Startseite Aktuelles Update Geschichten Kategorien Bilder Forum - Der Baum Links Hilfe Kontakt
  „Jenseits der Nacht” von Sujen   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen gehören den Eigentümern von Mission Erde/Earth: Final Conflict. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Beckett und Sandoval arbeiten in London zusammen, um Sabotageakte einer britischen Widerstandszelle aufzuklären
Zeitpunkt:  Die Story spielt in der Mitte der ersten Staffel, nach der Episode „Das keltische Grabmal”
Charaktere:  Siobhan Becket, Ronald Sandoval, DeeDee Sandoval, [La'el, Zo'or, James Lynley, Tom O'Mally, Anne Rice, Da'an]
 

 

JENSEITS DER NACHT

 

„Ich weiß, Sie verstehen das nicht. Für Sie ist er einfach nur der
Feind. Aber er hat mich gebraucht. Und ich habe ihn geliebt.”

(DeeDee Sandoval zu Lili Marquette in „Amoklauf”)

 

Prolog
 

Die Strahlen der Nachmittagssonne verwandelten die Themse in einen Strom flüssigen Silbers, der sich einem glitzernden Band gleich seinen Weg durch die Londoner Innenstadt bahnte. Die alte, ehrwürdige Londonbridge überspannte den funkelnden Fluß mit ihren mächtigen Bögen. So war es stets gewesen, und so würde es immer sein, wie die Londoner voll Stolz zu sagen pflegten, wenn ihr Blick auf das berühmteste Wahrzeichen ihrer Stadt fiel.
Die Frau stand allein am Brückengeländer. Wer vermochte zu sagen, wieviele Stunden sie schon dort gelehnt und hinab in die Fluten gestarrt hatte. Es war, als würde ihr Blick mit dem Fluß dahintreiben, der Strömung folgen, in unendliche Fernen. Ein trauriger Ausdruck lag auf ihren hellen, zarten Zügen, von Augen beherrscht, in deren Tiefen unstillbare Sehnsucht nach dem lag, was sich jenseits der Fluten befand.
Der Fluß war frei, ins Meer zu fließen und von dort an die Küste jenes Landes, das sie einst ihre Heimat genannt hatte, und sie beneidete jeden einzelnen Tropfen darum.
Die Glocken von Westminster läuteten.
Du hast es so gewollt, rief ihr Klang, und sie wußte, daß die Glocken recht hatten.
Es gab immer eine Wahl.
Immer.

 

Teil 1
 

Von der Taelon-Botschaft, die sich wie eine schillernde Brosche an das Hauses aus hellem Sandstein schmiegte, konnte man den Buckingham Palace sehen, Relikt einer vergangenen Zeit, der Lieutenant Siobhan Beckett keine Träne nachweinte.
Die Monarchie war das verstaubte Aushängeschild eines längst überholten Systems gewesen, das seine Verantwortung für den Tod unzähliger unschuldiger Menschen nicht hatte leugnen können.
Vor der Vereinigung von England und Irland hatte Beckett viele Jahre in einer Anti-Terror-Einheit gegen die IRA gekämpft. Doch sie hatte das nicht für England getan, und noch weniger für die britische Krone. Sie war Irin, und sie hatte dazu beitragen wollen, Irland und dem irischen Volk den verdienten Frieden zu bringen.
Jenen Frieden, den sie der politischen Einflußnahme der Taelons auf die britische Regierung und die irischen Separatisten verdankten.
Ein Frieden, der einmal mehr von Terroristen bedroht wurde, die nicht begreifen wollten, daß die Anwesenheit der Taelons auf der Erde ein Segen für die Menschheit war.
Britische Anhänger von Jonathan Doors hatten in den letzten Wochen mehrere Sabotageakte gegen Einrichtungen der Taelons in London verübt. Im Auftrag des britischen Companions La'el war Beckett unermüdlich in der Hauptstadt und ihrer Umgebung unterwegs, um die Täter ausfindig und dingfest zu machen, bisher jedoch vergeblich.
Die ständigen Mißerfolge und die wachsende Unzufriedenheit des britischen Companions mit ihren Leistungen, belasteten Beckett und machten sie reizbar. Sie wußte, daß es nicht ihre Schuld war, aber ihr Stolz litt bitter unter den ungerechten Vorwürfen, denen La'el sie zunehmend aussetzte. Sie brauchte einen Erfolg, und sie brauchte ihn jetzt!
„Zo'or wird London in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten”, drang La'els Stimme in Becketts Gedanken. „Ich erwarte, daß Sie dafür sorgen, daß sein Aufenthalt hier ohne Zwischenfälle verläuft, Lieutenant.”
„Natürlich, La'el”, erwiderte sie automatisch.
Als Implantantin war Beckett sensibilisiert für alles, was die Taelons betraf. Daher spürte sie, was einem nicht implantierten Menschen entgangen wäre: der britische Companion war nervös, mehr noch, er schien zutiefst beunruhigt zu sein. La'els Besorgnis basierte zweifellos auf der Tatsache, daß Zo'or keine Nachsicht gegenüber denjenigen zu üben pflegte, die er für unfähig hielt, ob es sich nun um Menschen oder Taelons handelte, in diesem Punkt machte Zo'or keinen Unterschied.
Die Loyalität für ihren Companion verlangte, daß Beckett seine Besorgnis teilte.
Doch wie hätte sie besorgt sein können, wo ihr Herz jubilierte?
Zo'or kam nach London, und er würde in Begleitung seines Beschützers sein.
Für La'el mochte Zo'ors Besuch eine bedrohliche Gefährdung seiner Position als britischer Companion bedeuten.
Für Siobhan Beckett jedoch bedeutete er ein Wiedersehen mit Agent Sandoval.

 
* * *
 

Hohe Regale aus dunklem, schwerem Holz, bis an die Decke gefüllt mit alten, zum Teil bereits stark vergilbten Büchern. Um an die oberen Reihen zu gelangen, mußte man auf schmale, steile Leitern klettern, die sich über ein System aus Schienen von einem Regal zum nächsten ziehen ließen, wobei es meistens ein scharrendes Geräusch gab. Dieses Scharren gehörte zu dem gewölbeartigen Raum. So wie das Rascheln der Seiten, wenn sie umgeblättert wurden. So wie der Geruch nach Staub und der Essenz, mit der das Papier der Bücher bestrichen worden war, um es vor dem Zerfall zu bewahren.
Sie liebte diesen Geruch und all die leisen Geräusche, die sie hier in der Bibliothek umgaben.
Das Scharren der Leitern, das Rascheln der Bücher und die geflüsterten Gespräche zwischen den Studenten, das unterdrückte Lachen, das gelegentlich an einem der langen Tische erklang und dem Betreffenden einen tadelnden Blick der Aufsicht eintrug.
In der Bibliothek schien es, als wäre die Zeit vor Jahrhunderten stehen geblieben. Das war der Grund, weshalb sie sofort zugegriffen hatte, als sich ihr die Möglichkeit geboten hatte, für Professor James Lynley zu arbeiten. Professor Lynley galt als Koryphäe auf dem Gebiet der Archäologie, und wenn er sich nicht auf einer Reise zu einer interessanten Ausgrabungsstätte befand, nutzte er die Zeit, um Artikel für Fachzeitschriften zu schreiben und im übrigen an seinem Lebenswerk, der Abhandlung über sämtliche archäologischen Funde der Vergangenheit und Neuzeit, zu arbeiten. Ihre Aufgabe war es, die Aufzeichnungen des Professors in eine gefällige stilistische Form zu bringen, denn sein eigener Stil war trocken und spröde, und im Gegensatz zur Mehrzahl der Gelehrten hatte er keine Probleme damit, seine Grenzen als solche zu erkennen und zu respektieren. Überhaupt war er nicht nur ein sehr interessanter, sondern auch ein äußerst netter Mann. Seine Schläfen waren zwar schon ergraut, aber er gehörte zu denjenigen, die mit zunehmendem Alter immer attraktiver wurden.
Sie wußte, daß er sie mochte. Er pflegte es ihr in seiner zurückhaltenden Art zu zeigen. Wäre ihr Herz frei gewesen, hätte sie ernsthaft in Betracht gezogen, auf seine zarten Annäherungsversuche zu reagieren. Doch ihre Liebe galt einem anderen Mann. Es spielte keine Rolle, daß er ihre Gefühle nicht erwiderte, jedenfalls nicht mehr. Einmal hatten sie sich geliebt, und die Erinnerung daran würde für den Rest ihres Lebens zwischen ihr und einer neuen Beziehung stehen.
„Miss Sullivan?”
Sie sah auf. Die ältere Dame von der Aufsicht hatte sich ihr so lautlos genähert, als würde sie befürchten, die heilige Ruhe der Bibliothek mit dem Geräusch ihrer Schritte zu entweihen.
„Ja, bitte?” flüsterte sie ebenso leise wie die Bibliotheksangestellte.
„Professor Lynley hat gerade angerufen. Er läßt Ihnen ausrichten, daß er Sie heute nicht mehr benötigt. Er ist nach Hause gegangen, und er stellt es Ihnen frei, dasselbe zu tun.”
Sie dankte der Angestellten, die nach einem freundlichen Nicken zurück an ihren Platz ging.
Was konnte den Professor veranlaßt haben, so früh nach Hause zu gehen?
In all den Monaten, in denen sie schon für ihn arbeitete, hatte er sein Büro auf dem Campus kein einziges Mal am hellichten Nachmittag verlassen. Er hatte keine Familie, niemand, der ihn in der kleinen Junggesellenwohnung am Mayflower Square erwartete, wenn er heimkam. Seine Arbeit war sein Lebensinhalt, um den sich alles drehte; und seine Beziehung zu ihr, die keine war.
Sie hatte ihm versprochen, die Überarbeitung des fünfzehnten Kapitels heute abzuschließen, und tatsächlich war sie gerade damit fertig geworden. Er hatte sich darauf gefreut, das Manuskript in den Händen zu halten.
Kurz entschlossen packte sie ihre Sachen zusammen. Der Mayflower Square lag praktisch auf dem Weg zu ihrem eigenen Apartment. Sie würde einfach zwei Subway-Stationen eher aussteigen und den Rest zu Fuß gehen. Das Wetter war herrlich, und ein längerer Spaziergang würde ihr zur Abwechslung einmal ganz gut tun. Genau wie der Professor vergrub sie sich viel zu sehr in ihre Arbeit und in die stille Abgeschiedenheit der Bibliothek. Dort im Halbdunkel der hohen Regale fühlte sie sich geborgen. Sie mied hell erleuchtete Räume, besonders dann, wenn sie modern und funktional eingerichtet waren. Sobald sie gezwungen war, sich in einem solchen Raum aufzuhalten, bekam sie Beklemmungen. Am schlimmsten waren Arztpraxen mit ihrem typisch klinisch-weißen Mobiliar. Seit ihrer Ankunft in London hatte sie nur ein einziges Mal einen Arzt aufgesucht, weil sie unter starken Zahnschmerzen gelitten hatte, und noch Tage danach hatte die Erinnerung daran Schweißausbrüche ausgelöst. Sie hoffte, daß diese Angst irgendwann vergehen würde. Bis dahin würde sie weiterhin um Arztpraxen und ganz besonders um Krankenhäuser einen weiten Bogen machen.
Ihr Blick glitt ein letztes Mal über den Tisch, prüfte, ob sie auch nichts vergessen hatte. Dann verließ sie die Bibliothek.

 
* * *
 

Das Shuttle mit Zo'or und Sandoval an Bord beschrieb einen eleganten Bogen, bevor es auf dem dafür vorgesehenen Platz auf dem Dach des Hauses landete.
Beckett hatte La'el geraten, Zo'or in seinem Büro zu empfangen. Ihrer Meinung nach würde Zo'or es als ein Zeichen von Schwäche empfinden, wenn La'el ihn auf dem Dach erwartete. La'el indessen hatte einmal mehr bewiesen, daß er kein Gefühl für Taktik besaß, und sich darüber hinaus den Menschen gegenüber viel zu überlegen fühlte, um den Rat seiner Beschützerin zu folgen, mochte er auch noch so weise sein.
Beckett gestattete sich ein leichtes Stirnrunzeln, als sie bemerkte, daß das Shuttle anstatt wie üblich von einem Piloten von Sandoval gesteuert wurde. Ihr war natürlich zu Ohren gekommen, daß Zo'or Vergnügen darin fand, seinen Beschützer mit einem Maß an Verachtung zu behandeln, wie es kein Companion außer ihm mit seinen Implantanten tat. Es war Zo'ors Recht, Sandoval herumzukommandieren. Trotzdem fühlte Beckett heißen Zorn in sich aufsteigen, den sie hinter einem freundlichen Lächeln verbarg, als Zo'or und Sandoval ausstiegen.
Wie erwartet ignorierte Zo'or sie völlig und wandte sich sofort La'el zu.
„Ich grüße dich, La'el”, sagte er. „Es erstaunt mich, daß deine Pflichten es dir erlauben, mich persönlich zu empfangen.”
Zo'ors Worte und der selbstzufriedene Ausdruck seiner Miene gaben Beckett recht. Es wäre klüger gewesen, Stärke zu zeigen, anstatt sich freiwillig von Anfang an in die Defensive zu begeben.
Sandoval, der schräg hinter seinem Companion stand, erwiderte Becketts Lächeln flüchtig. Doch in seinen Augen blitzte eine Regung auf, die Beckett verriet, daß er sich ebenfalls über ihr Wiedersehen freute.
Während sie den beiden Taelons ins Innere des Gebäudes folgten, unterdrückte Beckett das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und Sandoval, der neben ihr ging, zu berühren. Bisher hatte er auf ihre Annäherungsversuche abweisend reagiert, und sie wollte nichts überstürzen. Zo'or und Sandoval würden noch einige Tage in London bleiben. Genug Zeit, um Sandovals Widerstand zum Bröckeln zu bringen, wenn sie es geschickt anstellte.

 
* * *
 

Professor Lynleys Wohnung war klein und von oben bis unten vollgestopft mit antiken Möbeln und Kunstgegenständen. An den Wänden standen deckenhohe Regale, die sich unter dem Gewicht der Bücher bogen. Längst reichte ihr Platz nicht mehr aus, so daß sich überall auf dem Boden Türme aus Büchern stapelten.
Inmitten all dem nahm das moderne Terminal auf dem Schreibtisch sich wie ein Fremdkörper aus. Auf dem Schirm lief eine Sonderberichterstattung, die sich mit dem Besuch von Zo'or befaßte. Die Moderatorin, eine junge Blondine, die ein schickes, dunkelblaues Kostüm trug, kündigte gerade für einen späteren Zeitpunkt der Sendung ein Interview mit Zo'or und dem britischen Companion an, als die Türglocke läutete.
„Erwartest du jemanden, James?” fragte der Mann, der zwischen aufgeschlagenen Büchern auf der bequemen Couch aus rotem Leder saß.
„Nein”, erwiderte Lynley.
Der Mann auf der Couch tauschte einen Blick mit einer brünetten Frau, die mit angezogenen Beinen auf dem Teppich hockte.
Es klingelte erneut.
Lynley ging zur Tür und blickte durch den Spion.
„Wer ist es?” erkundigte sich die Frau.
„Mary Sullivan. Sie arbeitet für mich.” Lynley entriegelte die Tür und öffnete sie ein Stück.
„Bitte entschuldigen Sie die Störung, Professor.” Die junge Frau auf dem Flur zog ein dickes Manuskript aus ihrer ledernen Umhängetasche. „Ich dachte, ich bringe Ihnen das hier rasch vorbei. Das fünfzehnte Kapitel”, ergänzte sie, als Lynley nicht reagierte.
„Natürlich. Danke.” Er nahm das Manuskript. „Das war sehr aufmerksam von Ihnen, Mary.”
Die Verwirrung in ihren Zügen bestätigte ihm, wie eigenartig, ja, befremdlich sein Verhalten auf sie wirken mußte.
Der Mann auf der Couch schien seine Sorge zu teilen. Er erhob sich und trat neben Lynley.
„Warum bittest du die junge Dame nicht herein?”
Zögernd stieß Lynley die Tür weiter auf.
„Mary.”
„Es tut mir leid.” Ihre Verwirrung wuchs. „Ich wußte nicht, daß Sie Besuch haben.”
„Thomas O'Mally”, stellte der Mann neben Lynley sich vor. „Meine Freunde nennen mich Tom. Und das”, er nickte in Richtung der Frau, die ebenfalls aufgestanden war, „ist Anne Rice. Wir sind alte Freunde von James.”
„Und sehr erfreut, die begabte Literatin kennenzulernen, die James' langweilige Berichte in spannende, lebendige Worte faßt”, ergänzte Rice.
„Ich finde Professor Lynleys Berichte alles andere als langweilig”, erklärte Mary.
„Das würde ich auch nicht, wenn er mein Arbeitgeber wäre”, bemerkte O'Mally lächelnd.
„Wir wollten uns gerade einen Tee bereiten.” Lynley trat beiseite und machte eine einladende Geste. „Warum leisten Sie uns nicht Gesellschaft?”
„Sehr gerne.” Marys Lächeln erlosch, als ihr Blick an Lynley vorbei auf den Bildschirm des Terminals fiel, auf dem jetzt ein Bildbericht über Zo'ors Tätigkeiten bei den vereinten Nationen lief, der von Kommentaren begleitet wurde, die sich auf den Besuch des Taelons in London bezogen.
„Was haben Sie?” erkundigte O'Mally sich.
„Fühlen Sie sich nicht wohl?” fragte Lynley besorgt. „Sie sind ganz blaß geworden.”
„Es ist nichts. Mir ist nur ein wenig schwindelig. Bitte entschuldigen Sie, aber es wird besser sein, wenn ich nach Hause gehe.”
„Natürlich, und legen Sie sich gleich hin”, sagte Lynley.
„Das werde ich, versprochen.”
„Was weißt du über sie, James?” fragte O'Mally, nachdem Lynley die Tür wieder geschlossen hatte. „Hatte Sie schon einmal Ärger mit den Taelons? Ihre Reaktion auf Zo'or erschien mir extrem.”
„Das war sie in der Tat”, bestätigte Lynley. „Doch soweit ich informiert bin, hatte Mary noch nie persönlichen Kontakt mit den Taelons.”
„Wir sollten das überprüfen”, meinte O'Mally. „Möglicherweise denkt sie ähnlich wie wir.”
„Ihre Reaktion hatte nichts mit Zo'or zu tun”, ließ Anne Rice sich unerwartet vernehmen.
„Erzähl uns nicht, daß du ihr die Geschichte mit dem plötzlichen Schwächeanfall abkaufst”, meinte O'Mally ironisch.
„Das tue ich ganz gewiß nicht. Aber im Gegensatz zu euch beiden habe ich nicht besorgt auf Miss Sullivan gestarrt, sondern auf den Schirm, und ihr dürft mir glauben, es war nicht Zo'or, dem ihre Aufmerksamkeit galt, sondern diesem Agent vom FBI.”
„Sandoval?” Lynley klang zweifelnd.
„Bist du dir da ganz sicher?” wollte O'Mally wissen.
Rice nickte. „So sicher, wie man sich nur sein kann.”

 
* * *
 

Das Gespräch zwischen Zo'or und La'el verlief so wie Beckett es erwartet hatte. Zo'or warf dem anderen Taelon vor, mit dem Widerstand nicht fertig zu werden. La'el wiederum schob ihr die Schuld zu.
„Lieutenant Beckett hat von mir die Anweisung erhalten, die Verantwortlichen der Sabotageakte ausfindig zu machen. Bedauerlicherweise kann sie bisher keine Erfolge vorweisen. Daher werde ich diese Aufgabe jemandem übertragen, der dafür besser geeignet ist.”
Zo'ors Blick richtete sich auf Beckett.
„Sie haben Ihren Companion gehört. Möchten Sie sich zu seiner Anschuldigung äußern?”
Was sollte sie darauf erwidern? La'el war ihr Companion, und der Motivations-Imperativ des Implantats in ihrem Gehirn verlangte, daß sie sich ihm gegenüber loyal verhielt. Zumindest hatte sie das bisher stets geglaubt. Zu ihrem Erstaunen stellte Beckett erstmals fest, daß sie diesen Imperativ hinterfragte. War es wirklich ihre Pflicht, La'el den Rücken zu stärken, obwohl er keine Hemmungen hatte, ihr die Schuld an seiner eigenen Unfähigkeit zu geben?
Ja, flüsterte es hinter ihrer Stirn. Er ist dein Companion. Es ist deine Pflicht, loyal zu sein.
„Nein”, sagte sie.
„Dann akzeptieren Sie die Vorwürfe Ihres Companions als berechtigt?”
Beckett schaffte es nicht, sich ein ja abzuringen, dem Drängen hinter ihrer Stirn zum Trotz. Daher beschränkte sie sich darauf, stumm zu nicken.
„Wie du selbst siehst ...”, begann La'el.
Zo'or brachte den anderen Taelon durch das Heben seiner Hand zum Schweigen. Sein Blick glitt von Beckett zu Sandoval.
„Halten Sie die Vorwürfe gegen Lieutenant Beckett für berechtigt, Agent Sandoval?”
„Ich halte Lieutenant Beckett für überaus qualifiziert und fähig, mit diesen Terroristen fertig zu werden.”
Beckett war sicher, daß Sandoval ihr niemals offen beigestanden hätte, wenn Zo'or ihn nicht mehr oder weniger dazu aufgefordert hätte. Doch wen kümmerte das? Sandovals Blick und Stimme ließen keinen Zweifel daran, daß seine Antwort über das bloße Befolgen eines verschleierten Befehls hinausging. Er meinte, was er gesagt hatte, und er hatte ihr gern geholfen. Das allein zählte.
„Bedauerlicherweise scheint Lieutenant Beckett Ihre Fähigkeiten nicht zu nutzen”, bemerkte La'el. „Wie sonst ließe sich erklären, daß sie die Saboteure bisher nicht gefaßt hat?”
„Sie werden mit Lieutenant Beckett zusammenarbeiten, Agent Sandoval”, befahl Zo'or, ohne den Einwand des anderen Taelons zu beachten. „Bringen Sie mir die Verantwortlichen.”
„Lebend?”
„Das überlasse ich Ihnen”, erwiderte Zo'or.

 
* * *
 

Ihr Herz schlug so heftig, daß sie befürchtete, es könnte jeden Moment ihren Brustkorb sprengen. Sie war den ganzen Weg vom Mayflower Square bis zur Upper Town Street gerannt und hatte erst angehalten, nachdem sie die Tür ihres Apartments hinter sich zugeworfen hatte.
Im Schrank bewahrte sie eine Flasche Scotch auf. Für gewöhnlich trank sie keinen Alkohol, und schon gar keine härteren Sachen. Den Scotch hatte sie gekauft, um ihn Gästen anzubieten.
Sie öffnete den Schrank und nahm die Flasche und ein Glas heraus. Ihre Hände zitterten dabei so stark, daß sie fast das Glas fallen ließ.
Warum regte sie sich derart auf?
Ob New York, Washington, Paris, Madrid, London oder anderswo, welchen Unterschied machte das schon?
Sie benötigte mehrere Anläufe, um den Verschluß zu entfernen und die Flasche zu öffnen. Sie schenkte sich zwei Fingerbreit ein. Das entsprach der Menge, die sich die Leute in der Werbung mit einem genießerischen Lächeln zu genehmigen pflegten, und auch Lynley trank stets zwei Fingerbreit. Indessen, es sah nach zu wenig aus, um ihre Nerven zu beruhigen, nach viel zu wenig. Sie füllte noch einmal die gleiche Menge in das Glas, bevor sie es an die Lippen setzte und den Inhalt in einem Zug hinunterkippte. Der Alkohol breitete sich wie Feuer in ihrer Kehle und in ihrem Magen aus, bevor sie alles, was sie zum Frühstück und zum Mittagessen zu sich genommen hatte, wieder von sich gab.
Hustend sank sie zu Boden, während Tränen über ihre Wangen liefen.
Ganz gleich, was sie sich auch einzureden versuchte.
Es machte einen Unterschied ...

 

 

Zurück / Back

 

Zum Seitenanfang