckett gewiß zu beherzigen pflegte.
„Normalerweise nicht. Aber heute schon. Ich glaube, er hat eine Verabredung.”
„Eine Verabredung?” Beckett sprang auf. „Wo und mit wem?”
„Das hat er mir nicht gesagt.”
Becketts Verstand arbeitete auf Hochtouren. Lynley traf sich zweifellos mit Thomas O'Mally. Das Zeitfenster war knapp. Wenn Lynley pünktlich zu seiner nächsten Vorlesung wieder auf dem Campus sein wollte, kam nur ein Restaurant oder ein Pub in Nähe der Universität in Betracht. Ihr CVI rief blitzschnell sämtliche in Frage kommenden Gaststätten in der unmittelbaren Umgebung ab. Etliche Studentenkneipen, ein preiswerter chinesischer Stehimbiß, ein Biergarten und Restaurant mit traditioneller, bürgerlicher Küche. Das mußte es sein.
„Halten Sie sich zur Verfügung, Miss Sullivan. Es wäre möglich, daß wir dieses Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortführen. Und falls Ihnen irgend etwas einfällt, das Sie mir sagen wollen, erreichen Sie mich unter dieser Nummer.”
„Natürlich.” Sie lächelte scheinbar arglos. Sie steckte die Karte, die Beckett ihr reichte ein und wartete, bis die Tür sich hinter ihr wieder geschlossen hatte, hoffend und betend, daß Beckett draußen auf dem Flur nicht geradewegs mit dem Professor zusammenstieß. Dann zählte sie im Geist langsam bis zwanzig, bevor sie das Büro ebenfalls verließ. Für einen Tag hatte sie genug Aufregung gehabt. Sie würde nach Hause gehen, und auf dem Weg dorthin würde sie Lynley abfangen und über Becketts Besuch in Kenntnis setzen. Falls er etwas zu verbergen hatte, war es seine Sache, entsprechend zu reagieren. Sie hatte ihm geholfen soweit es ihr möglich gewesen war, aber sie beabsichtigte nicht, sich in irgend etwas verwickeln zu lassen. Sie mochte dieses Leben, und sie wollte nicht schon wieder fliehen müssen.

 
* * *
 

Als Sandoval beim Museum eintraf, war Anne Rice gerade dabei, es zu verlassen. Sie stand auf der Treppe, die zum erhöhten Eingang führte und schien zu überlegen, wohin sie als nächstes gehen wollte. Sie sah in natura noch viel attraktiver aus als auf dem Foto, das Driskell ihm gezeigt hatte. Sie trug ein ärmelloses Kleid aus pfirsichfarbenem Leinen, dessen kurzer Rock mehrere Hand breit über ihren Knien endete. Sie konnte es sich leisten, ihre nackten, gebräunten Beine waren lang und äußerst wohlgeformt. Niemand hätte sie für die Direktorin eines Museums für Antike gehalten. Am Fuß der Treppe saß eine Gruppe von Arbeitern, die gerade Mittagspause machten, deren Aufmerksamkeit jedoch weniger den mitgebrachten Broten und Bierdosen denn der jungen Frau mit der schwarzen Mähne und den aufregenden Beinen galt.
Anne Rice schien die bewundernden Blicke und Pfiffe nicht zu bemerken, und wenn doch, so achtete sie nicht darauf. Offenbar hatte sie sich entschieden, wohin sie jetzt wollte, denn sie ging nun langsam die Treppe hinab, wobei schreiten die treffendere Bezeichnung war. Die Sohlen ihrer hohen Pumps schienen über den Stufen zu schweben, ohne sie zu berühren. Ihre Bewegungen waren von einer lässigen Anmut, alles an ihr strahlte das Selbstbewußtsein einer Frau aus, die keinen Zweifel an ihrer Wirkung hatte.
„Miss Rice?”
„Ja?” Sie drehte sich zu Sandoval um. „Kennen wir uns?”
„Agent Sandoval. Companion-Beschützer. Ich muß Sie bitten, mich zu begleiten.”
„Warum?” Ihr Blick war offen und arglos.
Entweder hatte sie nichts zu verbergen, oder sie hatte sich bewundernswert unter Kontrolle.
„Weil ich einige Fragen an Sie habe.”
„Eigentlich wollte ich gerade Mittag essen gehen. Ich sterbe vor Hunger.” Sie lächelte. „Um die Ecke gibt es ein nettes Restaurant. Wenn Sie möchten, können wir uns dort unterhalten, während ich mir ein Stück Roastbeef mit Bratkartoffeln genehmige. Das stört Sie doch nicht, oder?”
Ohne seine Antwort abzuwarten, lief sie los.
Sandoval folgte ihr, doch als er sie eingeholt hatte, wirbelte sie ohne Vorwarnung herum und versetzte ihm eine Ohrfeige.
„Was fällt Ihnen ein!” kreischte sie. „Lassen Sie mich zufrieden!”
Ihr Aufschrei mobilisierte die Arbeiter, und ehe Sandoval sich versah, umringten ihn mehrere Männer mit finsteren Mienen und drohend geballten Fäusten.
„Aus dem Weg!” verlangte Sandoval.
„Wir mögen hier keine Kerle, die eine Lady belästigen”, erklärte ein großer Arbeiter, dessen muskulöse Oberarme mit Tätowierungen bedeckt waren.”
„Ich sagte, Sie sollen mir aus dem Weg gehen.” Sandoval riß den rechten Arm hoch und hielt dem Sprecher seinen Skrill unter die Nase, die aussah, als hätte sie in früheren Kämpfen bereits mehr als einen kräftigen Faustschlag einstecken müssen. „Sofort!”
Der Skrill glühte, und Sandoval Miene veranlaßte den Mann zurückzuweichen.
Seine Kameraden tauschten unruhige Blicke.
„Hey, was ist das denn für ein Ding?”
„Momentmal, ich glaube, ich kenne den Kerl. Er war gestern im Fernsehen, in dem Bericht über diesen Taelon. Er ist ein Companion-Agent.”
Sandoval versuchte vergeblich, Anne Rice irgendwo zu entdecken. Die Straße war leer, bis auf eine ältere Frau, die ihren Hund spazieren führte, und einen Skateboardfahrer mit grün gefärbten Haaren, der sich in halsbrecherischen Kunststücken übte.
Sandoval aktivierte sein Global.
„Ist Lynley bei Ihnen?” fragte er, als Becketts Gesicht auf dem Display erschien.
„Ich habe ihn nicht angetroffen. Aber ich werde ihn in einem der Restaurants in der Nähe des Campus finden, wahrscheinlich in Begleitung von O'Mally.”
„Vergessen Sie es. Anne Rice weiß, daß wir hinter ihr und ihren Freunden her sind und hat sie sicher längst gewarnt. Kehren Sie zur Botschaft zurück, ich werde ebenfalls dorthin kommen.”
Sandoval deaktivierte das Global wieder und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Arbeiter mit den tätowierten Oberarmen, der mit hängenden Schultern da stand.
„Das wird ein Nachspiel für Sie haben!”
„Hören Sie, Mister”, sagte der Tätowierte, „wir wußten nicht, daß Sie ein Companion-Agent sind. Wir wollen keinen Ärger, okay.”
„Den haben Sie bereits!” stellte Sandoval fest.
Die Miene des Mannes glich nun der eines geprügelten Hundes.
„Die Lady hat geschrien”, verteidigte er sich lahm.
„Die Lady ist verdächtig, eine gesuchte Terroristin zu sein.” Sandoval ließ seine Worte einige Sekunden wirken, bevor er fortfuhr: „Falls sie noch einmal in der Nähe des Museums auftaucht, oder wenn einer sie irgendwo anders sieht, dann wird er mich unverzüglich informieren, ist das klar?”
Sie nickten eifrig, sichtlich erleichtert, daß dieser Companion-Agent mit dem kalten Blick und dem unheimlichen Ding am Arm ihnen eine Chance gab, ihre Verfehlung wiedergutzumachen.
„Wie erreichen wir Sie, Sir?” erkundigte der Tätowierte sich beinahe schüchtern.
„Über das Büro des britischen Companions oder über mein Global.” Sandoval zog eine Karte aus der Tasche. „Das ist die Nummer.”
Der Tätowierte streckte seine rauhe Hand aus, um nach der Karte zu greifen.
Kurz bevor seine Fingerspitzen sie berührten, ließ Sandoval die Karte los.
Sie fiel langsam zu Boden und blieb vor den staubigen Schuhen des Arbeiters liegen, der sich mit gesenktem Blick bückte und sie aufhob.

 
* * *
 

Zo'or umkreiste Sandoval, so wie er es stets tat, wenn er emotional über alle Maßen erregt war. In regelmäßigen Abständen blieb er stehen und fixierte seinen Beschützer, der sich nicht rührte.
„Wie können Sie es wagen, mir mit diesem Mißerfolg unter die Augen zu treten? Hätten Sie Anne Rice nicht durch Ihre Unachtsamkeit entkommen lassen, wäre es ihr nicht möglich gewesen, Professor Lynley und O'Mally zu warnen, dann hätten wir jetzt alle drei in unserem Gewahrsam. Ist Ihnen bewußt, in was für eine demütigende Lage Sie mich durch Ihre Unfähigkeit gebracht haben? Die Synode hat mich beauftragt, La'el zu unterstützen. Statt dessen erlauben Sie dieser Frau, Sie und damit zugleich mich öffentlich zu blamieren. Ich sollte Sie durch jemand anderen ersetzen, vielleicht durch Lieutenant Beckett, deren Erfolg durch Ihren sträflichen Leichtsinn ebenfalls vereitelt wurde.”
„Hat Lieutenant Beckett das gesagt?”
„Nein. Das war auch nicht nötig, da La'el sich diesbezüglich gegenüber der Synode mehr als ausführlich geäußert hat. Dabei hat er seinem Wunsch Ausdruck verliehen, daß Lieutenant Beckett die Ermittlungen ab sofort wieder allein führt.”
„Hat die Synode diesem Wunsch entsprochen?”
„Nein. Doch ich wurde daran erinnert, daß London der Kompetenz von La'el als britischem Companion unterliegt. Woraus folgt, daß Sie, Agent Sandoval, für die Dauer Ihrer Zusammenarbeit mit Lieutenant Beckett hier in England ihrer Befehlsgewalt unterstehen, nicht umgekehrt.”
„Ich verstehe.”
„Nein, das tun Sie nicht. Indem die Synode Sie Beckett unterstellt, wird jeder Erfolg, den Sie erzielen, in den Augen der Synode Lieutenant Becketts Erfolg und damit der Erfolg La'els sein. Das werde ich nicht dulden! Ich werde einen Erfolg nicht mit La'el teilen oder ihm gar überlassen! Daher werden Sie das Problem mit den Terroristen allein lösen, Agent Sandoval!”
„Was ist mit Lieutenant Beckett?”
„Ich habe gehört, daß London ein gefährlicher Ort sein soll.” Zo'or lächelte. „Möglicherweise erleidet Lieutenant Beckett einen bedauerlichen Unfall oder wird Opfer eines Überfalles. Wer kann wissen, was die Zukunft bringt?”

 
* * *
 

Der Keller war fensterlos und wurde nur durch das trübe Licht einer nackten Glühbirne erhellt, die an einem brüchigen Kabel von der unverputzten Decke herabhing. An den Wänden befanden sich dunkle Flecke, dort wo die Feuchtigkeit durch die schlecht isolierten Mauern eingedrungen war. Es roch muffig, und in einer Ecke stand eine morsche, halb verschimmelte Holzkiste, in der sich eine Rattenfamilie eingenistet hatte. Die ungewohnte Anwesenheit von Menschen machte die Mutter und die Jungen gleichermaßen nervös, was sich in einem schrillen, angstvollen Fiepen äußerte, mit dem jedes Geräusch in dem niedrigen Raum quittiert wurde.
„Himmel!” Thomas O'Mally versetzte der Kiste einen Tritt. „Das hält ja keiner aus!”
„Was hast du vor?” fragte Anne Rice, als er anfing, lose Bretter aus der Kiste zu reißen.
„Wonach sieht es denn aus? Ich sorge dafür, daß hier endlich Ruhe einkehrt. Und wenn ich jedem einzelnen der elenden kleinen Biester den Hals umdrehen muß.”
„Laß das!” Anne fiel ihm in dem Arm.
„Erzähl mir nicht, daß du Skrupel hast, ein paar Ratten zu töten.”
„Sie haben mir nichts getan, und ich werde nicht zulassen, daß du sie umbringst.”
„Welch barmherzige Worte aus dem Mund einer Frau, die sich am liebsten ausschließlich von Roastbeef ernähren würde.”
„Hört auf!” James Lynley fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. „Gott, ich kann es einfach nicht fassen, daß wir hier in diesem Keller hocken und uns wegen einiger Ratten streiten.”
„Dafür solltest du Gott danken”, bemerkte Anne. „Und den Bauarbeitern, die er zur richtigen Zeit am richtigen Platz versammelt hat. Ohne sie würden wir jetzt nicht hier sitzen und über Ratten streiten, sondern eine höchst unerfreuliche und ziemlich einseitige Unterhaltung mit Beckett und Sandoval führen.”
„Ich hätte mich niemals von euch in diese Sache verwickeln lassen dürfen”, sagte Lynley. „Ich muß völlig den Verstand verloren haben. Ich meine, ich bin Professor für Archäologie, kein Guerilla-Kämpfer.”
„Das bin ich auch nicht”, meinte Anne. „Aber deshalb dürfen wir unsere Augen nicht vor dem verschließen, was um uns herum geschieht. Die Taelons haben uns belogen. Sie sind schon früher auf der Erde gewesen. Wenn sie uns in diesem Punkt belogen haben, in wievielen Punkten noch? Keiner von uns weiß, was sie wirklich hier wollen.”
„Und das erfahren wir, indem wir Taelon-Einrichtungen sabotieren?”
„Du meinst wohl, indem Anne und ich Taelon-Einrichtungen sabotieren”, sagte O'Mally. „Du öffnest doch nur deine Brieftasche.”
„Das reicht!” Lynley stand auf. „Das muß ich mir nicht anhören. Ich bin schon sehr gespannt, wie ihr beide eure Aktionen ohne meine Brieftasche finanzieren wollt.”
„Ihr benehmt euch wie kleine Kinder”, erklärte Anne. „Wir stehen alle unter Streß, aber wenn wir jetzt anfangen, uns zu streiten, haben die Taelons gewonnen. Wir müssen zusammenhalten, wie bisher, nur dann haben wir eine Chance, zu überleben.”
„Überleben ist mir nicht genug”, widersprach O'Mally. „Ich habe nicht vor, mich für den Rest meines Lebens in dunklen Kellern zu verstecken. Wie”, sein Blick streifte die Kiste, „eine Ratte. Wir müssen weitermachen, nein, wir müssen mehr als das tun.”
„Was meinst du mit mehr?” fragte Lynley.
„Die Sabotageakte bedeuten für die Taelons lediglich ein Ärgernis. Wir müssen sie empfindlicher treffen, wenn wir ihnen begreiflich machen wollen, daß die Menschheit keine Herde willenloser Schafe ist, mit der sie nach Belieben verfahren können. Wir müssen ein Zeichen setzen.”
„Was genau schwebt dir vor?” erkundigte Anne sich.
„Die Synode hat La'el und nun auch noch Zo'or in unser Land geschickt. Ich finde, daß beide sich lang genug hier aufgehalten haben. Daher werden wir sie zurück zu all ihren Taelon-Freunden schicken. In einem Feuerball, so gleißend, daß er den Himmel entflammt und ein Zeichen ins All malt, das jeder an Bord des verfluchten Mutterschiffs sehen kann.”

 

 

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