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  „Jenseits der Nacht” von Sujen   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen gehören den Eigentümern von Mission Erde/Earth: Final Conflict. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Beckett und Sandoval arbeiten in London zusammen, um Sabotageakte einer britischen Widerstandszelle aufzuklären
Zeitpunkt:  Die Story spielt in der Mitte der ersten Staffel, nach der Episode „Das keltische Grabmal”
Charaktere:  Siobhan Becket, Ronald Sandoval, DeeDee Sandoval, [La'el, Zo'or, James Lynley, Tom O'Mally, Anne Rice, Da'an]
 

 

JENSEITS DER NACHT

 

Teil 3
 

Becketts rotes Haar leuchtete im Schein der Kerzen wie Kupfer. Sie hatte es locker hochgesteckt. Zu beiden Seiten ihres Kopfes fielen einzelne Strähnen herab, zwischen denen lange, silberne Ohrringe schimmerten, die bei jeder ihrer Bewegungen leise klirrten. Sie trug ein Kleid aus grünem Samt, von dem die Haut ihrer nackten Schultern sich wie matt glänzendes Perlmutt abhob. Alles an ihr sah an diesem Abend elegant, ja beinahe mondän aus, doch ihr Haar, das ihn fast berührte, als er ihr aus dem Mantel half, duftete nach frisch geschnittenem Gras und wilden Blumen, und ihr Parfüm erinnerte ihn an die grünen Hügel Irlands.
„Sie stecken voller Überraschungen.” Beckett setzte sich auf den Stuhl mit der hohen Lehne, den ein Kellner für sie zurechtrückte. „Sie sind der letzte, von dem ich erwartet hätte, sich Zeit für ein Candellight-Dinner zu nehmen. Ich dachte, Sie hätten kein Privatleben.”
„Für gewöhnlich habe ich das auch nicht”, bestätigte Sandoval. „Aber ich habe das Gefühl, Ihnen etwas schuldig zu sein. Immerhin habe ich Sie um einen sicheren Erfolg gebracht.”
„Wenn ich eins gelernt habe, dann, daß nichts in diesem Leben wirklich sicher ist. Trotzdem freue ich mich über Ihre Einladung. Es sei denn, Sie beabsichtigen, über Dienstliches zu sprechen.”
„Das liegt bei Ihnen. Sie wählen das Thema, über das wir reden. Der heutige Abend gehört allein Ihnen.”
„Nur der Abend?”
Die Ankunft des Kellners, der die Karte brachte, enthob ihn einer Antwort.
Becketts Blick glitt über die verschnörkelte Schrift.
„Ich nehme einen roten Chardonnay und Fasan in Weinsoße”, bestellte sie.
Sandoval hatte die Karte nicht geöffnet. „Für mich dasselbe”, wies er den Kellner an. „Wie ich schon sagte”, quittierte er Becketts Blick. „Dieser Abend gehört allein Ihnen.”

 
* * *
 

Im Verlauf des Tages hatte die Rattenfamilie sich an die Anwesenheit der Menschen in ihrem Keller gewöhnt. Inzwischen wagte die Mutter es sogar, ihre Jungen allein zu lassen, während sie überall auf der Suche nach Nahrung umherhuschte.
Anne Rice versuchte, das kratzende Geräusch der winzigen Krallen auf den Fliesen und das Rascheln der alten Zeitungen zu ignorieren. Sie hatte den Ratten das Leben gerettet, doch das hieß nicht, daß sie sich in ihrer Gesellschaft wohlfühlte. Außerdem hatte sie Hunger, war müde, und ihr Kopf schmerzte von all den Argumenten für und wider das, was Tom vorhatte. Lynley war entsetzt gewesen und hatte erklärt, sich niemals an der Ermordung fremden Lebens beteiligen zu wollen, auch dann nicht, wenn es sich dabei um Taelons handelte. Sie selbst war unentschlossen. Auf der einen Seite mißbilligte sie Toms Vorhaben, insbesondere weil es nicht nur La'el und Zo'or, sondern auch Menschen das Leben kosten würde. Auf der anderen Seite hatte er durchaus recht, es war an der Zeit, ein deutliches Zeichen zu setzen. Indessen klang Toms Plan in der Theorie bereits kaum durchführbar. Eine Sprengladung in La'els Shuttle. Bei ihm hörte sich das so leicht an, als würde man mal eben beim Bäcker ein Brot kaufen.
„Du bist verrückt!” faßte Lynley ihre Gedanken in Worte. „Einmal abgesehen davon, daß wir in diesem Keller sitzen und überall nach uns gefahndet wird, kämen wir auch dann, wenn es anders wäre, nicht einmal in die Nähe des Shuttles. Es befindet sich auf einer Plattform in der Botschaft, und die wird besser bewacht als die Bank von England.”
„So gut nun auch wieder nicht”, winkte O'Mally ab. „Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.”
„Ach tatsächlich? Und woher?”
„Ganz einfach.” O'Mally grinste. „Weil ich den Sprengsatz schon plaziert habe.”
„Du hast was?” fragte Lynley und Rice wie aus einem Mund.
„Schon vor über einer Woche. Eigentlich ging es mir um La'el und seine Beschützerin, diese Beckett. Doch dann ist Zo'or aufgetaucht und ich dachte mir, warum nicht mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Leider macht keiner von ihnen seitdem Anstalten, das Shuttle zu benutzen.”
„Du hast das alles schon geplant und durchgeführt, ohne vorher mit uns zu sprechen?” Anne starrte ihn an. „Ich dachte, wir wären ein Team.”
„Das sind wir. Deshalb werden wir diese Sache auch gemeinsam durchziehen. Den Zünder habe ich hier.” O'Mally klopfte auf seine Hosentasche. „Alles, was ich brauche, ist die Information, daß La'el und Zo'or gemeinsam im Shuttle sitzen, und es macht bumm, und die Erde wird von zwei Taelons und einigen Kollaborateuren befreit.”
„Und wie willst du diese Information erhalten, vorausgesetzt La'el und Zo'or entschließen sich in naher Zukunft überhaupt zu einem gemeinsamen Flug?” hakte Anne nach.
„Ich habe einen freien Mitarbeiter in der Botschaft, der mich kontaktieren wird, sobald dieser Fall eintritt”, erwiderte O'Mally. „Alles, was wir tun müssen, ist warten.”

 
* * *
 

Becketts Finger strichen über das Glas in ihrer Hand, in dem der Chardonnay rot wie Blut funkelte. Sie fühlte sich so frei und beschwingt wie nie zuvor in ihrem Leben. Das Hiding Place war eines der besten Restaurants der Stadt und, wie sein Name verriet, ein absoluter Geheimtipp unter den Londoner Feinschmeckern. Sandoval mußte eine ausgezeichnet informierte Quelle angezapft haben, um an die Adresse zu kommen. Das Restaurant war in einem alten Gewölbe untergebracht. Früher war dieser Bezirk einer der vornehmsten von London gewesen, aber die Zeiten hatten sich geändert. Die wohlhabenden Einwohner zogen die ruhigen Vororte der hektischen Stadt vor. Heute wagte sich nach Sonnenuntergang niemand von außerhalb mehr zu Fuß in dieses Viertel. Das Restaurant jedoch war geblieben. Der Inhaber war in diesem Bezirk geboren worden, und er hatte vor, hier zu sterben. Außerdem gehörte er zu denjenigen, die sich zu wehren verstanden. Es wurde gemunkelt, er würde einem mächtigen Paten einen festen Prozentsatz seiner Einnahmen dafür zahlen, daß sein Restaurant, seine Angestellten und natürlich er selbst und seine Familie geschützt wurden. Das galt ebenfalls für seine Gäste, und neben dem eleganten Ambiente, der ausgezeichneten Küche und den erlesenen Weinen, bescherte der zusätzliche Nervenkitzel, sich in einem derart verrufenen Viertel aufzuhalten, dem Restaurant so viele Gäste, daß es in der Regel auf Wochen im Voraus ausgebucht war.
Beim dem Gedanken, welche hochrangige Persönlichkeit auf Veranlassung von Sandoval wohl an diesem Abend von der Reservierungsliste gestrichen worden war, lächelte Beckett. Sandoval pflegte kein Nein zu akzeptieren. Genau wie sie.
„Warum lächeln Sie?”
„Ich dachte gerade daran, wie ähnlich wir einander sind.” Beckett zögerte. „Eigentlich wollte ich heute Abend über nichts Dienstliches sprechen, aber ich möchte, daß Sie wissen, daß ich unsere Zusammenarbeit als gleichberechtigt verstehe.”
„Falls Sie befürchten, ich könnte ein Problem damit haben, Ihrer Befehlsgewalt unterstellt zu sein, kann ich Sie beruhigen. Sie sind eine hervorragende Agentin, und ich habe keinen Grund, Ihre Kompetenz in Zweifel zu ziehen.”
„Ich bin froh, daß Sie es so sehen.” Beckett wandte sich wieder dem Fasan auf ihrem Teller zu. „Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?” wechselte sie das Thema.
„Solange Sie nicht erwarten, daß ich Sie beantworte.”
„Der Ring, den Sie da tragen, welche Bedeutung hat er für Sie? Es tut mir leid”, fuhr sie fort, als Sandoval schwieg. „Ich hätte das nicht fragen sollen. Wir haben alle unsere Geheimnisse, und es gibt Dinge, an denen besser nicht gerührt werden sollte. Vergessen Sie die Frage einfach.”
„Nein.” Sandoval rang mit sich. „Damals in Irland wollten Sie wissen, wer ich bin.”
„Ich erinnere mich, und auch daran, daß Sie mir die Antwort schuldig geblieben sind.”
„Dieser Ring ist Teil der Antwort. Er gehörte meiner Frau.”
„Sie ist tot, nicht wahr?”
Sandovals CVI ließ eine Flut von Bildern lebendig werden. Bilder, die er nicht sehen wollte.
Boone, der sich lächelnd über ihn beugte, den schmalen goldenen Ring in seinen Fingern.
„Ich habe dieses Problem für Sie gelöst, Sandoval. Sie haben mein Wort, daß sie keine Schmerzen gespürt hat.”
Die Erkenntnis, was Boone meinte.
Entsetzen!
Verzweiflung!
Haß!
„Ich verfluche Sie, Boone, ich verfluche Sie!”
Sandoval schloß unwillkürlich die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde spiegelte seine für gewöhnlich beherrschte Miene eine Flut von Empfindungen wider. Dann gewann er seine Kontrolle zurück. „Ja”, erwiderte er ruhig.
„Sie müssen Sie sehr geliebt haben.”
„Das habe ich”, bestätigte Sandoval. „Doch das war in einem anderen Leben. Bevor ich ein Diener der Companions wurde.”
„Ich verstehe.”
Es entstand eine Pause, in der beide eigenen Gedanken nachhingen.
Beckett schalt sich eine Närrin, das Thema ausgerechnet auf Sandovals verstorbene Frau gebracht zu haben. Entgegen dem, was er behauptete, empfand er immer noch Gefühle für sie. Das hatte sie in seiner Miene gesehen, und sie konnte es auch jetzt noch in seinen Augen lesen. Sie hatte gehofft, der Abend würde romantisch enden, statt dessen hatte sie ihn an seine frühere Liebe erinnert. Kein guter Ausgangspunkt. Aber ihr würde schon etwas einfallen, um ihn wieder zurück in das hier und jetzt zu bringen. Für den Anfang mußte sie ihm Zeit geben, sich zu sammeln, ohne daß das unangenehme Schweigen zwischen ihnen allzu deutlich auffiel. Entschlossen erhob sie sich.
„Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment.”
Sandovals Blick folgte Beckett, bis sie hinter der Tür mit der Aufschrift Ladies verschwunden war. Auf eine solche Gelegenheit hatte er gewartet, seit sie das Restaurant betreten hatten. Er zog ein schmales Röhrchen aus der Tasche und schüttete den Inhalt rasch und unauffällig in ihr Glas.

 
* * *
 

Das Hotelzimmer war einfach möbliert und so unpersönlich, wie alle Zimmer in allen Hotels, ganz gleich, ob es sich um eine Nobelherberge oder eine Absteige handelte.
Sie vermied es, in Richtung des winzigen Kühlschranks zu sehen. Es war keine Lösung, ihren Schmerz und ihre Angst mit Alkohol zu betäuben.
Es war ihr nicht gelungen, Professor Lynley abzufangen. Er mußte einen anderen Weg zurück in sein Büro genommen haben als denjenigen, den er sonst ging. Die Vorstellung, er könnte Beckett in die Arme gelaufen sein, hatte sie in Panik versetzt. Sie hatte es nicht gewagt, in ihre Wohnung zu gehen, aus Furcht, jemand vom Companion Sicherheitsdienst könnte sie dort erwarten, um sie direkt zu Beckett zu bringen. Sie war vom Campus zum nächsten Geldautomaten gerannt und hatte soviel Geld abgehoben, wie der Rahmen ihrer Geldkarte es erlaubt hatte. Dann war sie auf Umwegen kreuz und quer mit Subway und Bussen durch London in diesen Stadtteil gefahren und hatte sich in diesem billigen Hotel einquartiert, in dem der Portier zu der Sorte gehörte, die weder Fragen stellte noch sie beantworte. Vorsorglich hatte sie sich sein Schweigen zusätzlich durch einen Geldschein gesichert, bevor sie sich in dem engen Zimmer, das zum Hof hinausging, verkrochen hatte.
Sie schaltete den Fernseher ein und zappte sich durch sämtliche Kanäle, bis sie einen fand, der gerade einen Bericht über Zo'ors Besuch ausstrahlte. Sie kniete vor dem Gerät, und als das Gesicht erschien, auf das sie gewartet hatte, hob sie eine Hand und preßte sie voll Verzweiflung an den Bildschirm. Sie wußte, daß sie damit aufhören mußte, bevor der Schmerz ihre Seele zerstörte. Seit jener Nacht in Washington war sie Tag für Tag ein wenig mehr gestorben.
Das muß enden, schrie ihr Verstand.
Doch leider war die Stimme der Vernunft selten laut genug, um den Schlag eines Herzens zu übertönen, das in Flammen stand.

 
* * *
 

Die Rechnung wurde auf einem silbernen Tablett gebracht, diskret umgedreht und mit einer feinen Serviette aus weißem Damast bedeckt. Es verstand sich von selbst, daß das Tablett auf die Seite des Tisches gestellt wurde, an der Sandoval saß. In diesem Restaurant war bereits die Vorstellung, eine Lady, die sich in Begleitung eines Gentleman befand, könnte sich an der Rechnung beteiligen oder sie gar begleichen, undenkbar, geradezu unerhört.
Sandoval zog die Rechnung unter der Serviette hervor und steckte sie ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. Die Höhe des Betrages interessierte ihn nicht. Er verfügte über ein angemessenes Budget, und er war überzeugt, daß der Kellner keinen Penny mehr von seiner Geldkarte abbuchen würde, die er nun anstelle der Rechnung ebenso diskret unter die Serviette schob, als auf der Rechnung ausgewiesen war.
Er lächelte Beckett zu. „Möchten Sie noch einen Spaziergang an der Themse machen?”
„An der Themse?” Sie stützte ihr Kinn in eine Handfläche. „Was bezwecken Sie, Sandoval?”
Ihre Augen glänzten mutwillig. Obwohl sie nur zwei Gläser Wein getrunken hatte, bewegte der Alkoholspiegel ihres Blutes sich dank der Droge, die er ihr heimlich verabreicht hatte, im oberen Promillebereich.
„Was denken Sie, Siobhan?” Sanft legte Sandoval eine Fingerspitze an Becketts Wange und zeichnete die Linie ihres Wangenknochens nach. Er spürte, wie sie unter der Berührung erbebte.
Unvermittelt ergriff Beckett seine Hand und hielt sie fest. „Spielen Sie nicht mit dem Feuer”, flüsterte sie. „Das könnte gefährlich werden. Sie könnten darin verbrennen.”
Ihre Blicke versanken ineinander.
Einige Sekunden gab Sandoval sich dem Zauber dieses Moments hin. Dann schüttelte er den Bann ab und erhob sich. „Kommen Sie.” Er packte ihre Hand und zog sie mit sich. Auf dem Weg zur Tür nahm er ihre Mäntel aus der Garderobe, half Beckett in ihren und warf seinen eigenen über.
Becketts Gang war unsicher.
„Ich fürchte, ich habe einen Schwips”, murmelte sie. „Darf ich mich bei Ihnen einhängen?”
Wortlos reichte er ihr seinen Arm.
Sie schmiegte sich an ihn und legte den Kopf an seine Schulter, während sie sich von ihm aus dem Restaurant führen ließ.
Ihr vertrauensvolles Verhalten und ihre Nähe irritierten Sandoval mehr als er sich eingestehen wollte. Nachdem sie einige Schritte in Richtung Themse gegangen waren, blieb er stehen.
„Was haben Sie?
„Meine Geldkarte, ich habe sie im Restaurant vergessen. Bitte warten Sie, ich gehe nur rasch zurück und hole sie.”
„Sie wollen mich hier ganz allein im Dunkeln lassen?” hauchte sie.
Sandoval ergriff Becketts rechte Hand und zog sie an seine Lippen. „Keiner von uns beiden ist jemals ganz allein”, bemerkte er mit einem Blick auf den Skrill an ihrem Handgelenk.
Damit drehte er sich um und ging den Weg zurück. Aus den Augenwinkeln registrierte er die drei Schatten in den Büschen, und wenige Sekunden später drangen Kampfgeräusche an sein Ohr.
Die Droge, die er Beckett gegeben hatte, war eine erstaunliche Kreation. Sie verstärkte nicht nur die Wirkung von Alkohol und beeinträchtigte sämtliche motorische Funktionen des Körpers, sie blockierte auch jene Nervenbahnen, die es einem Implantanten ermöglichten, seinen Skrill durch sein CVI zu steuern. Drei Kriminelle zu finden, die für Geld bereit waren, ohne Skrupel, eine ihnen völlig unbekannte Frau zu töten, war leicht gewesen. Erheblich schwerer war es ihm gefallen, Beckett im Bewußtsein dessen, was geschehen würde, in diese Situation zu bringen.
„Sandoval!”
Ihr Schrei schien direkt hinter seiner Stirn zu gellen, förmlich in seinem Kopf zu explodieren.
Es war, als würde sie über ihr CVI telepathischen Kontakt zu seinem CVI aufnehmen.
„Sandoval!”
Er versuchte, die Schreie zu ignorieren, sich die Ohren zuzuhalten, um sie nicht zu hören.
„Sandoval!”
Er konnte es nicht. Weder für Zo'or, noch für die Synode. Für niemanden. Mit einem Ruck drehte er sich um und begann zu rennen.
Als er das Ufer der Themse erreichte, blieb er abrupt stehen und starrte auf das Bild, das sich seinen Augen bot. Beckett hatte sich auch ohne ihren Skrill und in ihren Reaktionen beeinträchtigt, nach besten Kräften gewehrt. Einer der Angreifer hing mit gebrochenem Genick halb auf einer Bank aus Eisen, wie sie überall entlang der Themse zu finden waren.
Beckett lag auf dem Rücken. Ein Mann hockte auf ihren Armen und hielt sie fest, während der Dritte zwischen ihren gespreizten Beinen kniete und im Begriff war, ihr das Kleid vom Leib zu reißen. Offenbar wollten sie sich neben dem Mordgeld einen nicht vereinbarten Sonderbonus gönnen, indem sie ihr Opfer vorher vergewaltigten.
Sandovals Blut jagte wie glühende Lava durch seine Adern, und in seinen Ohren rauschte es, wie Brandung, die gegen eine Klippe rollte. Ohne nachzudenken riß er seinen Arm hoch.
Der Energiestrahl seines Skrills traf den Mann zwischen Becketts Beinen in den Rücken. Die Kraft war so stark, daß er binnen Sekunden aufgelöst wurde. Sein Kamerad ließ Beckett los, sprang auf und versuchte zu fliehen. Doch er kam nicht weit, bevor ihn dasselbe Schicksal ereilte.
Sandoval lief zu Beckett, kniete neben ihr nieder und bettete ihren Kopf in seinem Schoß.
Ihr Gesicht zeigte deutliche Spuren von Schlägen. Ihre Lippe war aufgeplatzt. Blaue Flecke und tiefe, blutige Kratzer verunstalteten ihren Hals, ihre Schultern und ihre entblößten Beine unter dem zerrissenen Kleid. Behutsam schob Sandoval den Stoff über ihrer nackten Haut zusammen.
„Lieutenant!” Er klopfte leicht gegen ihre Wange. „Siobhan!”
„Sandoval ...”, wisperte Beckett. Einige Worte folgten, die er nicht verstand. Ihre Augenlider flatterten, dann verlor sie das Bewußtsein.
Sandoval zog sein Global hervor und stellte eine Verbindung mit der Notrufzentrale her.
„Schicken Sie einen Krankenwagen zu diesen Koordinaten”, verlangte er. „Sofort!”

 
* * *
 

Zo'or fixierte Sandoval, der mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor ihm stand. „Mir scheint, daß Lieutenant Beckett großes Glück gehabt hat, daß Sie rechtzeitig zur Stelle waren, um sie zu retten, Agent Sandoval.”
„Lieutenant Beckett ist eine überaus fähige und loyale Agentin. Sie dient den Taelons mit einer bemerkenswerten Hingabe, und ich bin sicher, daß sie sich in Zukunft als sehr nützlich erweisen wird. Sowohl für die Synode als auch für Sie, Zo'or.”
„Haben Sie sie deshalb verschont?”
„Lieutenant Beckett wurde bei dem Überfall nicht unerheblich verletzt”, erwiderte Sandoval, ohne eine Miene zu verziehen. „Laut dem behandelnden Arzt wird sie einige Tage im Krankenhaus verbringen müssen.”
Wieviele Tage?”
„Drei oder vielleicht vier. Das hängt davon ab, wie schnell ihre Wunden verheilen. Danach sollte Lieutenant Becketts CVI meines Erachtens noch einmal von einem Taelon-Wissenschaftler auf mögliche Fehlfunktionen hin gründlich überprüft werden, um herauszufinden, weshalb sie ihren Skrill nicht abfeuern konnte.”
„Was wiederum einige Zeit in Anspruch nehmen wird.”
„Darauf habe ich keinen Einfluß.”
„Nein. Im Gegensatz zu dem gestrigen Abend, auf dessen Verlauf Sie mehr als genug Einfluß hatten, Agent Sandoval.”
„Es war nicht erforderlich, Lieutenant Beckett zu töten. Ihre Verletzungen reichen aus, um sie für mindestens eine Woche aus dem Verkehr zu ziehen.”
„Eine Woche könnte möglicherweise nicht genügen, um die Terroristen zu fassen.”
„Sie wird genügen.”
„Das hoffe ich. Für Lieutenant Beckett.” Zo'ors Augen glitzerten. „Und für Sie.”

 
* * *
 

Die Taelon-Botschaft wirkte auf sie wie ein überdimensionales, blutsaugendes Insekt, das sich fest in die Kehle seines Wirtes verbissen hatte.
Was tat sie hier?
Es dämmerte bereits, und nach und nach flammten die alten, gasbetriebenen Straßenlaternen auf. Wäre die Taelon-Botschaft nicht gewesen, hätte man meinen können, sich in einem längst vergangenen Jahrhundert aufzuhalten
Die wenigen Menschen, die ihren Weg kreuzten, musterten sie gleichgültig. Gelegentlich war einer darunter, der die Stirn leicht runzelte, sich zu wundern schien, wieso jemand an einem derart milden Sommerabend einen langen Mantel trug - und dazu eine Sonnenbrille, obwohl die Schatten der Nacht das Licht des Tages allmählich ersetzten. Doch niemand blieb stehen oder sprach die Frau im Mantel mit der Sonnenbrille an. London wimmelte von Menschen mit bizarren Gewohnheiten, sie war nicht mehr als eine weitere eigenartige Gestalt, die das bunte Stadtbild bereicherte.
Das Haus, an dessen Mauer die Taelon-Botschaft förmlich hochzukriechen schien, ragte hoch und bedrohlich in den grauen Himmel, einer stummen Warnung gleich. Der Fluchtimpuls in ihr wurde mit jedem Schritt stärker.
Was hatte sie hergetrieben?
Niemand war im Hotel erschienen, um sie zu verhaften, und das Fernsehen hatte nichts über eine Festnahme des Professors gebracht. Möglicherweise litt sie unter Halluzinationen, aber da war jener Instinkt, der ihr sagte, daß sie keinen Tag länger in London bleiben konnte. In ihrer Handtasche befand sich ein One Way Flugticket nach Rom. Sie hatte es in einem schäbigen Reisebüro gekauft, bar bezahlt und sich sofort ausstellen lassen, anstatt es am Flughafen hinterlegen zu lassen. Der Flug ging in einer Stunde, und da sie kein Gepäck hatte, konnte sie in letzter Sekunde einchecken, ohne daß es Schwierigkeiten gab.
Sie würde sich hinter einer der Säulen verbergen, die den runden Erker mit dem Kuppeldach aus angelaufenem Kupfer über dem Eingang stützten. Dort würde sie auf den unglaublichen Zufall warten, daß er die Botschaft innerhalb des begrenzten Zeitfensters verließ, das ihr in London noch blieb.
Die verzweifelte Hoffnung, einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen, hatte sie hergetrieben.
Es war verrückt, leichtsinnig, gefährlich.
Doch leider war die Stimme der Vernunft selten laut genug, um den Schlag eines Herzens zu übertönen, das in Flammen stand.

 
* * *
 

Die gewohnten Wellen des Taelon-Displays durchliefen Da'ans Gesicht. La'el nahm die Botschaft sitzend entgegen, wie es ihm als britischem Companion in seinem Büro gebürte. Zo'or und Agent Sandoval standen, und Sandoval konnte den Verdruß seines Companions über diese Demütigung fast körperlich spüren.
„Ich grüße dich, La'el”, sagte Da'an in dem ihm eigenen sanften Tonfall, der in Sandoval nach all der Zeit immer noch Erinnerungen an jene Vergangenheit weckte, in welcher er Da'an mit einer Hingabe gedient hatte, die weit über das hinausgegangen war, was sein Motivations-Imperativ ihm an Gehorsam abverlangt hatte. Damals hatte es nichts gegeben, das er nicht für Da'an getan hätte. Er wäre für Da'an gestorben, hätte der Taelon es gefordert, ohne zu zweifeln, ohne zu zögern, ohne zu fragen.
Doch Da'an hatte seine Loyalität nie wirklich wahrgenommen. Seine ganze Aufmerksamkeit, seine ganze Zuneigung hatten allein Commander Boone gegolten.
Boone, immer nur Boone ...
Sandoval schüttelte die Erinnerungen ab. Das Rad der Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Er hatte seine Wahl getroffen, und nun mußten sie beide damit leben.
„Auch ich grüße dich, Da'an”, erwiderte La'el freundlich. „Womit kann ich dir dienlich sein?”
„Ich übermittle dir und Zo'or”, Da'an nickte dem Taelon zu, „den Wunsch der Synode, sich unverzüglich an Bord des Mutterschiffs zu begeben.”
„Warum?” kam Zo'or La'el zuvor.
„Qo'on beabsichtigt, die Synode einzuberufen”, antwortete Da'an. „La'el und du gehören der Synode an, daher ist eure Anwesenheit unerläßlich.”
„Darf ich fragen, aus welchem Anlaß Qo'on die Synode einberufen will?” fragte Zo'or.
„Die Synode ist besorgt über die aktuellen Geschehnisse in London. All diese Sabotageakte, und jetzt wurde gar ein Companion-Agent angegriffen und beinahe getötet.”
„Lieutenant Beckett wurde von Kriminellen überfallen”, ließ sich Sandoval vernehmen. „Der Vorfall hat nichts mit der Befreiungsbewegung zu tun.”
„Möglicherweise nicht.” Da'an lächelte leicht. „Möglicherweise aber doch. Mir ist zu Ohren gekommen, daß Sie es waren, der Lieutenant Beckett gerettet hat, Agent Sandoval.”
„Das ist richtig.”
„Welch überaus glückliche Fügung, daß Sie, Agent Sandoval, gerade rechtzeitig zur Stelle waren, um Lieutenant Beckett aus einer derart fatalen Situation zu helfen, in die sie vermutlich nicht geraten wäre, hätte sie sich nicht gemeinsam mit Ihnen in diesem berüchtigten Stadtteil aufgehalten.”
„Vermutlich nicht”, bestätigte Sandoval mit ausdrucksloser Miene.
„Falls es dir genehm ist, Da'an, würde ich gerne auf das eigentliche Thema zurückkommen”, sagte Zo'or. „Es gibt für Qo'on keinen Grund, die Synode wegen einiger Unruhestifter einzuberufen, die sich schon bald in unserem Gewahrsam befinden werden.”
„Leider teilt Qo'on deine Zuversicht nicht.”
„Du meinst wohl, daß du sie nicht teilst. Du hast Qo'on veranlaßt, die Synode einzuberufen.”
„Das habe ich in der Tat. Sofern es zutrifft, was du behauptest, daß die britische Befreiungsbewegung das Interesse der Synode nicht verdient, frage ich mich, weshalb du New York verlassen hast, um persönlich nach London zu fliegen.”
„Zo'or glaubt, meine Fähigkeit, mit dem Widerstand fertig zu werden, in Zweifel ziehen zu müssen”, bemerkte La'el mit einem Seitenblick auf den anderen Taelon. „Dies ist ein Vorwurf, der das Interesse der Synode um so mehr verdient, als er haltlos ist. Meine Implantantin stand im Begriff, die Drahtzieher der Aktionen festzunehmen. Ein Erfolg, der durch die Unfähigkeit Agent Sandovals zunichte gemacht wurde. Die Synode sollte Zo'or empfehlen, lieber genauer darauf zu achten, wen er mit der Durchführung seiner Befehle betraut, anstatt meine Vorgehensweise zu kritisieren.”
„Wie du selbst siehst, Zo'or, gibt es entgegen deiner Auffassung einen zwingenden Grund für Qo'on, die Synode einzuberufen”, erklärte Da'an. „Die übrigen Mitglieder der Synode erwarten euch an Bord des Mutterschiffs. Ich schlage vor, daß ihr euch sofort auf den Weg dorthin begebt.”
„Das werden wir.” La'el unterbrach die Verbindung mit einer Bewegung seiner Hand.
„Machen Sie mein Shuttle klar, Agent Sandoval!” befahl Zo'or, ohne seinen Beschützer eines Blickes zu würdigen. „Gibt es ein Problem?” erkundigte er sich, als Sandoval nicht reagierte.
„Es tut mir leid, Zo'or. Ich hatte angenommen, daß Sie das Shuttle heute nicht benötigen und habe einen der Piloten angewiesen, es bei der Suche nach den flüchtigen Terroristen einzusetzen. Soll ich es zurückbeordern?”
„Nein.” Zo'or lächelte zufrieden, als er den Ausdruck in La'els Augen sah. La'el mochte noch so nachdrücklich behaupten, daß Agent Sandoval unfähig war. Sie beide wußten, daß dies nicht den Fakten entsprach. Wäre Sandoval nicht effizient, hätte Zo'or die Arroganz des FBI-Agenten niemals geduldet, geschweige denn durch die Gewährung weitreichender Befugnisse genährt. „Die Suche hat Priorität. Wenn du gestattest, La'el werden ich und Agent Sandoval in deinem Shuttle mitfliegen.”

 
* * *
 

Anne Rice warf James Lynley einen verstohlenen Blick zu. Seit Tom verkündet hatte, ohne ihr Wissen einen Sprengsatz in La'els Shuttle versteckt zu haben, hatte Lynley kein einziges Wort mehr gesprochen. Er hatte sich in eine Ecke gehockt und das Gesicht stumm in den Händen vergraben. Sie hatte versucht, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen, aber er hatte nicht reagiert, und schließlich hatte sie es aufgegeben.
O'Mally schien Lynleys Verfassung nicht zu bemerken, und falls doch, so ignorierte er sie so selbstverständlich, als wäre der andere Mann gar nicht anwesend. Er saß auf einem leeren Whiskyfaß und pfiff leise vor sich hin. Er hatte darauf bestanden, daß sie im Keller blieben, bis alles vorbei war, ganz gleich wie lange es dauern würde. Er wollte nicht riskieren, daß sie gefaßt wurden, bevor er das Ziel erreicht hatte, das er sich gesteckt hatte. Ob sein Ziel sich mit demjenigen von Rice und Lynley deckte, interessierte ihn herzlich wenig. Als Lynley versucht hatte, den Keller gegen seinen Willen zu verlassen, hatte O'Mally eine Waffe gezogen und gedroht, ihn eher niederzuschießen als ihn gehen zu lassen. Lynley hatte sich der Gewalt gebeugt. Anne ihrerseits war im Grunde ihres Herzens mit dem einverstanden, was O'Mally beabsichtigte. Sie hätte sich solcher Methoden zwar nicht bedient, aber sie billigte es, daß O'Mally es tat. Irgend jemand mußte tun, was getan werden mußte, und in diesem Fall war das eben Thomas O'Mally, und sie würde sich ihm gewiß nicht in den Weg stellen.
Ein feines Summen erklang.
O'Mally sprang wie elektrisiert auf und aktivierte sein Global.
„Ja?”
„Donnavan hier”, ertönte es aus dem Gerät. „Ich habe eine gute Nachricht für Sie.”

 
* * *
 

Der Vorraum der Botschaft war leer, bis auf einen jungen Mann im Anzug, der hinter einem Empfangsschalter saß.
Sie hatte lange mit sich gerungen, bis sie sich ins Innere der Botschaft gewagt hatte. Seitdem kämpfte sie ununterbrochen gegen den drängenden Wunsch, sich auf dem Absatz umzudrehen und davonzurennen. Aber sie hatte nur noch eine halbe Stunde, und das Risiko, den Verdacht der Taelon-Sicherheit zu erregen, wuchs mit jeder Minute, die sie sich draußen vor der Botschaft herumdrückte. Sie war bereit, es einzugehen, doch nur, wenn es die Sache wert war. Möglicherweise wartete sie ja völlig umsonst, weil er sich irgendwo außerhalb der Botschaft aufhielt. Sie mußte Gewißheit haben.
Der Mann am Schalter hatte ihr den Rücken zugewandt und sprach in sein Global. Sie wollte ihn gerade ansprechen und fragen, ob Agent Sandoval sich in der Botschaft befand ...
Verrückt, sie mußte den Verstand verloren haben, sich mitten in die Höhle des Löwen zu begeben und zu fragen, ob er da war ...
... als sie einige Worte vernahm, die sie innehalten ließen.
„Ja, wenn ich es doch sage. Dieser FBI-Mann aus Washington und Zo'or befinden sich im Shuttle. Nein, Lieutenant Beckett liegt im Krankenhaus, wurde gestern Abend überfallen.” Der Mann lachte. „Ja, finde ich auch, wirklich schade, aber sie ist ja nicht aus der Welt.” Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung schien eine Frage zu stellen. Erneut lachte der Mann. „Klar bin ich sicher, würde ich Sie sonst kontaktieren? Sie sind gerade gestartet, wollen zum Mutterschiff. Wird ein kurzer Flug werden und höllisch heiß dazu! Aber warten Sie besser eine Viertelstunde, ehe Sie das Knöpfchen drücken, um ganz sicher zu sein, daß sie sich nicht mehr in der Interdimension befinden. Schließlich sollen die dort oben auch was von dem Feuerwerk haben.” Er deaktivierte das Global und dann bemerkte er die Frau, die am Terminal stand und ihn anstarrte.
„Kann ich was für Sie tun Lady?”
„Mit wem haben Sie da gesprochen?” Ihr Blick hing an dem Global.
„Ich denke nicht, daß Sie das etwas angeht”, erklärte er kühl. Doch auf seiner Stirn bildeten sich winzige Schweißperlen, die bestätigten, was sie vermutete.
„Es wird ein kurzer Flug werden und höllisch heiß dazu.”
Man mußte nicht der Befreiungsbewegung angehören, um die Vereinbarung eines Attentats als solche zu erkennen.
„Dieser FBI-Agent aus Washington befindet sich im Shuttle.”
Instinktiv wich sie zurück, während ihr Blick umherirrte. Es mußte hier doch irgendwo einen Notrufterminal geben.
Er erriet ihre Absicht, hechtete über den Schalter und packte ihren Arm.
„Tut mir leid, Lady, aber das kann ich nicht erlauben.”
„Lassen Sie mich ...”
Seine Hand erstickte ihren Schrei. Er war groß und kräftig, und er hatte keine Mühe, sie zu einem Abstellraum zu zerren und sie hineinzustoßen. Er sammelte einige Kabel vom Boden auf und begann, sie damit zu fesseln.
„Tut mir leid”, wiederholte er. „Ich will Ihnen nichts tun, okay. Verhalten Sie sich einfach nur ruhig bis alles vorbei ist. Danach sehen wir weiter.”
Bis alles vorbei ist.
„Sie sind gerade gestartet.”
„Warten Sie besser eine Viertelstunde, bevor sie das Knöpfchen drücken.”
Scheinbar besiegt sackte sie in sich zusammen und gab ihren Widerstand auf, während ihre Hand auf der verzweifelten Suche nach etwas, das sich als Waffe benutzen ließ, über den Boden des Raumes tastete.
„Schließlich sollen die dort oben auch was von dem Feuerwerk haben.”
Ihre Finger bekamen den Griff eines Schraubenschlüssels zu fassen.
„Dieser FBI-Agent aus Washington befindet sich im Shuttle.”
Sie schloß die Augen, riß den Arm hoch und stieß mit aller Kraft zu. Sie hörte seinen Schrei, fühlte, wie der Schraubenschlüssel tief in seinen Hals drang, wie warmes Blut über den Griff und ihre Hand quoll.
Seine Schreie wurden zu einem Gurgeln, dann zu einem Röcheln und schließlich verstummte auch das.
Sie wagte es, ihre Augen wieder zu öffnen.
Er war über ihr zusammengebrochen. Der rotgelb gestreifte Griff des Schraubenziehers ragte wie ein bizarres Kunstwerk aus seinem Hals. In seinen Augen lag Fassungslosigkeit. Der Tod hatte den Ausdruck darin einfrieren lassen.
Sie schob die Leiche von sich. Dann revoltierte ihr Magen, und sie erbrach sich neben dem Toten. Die Luft in dem engen Raum roch nach Erbrochenem und Blut, das überall zu sein schien. Ihr heller Mantel war getränkt damit. Sie streifte ihn ab und schleuderte ihn von sich. Darunter trug sie ein dunkles Kleid, auf dem das Blut nicht auffiel. Sie zwang sich, den Toten nicht anzusehen.
„Der FBI-Agent aus Washington befindet sich im Shuttle.”
„Es wird ein kurzer Flug werden, und höllisch heiß dazu.”
„Der FBI-Agent aus Washington befindet sich im Shuttle.”
Sie mußte ihn warnen, und wenn es das Letzte war, das sie in diesem Leben tat.
Aber wie?
Ihr Blick fiel auf das Global, das dem Mann im Verlauf des Kampfes offenbar aus der Tasche gerutscht war.
Oh, Gott, sie kannte die Nummer seines Globals nicht.
„Dieser FBI-Mann aus Washington befindet sich im Shuttle.”
Sie starrte das Global an, während ihre Gedanken wild umherflatterten.
Beckett! Bei Gott, ja, Beckett!
Sie schüttete den Inhalt ihrer Handtasche auf den Boden und kramte darin herum, bis sie die schmale Karte fand. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer ein.
„Beckett liegt im Krankenhaus, wurde gestern Abend überfallen.”
Oh, Gott, bitte, laß Beckett bei Bewußtsein sein, flehte sie stumm. Mach, daß sie ihr Global bei sich hat!

 
* * *
 

Der Raum war steril und die Stille wurde nur vom Geräusch ihrer Atemzüge unterbrochen. Es roch nach Desinfektionsmittel, aber der Geruch wurde vom intensiven Duft der Wildblumen, die in einer gläsernen Vase auf dem Nachttisch neben einem Korb mit Obst standen, überlagert. Der Strauß war von einem Boten gebracht worden. Es war keine Nachricht dabei gewesen. Doch Beckett war sicher, daß Sandoval ihn geschickt hatte.
Sandoval.
Er hatte ihr gestern Abend das Leben gerettet. Das war alles, woran sie denken konnte. Es spielte keine Rolle, daß sie hier in diesem Bett festsaß, während er dort draußen allein Jagd auf die Terroristen machte. Sie wünschte ihm von ganzem Herzen, daß er Erfolg hatte.
„Dieser Abend gehört allein Ihnen.”
Sie lächelte bei der Erinnerung daran, wie er sie bei diesen Worten angesehen hatte, wie sanft und voll seine Stimme geklungen hatte.
Dieser Abend war es wert, daß sie jetzt hier lag, eingewickelt in Verbände wie eine Mumie.
Mit Hilfe ihres CVI durchlebte sie jede Sekunde von dem Moment an, wo Sandoval sie abgeholt hatte bis zum Verlassen des Restaurants noch einmal mit einer Intensität, die so wunderbar und mitreißend war, daß sie glaubte, vor Glück zerspringen zu müssen.
„Dieser Abend gehört allein Ihnen.”
„Nur der Abend?”
Wären diese Kriminellen nicht aufgetaucht, würde sie jetzt gewiß nicht in diesem Bett liegen, und noch weniger allein ...
Das Summen des Globals unterbrach diese angenehme Träumerei.
Beckett zögerte, sich zu melden. Aber vielleicht war es ja Sandoval, der sie sprechen wollte. Das gab den Ausschlag.
Sie aktivierte das Gerät und blickte erstaunt in das bleiche Gesicht von Lynleys Assistentin.
„Sie müssen ihn warnen! Da ist eine Bombe im Shuttle, die jede Minute gezündet wird!”
Beckett hielt sich nicht mit Fragen auf. Sie wußte sofort, von wem die Frau sprach, und daß es ihr ernst war. Sie unterbrach die Verbindung und gab die Nummer von Sandovals Global ein.

 
* * *
 

Obwohl Sandoval nun schon so viele Interdimensionsflüge hinter sich hatte, empfand er es immer wieder als faszinierend, sich in der Interdimension zu befinden. Durch das virtuelle Glas, welches das Shuttle fast vollständig umgab, betrachtete er die farbigen Energiewellen, in denen sie entlangtrieben wie ein Stück Holz in der Strömung eines reißenden Flusses.
Er warf Zo'or, der neben ihm saß, einen Blick zu.
Der Taelon sah starr nach vorne. Nichts in seiner ausdruckslosen Miene ließ erkennen, was er dachte, welch raffinierte Strategien er bereits im Geist entwickelte, um die Synode für sich und gegen La'el und im günstigsten Fall auch gegen Da'an einzunehmen. Von allen Taelons, denen Sandoval bisher begegnet war, war Zo'or ohne jeden Zweifel der intriganteste, doch war es nicht gerade diese Fähigkeit, die er an dem Taelon am meisten bewunderte?
Das Summen seines Globals unterbrach Sandovals Gedankengang. Er aktivierte das Gerät.
„Lieutenant Beckett”, begrüßte er die junge Frau, deren geschwollenes Gesicht eine spontane Regung von Reue in ihm aufwallen ließ. „Sollten Sie nicht ...”
„Im Shuttle ist eine Bombe!” fiel sie ihm ins Wort.
Noch während sie sprach löste Sandoval den Sicherheitsgurt und sprang von seinem Sitz auf.
„Was soll das, Agent Sandoval?” erkundigte Zo'or sich irritiert.
„Im Shuttle ist eine Bombe versteckt”, erwiderte Sandoval. „Sofort umkehren!” rief er dem Piloten zu. „Bringen Sie uns zurück zur Erde!”
Der Pilot blickte La'el fragend an.
„Kehren Sie um!” befahl Zo'or schneidend. „Auf der Stelle!”
Im Gegensatz zu La'el hatte er sofort begriffen, daß Sandovals Forderung allein dem Schutz des Mutterschiffs diente. Sollte an Bord des Shuttles ein Sprengsatz explodieren, mußte es soweit wie möglich vom Mutterschiff entfernt sein.
La'el nickte dem Piloten zu, woraufhin er den Kurs korrigierte.
Sandoval war bereits dabei, die Kabine zu durchsuchen. Sein Verstand arbeitete präzise wie das Werk der goldenen Taschenuhr, die er stets bei sich trug. Rasch ging er sämtliche Möglichkeiten durch, überlegte, wo er anstelle des Attentäters die Bombe plaziert hätte und wurde unter La'els Sitz fündig.
„Können Sie den Sprengsatz entschärfen, Agent Sandoval?” fragte Zo'or.
„Wenn ich ausreichend Zeit habe, ja.” Sandovals Finger entwirrten die Drähte. Er kannte sich mit Bomben aus. Dieses Modell war wirkungsvoll, doch relativ einfach konstruiert. Das Werk eines Guerillakriegers, nicht das eines Profikillers. „Ich brauche etwas Scharfes, um den Zündungsdraht zu durchtrennen! Ein Messer oder eine Zange.”
Der Pilot griff in die Tasche und zog einen glänzenden Gegenstand hervor, den er Sandoval reichte. „Geht das?”
Sandoval nahm den Zigarrenabknippser und schloß ihn um den Draht.
„Da soll noch einmal jemand behaupten, Rauchen gefährdet die Gesundheit”, meinte der Pilot trocken, als der Draht begleitet von einem feinen Knacken unter dem Druck brach.
Sandoval ignorierte die Bemerkung. Er gab dem Piloten den Zigarrenabknippser zurück. Dann verband er den Draht mit geübten Handgriffen mit seinem Global.
„Was tun Sie da?” wollte La'el wissen.
„Ich nutze den Impuls der Zündung, um das Signal zum Ursprungsort zurückzuverfolgen.”
„Woher wissen Sie, daß ...”
Ein heller Blitz brachte den Draht zum Glühen.
Über das Global in seiner Hand blickte Sandoval Zo'or an, in dessen Augen sich seine eigene Befriedigung widerspiegelte.
Sandoval aktivierte das Global und stellte eine Verbindung zu Zo'ors Shuttle her.
„Fliegen Sie zu den Koordinaten, die ich Ihnen gerade übermittle und verhaften Sie jeden, der sich in der unmittelbaren Nähe aufhält! Sollte jemand Widerstand leisten, erschießen Sie ihn!”

 
* * *
 

Ben Driskell bewegte sich lautlos und behende wie eine Katze. Die Arroganz dieses FBI-Mannes, seine unverhohlene Verachtung hatten an seiner Ehre gekratzt.
„Soll das heißen, daß Sie O'Mally aus den Augen verloren haben?”
Beim heiligen Sankt Patrick, das konnte und wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Er würde Sandoval beweisen, daß man kein Implantat in seinem Kopf haben mußte, um erfolgreich zu sein! Er hatte die ganze Stadt systematisch durchkämmt, mit dem Gespür eines geborenen Jägers, dem kein noch so raffiniertes Wild auf Dauer entfliehen konnte. Er hatte zwar nicht O'Mally gefunden, aber er hatte Anne Rice entdeckt, die ihn geradewegs in diese leerstehende Fabrikanlage geführt hatte. Leider hatte er die Spur verloren, als sie die Anlage betreten hatte, doch er war sicher, daß sie sich noch irgendwo dort drinnen befand, und daß O'Mally und Lynley bei ihr waren. Er hatte flüchtig mit dem Gedanken gespielt, Sandoval zu informieren. Aber warum sollte er ausgerechnet diesem FBI-Mann, dessen Art ihm zutiefst zuwider war, die Verhaftung überlassen? Siobhan, ja, sie hätte er sofort benachrichtigt. Doch sie lag im Krankenhaus. Weil Sandoval sie in dieses berüchtige Viertel geschleppt und einfach allein gelassen hatte. Darüber würde er sich bei Gelegenheit noch einmal privat mit Agent Sandoval unterhalten. Doch das mußte warten, bis er das hier erledigt hatte. Himmel, er freute sich bereits auf Sandovals Gesicht, wenn er feststellen mußte, daß er, Ben Driskell, die Terroristen geschnappt hatte, denen er vergeblich nachgejagt war, und das ohne irgendein Taelon-Implantat in seinem Gehirn!
Während er sich die Szene in allen Einzelheiten ausmalte, brach, begleitet von ohrenbetäubendem Lärm ein Taelon Shuttle aus der Interdimension. Instinktiv ließ er sich fallen und riß die Arme hoch, und als ein Mann aus dem Shuttle sprang und ihn packte, setzte er sich wütend zur Wehr.
Was fiel denen ein? Das war seine Festnahme!
In seinem Rücken begannen die Waffen des Shuttles die Gebäude der Anlage eines nach dem nächstem mit gezielten Schüssen in Schutt und Asche zu legen.
Driskell war zu konzentriert darauf, den Mann, der versuchte, ihn festzuhalten, mit zornigen Schlägen zu taktieren, um die dunkelhaarige Frau in dem pfirsichfarbenen Leinenkleid und die beiden Männer zu bemerken, die aus einem der Häuser liefen und wie Ratten auf der Flucht vor einer Katze in verschiedene Richtungen davonstoben.
Ein zweiter Mann sprang aus dem Shuttle und nahm mit gezückter Waffe die Verfolgung auf.
Warnrufe gellten über das Gelände, dann gleißten mehrere Schüsse.
Verblüfft starrte Driskell in die Mündung, die unerwartet auf ihn zeigte.
Hey, was soll das?! schoß es ihm durch den Kopf, als sein Gegner bereits abdrückte.
Ein greller Blitz explodierte vor seinen Augen. Dann gab es nichts mehr außer Dunkelheit.

 
* * *
 

Nur wenige Passagiere warteten in der Abflughalle auf den Beginn des Check-In für den letzten Flug in dieser Nacht.
Paris, die Stadt der Liebenden.
Sie hatte ihr Ticket nach Rom in kleine Fetzen gerissen. Sie hatte den Flug verpaßt, doch wen kümmerte es. Paris war genauso gut wie jeder andere Ort. Sie war aus der Botschaft direkt hierher gefahren und hatte das Ticket gekauft.
In der Wartehalle gab es an der Wand direkt neben dem Getränkeautomaten einen großen Bildschirm, auf dem ein Bericht über einen mißglückten Mordanschlag auf den britischen Companion und seinen Gast Zo'or lief, der buchstäblich in letzter Sekunde verhindert worden war. Fotos wurden eingeblendet, auf denen sie Professor James Lynley, Thomas O'Mally und Anne Rice erkannte, die angeblich hinter dem Anschlag steckten. Es hatte eine Schießerei gegeben, bei der Lynley und Anne Rice getötet worden waren. O'Mally war flüchtig. Überall wurde fieberhaft nach ihm gefahndet.
Konnte das wirklich möglich sein?
Sie rieb den Stoff ihres Rockes zwischen den Fingern, der immer noch feucht vom Blut des Mannes war, den sie erstochen hatte.
Warum sollte Professor Lynley kein Mörder gewesen sein?
Die feuchten Flecken auf ihrem Rock bewiesen, daß jeder fähig war, einen anderen zu töten.
Alles war möglich.
Jemand trat zwischen sie und den Bildschirm.
Sie wollte aufspringen und flüchten, aber sie vermochte nicht, sich zu rühren. Sie hatte keine Kraft mehr, um zu kämpfen. Ihre Finger verkrampften sich in den Falten ihres Rockes.
„Wie haben Sie mich gefunden?” fragte sie leise.
„Über das Positionssignal des Globals.” Beckett setzte sich neben sie auf die Wartebank. „Sie hätten es deaktivieren müssen.”
„Leider verstand ich noch nie besonders viel von diesen Dingen.”
„Offensichtlich.” Beckett verzog leicht das Gesicht, als eine starke Schmerzwelle durch ihren Körper zuckte, was der blonden Frau in dem dunklen Kleid nicht entging.
„Ich hörte, daß Sie überfallen wurden. Sollten Sie nicht eigentlich im Krankenhaus liegen?”
„Ich habe mich selbst beurlaubt.”
„Um mich persönlich festzunehmen? Bedeutet Ihnen das wirklich soviel? Warum?”
„Ich bin nicht hier, um Sie zu verhaften, Miss Sullivan.” Beckett lächelte. „Sie haben mit Ihrer Warnung die Ermordung zweier Taelons verhindert.”
„Aber der Mann in der Botschaft.”
„Ein Mitglied der Befreiungsbewegung, vermute ich.” Beckett winkte ab. „Das muß Sie nicht bekümmern. Ich habe mir erlaubt, diese Angelegenheit für Sie zu regeln.”
Diese Angelegenheit.
Sie starrte Beckett fassungslos an.
Sie hatte einen Menschen erstochen, und diese Frau tat das mit einer Leichtigkeit ab, als hätte sie eine Ameise zerdrückt, die zur falschen Zeit am falschen Ort herumgekrabbelt war.
„Niemand wird Sie deswegen behelligen, Miss Sullivan”, versicherte Beckett. „Sie sehen also, es gibt keinen Grund, weshalb Sie dieses Ticket in Ihrer Handtasche nicht zerreißen und nach Hause gehen sollten.”
„Vielleicht ziehe ich es vor, nach Paris zu fliegen.”
„Es steht Ihnen frei, das zu tun.” Beckett zuckte mit den Achseln. „Doch weshalb sollten Sie den Wunsch haben, London zu verlassen, wenn Sie sich nichts vorzuwerfen haben? Sie müssen sich keine Sorgen machen, ich werde Sie aus allem heraushalten. Offiziell wurde ich von einem der vielen Informanten benachrichtigt, die für mich arbeiten. Niemand wird je erfahren, daß Sie in diese Sache verwickelt waren. Das ist es doch, was Sie insgeheim befürchten, nicht wahr?”
„Wie kommem Sie darauf?”
„Intuition. Ist das wichtig? Sie möchten, daß Ihr Name und Ihre Beteiligung an dem Vorfall unerwähnt bleiben, und ich werde dafür sorgen, daß das geschieht. Das sollte Sie glücklich machen.”
„Warum tun Sie das?”
Beckett lehnte sich vor und brachte ihr Gesicht so dicht an das der anderen Frau, daß sie es beinahe berührte. „Aus dem selben Grund wie Sie.”
„Das verstehe ich nicht.”
„Das müssen Sie auch nicht.” Beckett erhob sich. „Vergessen Sie das alles. Kehren Sie in Ihre Wohnung zurück und leben Sie Ihr Leben weiter wie bisher. Na los, gehen Sie schon.”
Sie stand zögernd auf.
London war so gut wie jeder andere Ort.
Becketts Blick folgte der schlanken Gestalt, die langsam zum Ausgang der Wartehalle ging.
Nach dem mißglückten Attentat hatte Zo'or es für ratsam erachtet, sofort nach Washington zurückzufliegen. Sandoval hatte ihn begleitet. Sie hatten keine Zeit für einen Abschied gehabt. Einige Worte über das Global, das war alles gewesen.
Hätte sie ihm sagen sollen, was sie herausgefunden hatte, als sie, ihrer Intuition folgend Mary Sullivans Bild durch die Datenbanken des britischen Geheimdienstes geschickt hatte?
Sie hatte sich entschieden, zu schweigen.
Manchmal mußte man die Vergangenheit ruhen lassen, und das war so ein Fall.
Natürlich wäre es möglich gewesen, die Frau festzunehmen und dann irgendwo verschwinden zu lassen, ohne daß die Taelons und Sandoval davon erfuhren.
Aber davor schreckte sie instinktiv zurück.
Sie wollte das Blut dieser Frau nicht an den Händen haben. Wer konnte wissen, ob Sandoval nicht doch eines Tages die Wahrheit herausfand, und sie war sicher, daß er ihr den Tod dieser Frau niemals würde verzeihen können.
Nein, sie zu töten, stellte keine Option dar.
Außerdem hatte ihre Warnung Sandoval gerettet.
Wie hätte sie das nicht honorieren können?
„Warum tun Sie das?”
Beckett lächelte versonnen.
„Aus Liebe”, flüsterte sie, ohne auf die erstaunten Blicke zu achten, mit denen die Reisenden in der Halle ihr Selbstgespräch quittierten. „Genau wie Sie.”

 

Epilog
 

Die Frau, die einst, in einem anderen, weit entfernten Leben DeeDee Sandoval gewesen war, stand allein am eisernen Geländer der London Bridge und sah hinab in die Fluten.
Der Fluß war frei, ins Meer zu fließen und von dort an die Küste jenes Landes, in dem der Mann lebte, den sie trotz allem, was er war und getan hatte, liebte und immer lieben würde, und sie beneidete jeden einzelnen Tropfen darum.
Lange stand sie da, während Fußgänger vorbeihasteten und eine Schlange von Autos sich im üblichen Feierabendstau über die schmale Brücke drängelte, die dem starken Verkehrsaufkommen in der Londoner Innenstadt schon seit Jahrzehnten nicht mehr gewachsen war.
Die Sonne versank und tauchte die Themse in goldenes Rot.
Die Zahl der Fußgänger und der Kraftfahrzeuge verringerte sich, und als schließlich die Nacht London und die einsame Frau auf der Brücke wie ein Mantel aus schwarzem Samt einhüllte, waren die blinkenden Leuchtreklamen der Geschäfte und Anzeigetafeln ihre einzige Gesellschaft.
Und der Fluß, der stumm und dunkel unter ihr entlangzog.
Kein Wasser dieser Erde würde jemals das Blut von ihren Händen waschen können.
Sie hatte einen Menschen getötet.
Ihr Blick folgte der Strömung.
Jenseits der Londoner Nacht brach in unendlich weiten Fernen für ihn ein neuer Morgen an.
Die Glocken von Westminster läuteten, und ihr Klang schien sie zu rufen.
Doch sie achtete nicht darauf.
Gott, sofern er wirklich existierte, verzieh denjenigen, die ihre Sünden bereuten.
Für sie aber gab es keine Absolution.
Denn vor die Wahl gestellt, würde sie immer wieder so handeln.
Für ihn.
Immer ...

 

ENDE

 

 

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