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  „Black Out” von Ma'ri   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen außer Liana, Melanie Harris und To'ar gehören den Eigentümern von Mission Erde/Earth: Final Conflict. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Da'an gerät unter Verdacht einen Wissenschaftler ermordet zu haben.
Zeitpunkt:  dritte Staffel, Fortsetzung zu „With or without you”
Charaktere:  Da'an, Boone, Lili, Augur, Liam, Zo'or, Re'sha, Melanie/Liana, [Sandoval, To'ar]
 

 

BLACK OUT

 

Teil 3

Mit einem Seufzen schloss sie die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und kniff einen Moment lang die Augen zu. Es war still in ihrer Wohnung ... zu still. Die Erinnerungen schienen in jeder Einzelheit zurückkehren zu wollen, um diese Stille auszufüllen. Es ließ sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Es jagte sie, schien ihr überall hin zu folgen und in verschiedener Gestalt zu begegnen, um sie damit zu quälen ...
Sie gab sich einen Ruck, löste sich langsam von der Tür und hängte ihre Jacke auf. Dann ging sie ins Bad und wusch sich die Hände. Mehrere Minuten lang hielt sie sie unter den eiskalten Wasserstrahl und rieb fast wie in Trance immer wieder ihre Handflächen. Doch das, was daran klebte, würde nicht verschwinden. Es würde nie wieder verschwinden.
*Wir haben nur einen Befehl ausgeführt. Wir konnten nicht anders, Liana. Und du weißt doch, dass dein Chi'ma'hé es überlebt.*
*Darum geht es nicht. Ich wusste, dass es geschehen würde ... aber dass ich es war, die ihm das angetan hat.* Sie starrte auf ihre Hände und das Bild verschwamm vor ihren Augen. *Dass ich es war, die diesen Mann getötet hat ... Da'an dachte immer, Sandoval hätte in Zo'ors Auftrag gehandelt ... vielleicht ist es ein Fluch, der auf seinen Kindern liegt, dass sie alle nicht werden, wie er es sich wünschte.*
*Du weißt, dass das nicht stimmt.* Melanies Geist versuchte den ihren zu trösten.
*Meinst du, er hätte sich gewünscht, dass seine Kinder Leben beenden? Dass sie sich in Schuld verstricken, bis sie daran zugrunde gehen?*, fragte Liana verbittert. *Er hat so gehofft, dass ich anders werde ... so gehofft ...* Langsam sackte sie in sich zusammen, den Blick immer noch starr auf ihre Hände gerichtet, von denen das Wasser tropfte. *... und ich habe ihn enttäuscht. Ich habe ihm das angetan!* Die Erinnerung an diese Zeit war deutlich in ihr, diese Angst, etwas Furchtbares getan zu haben, ohne es zu wissen, und es vielleicht wieder zu tun, ohne es kontrollieren zu können ... diese Stille, das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen ... die Stimmen, sie waren nicht mehr da ... er war allein, hilflos ... warum nicht Trost in den Armen der Leere suchen?
Melanie unterdrückte diese Erinnerung und trieb statt dessen eine andere an die Oberfläche. Eine sanfte, kühle Hand, die die seine hielt ... Geborgenheit ... Zuneigung ...
*Alles geschieht aus einem bestimmten Grund. Das müsstest du eigentlich am besten wissen*, ermahnte sie Liana. *Normalerweise können wir nicht alle Konsequenzen einer Handlung absehen, aber du weißt, was geschehen wird. Wenn du dir die Schuld daran gibst, dann freue dich auch über das, was du letztendlich damit erreicht hast.*
„Aber ich werde nie wieder ohne Schuld sein”, sagte sie leise in die Stille hinein. Dann stand sie auf, ging in ihr Schlafzimmer und wechselte die Kleidung. Sie wollte Abstand gewinnen ... zu ihrer Arbeit, Zo'or, To'ar, Sandoval ... zu den ganzen Intrigen, in die sie nun mit hineingezogen worden war. Leise begann der Regen gegen das Fenster zu schlagen, erst wenige Tropfen, dann mehr und mehr, bis das sanfte Klopfen einen beruhigenden, einschläfernden Rhythmus gefunden hatte. Sie setzte sich auf die Kante des Bettes und ihr Blick verlor sich in den komplizierten Mustern, die das Regenwasser an die Scheibe malte. Wie betäubt saß sie völlig bewegungslos in diesem Zimmer ... in dieser Wohnung ... in diesem Haus ... in dieser Stadt ... diesem Land ... auf diesem Planeten und fühlte gar nichts mehr. ‚Warum nicht Trost in den Armen der Leere suchen?’ Ihre Anspannung ließ plötzlich nach und sie ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. Sie kroch nicht einmal unter die Decke, sondern rollte sich darauf zusammen, schlang die Arme um ihren Körper und verkrallte die Hände im Stoff des Hemdes, das sie trug. Allein ...
Gequält schloss sie die Augen. ‚Bitte, lass mich nicht träumen!'

 
* * *
 

Der Geräuschpegel war im Flat Planet verhältnismäßig niedrig. Es saßen nur wenige Gäste an den Tischen, ein paar an der Bar und selbst die Musik schien nur mit halber Lautstärke zu spielen. Liam malte mit dem Glas, das vor ihm stand, Kreise auf die Tischplatte. „Also hat Re'sha Da'an gerettet?”
Boone schwieg und nickte nur. „Und Sie haben ihm so einfach vertraut? Diese Kugel hätte alles Mögliche enthalten können!”, fuhr Liam fort.
„Ich weiß, ich habe Da'an damit in Gefahr gebracht, aber er weiß wahrscheinlich am besten, wem er vertrauen kann und wem nicht.” Ein leichter Schauder lief ihm über den Rücken, als er an Da'ans Ausspruch ‚Ich weiß nicht mehr, wem ich vertrauen kann.’ zurückdachte. Laut sagte er: „Wir können kaum ermessen, wie verstrickt das Spiel um die Macht unter den Taelons ist. Wenn Re'sha und Da'an verfeindet wären, hätte Da'an wohl kaum das Gegenmittel angenommen.”
Der jüngere Companion-Beschützer sah ihn skeptisch an. „Da'an versucht uns auch immer noch weiszumachen, dass Taelons sich nicht gegenseitig töten.”
„Vielleicht stimmt es ja auch.”
„Also bitte! Und das sagen Sie, nachdem Da'an fast gestorben wäre?”
„Ihm dieses Gift zu verabreichen und ihm einzureden, er hätte einen Mord begangen und stelle eine Gefahr für seine Spezies dar, hätte ihn früher oder später dazu gebracht, sich selbst zu töten. Ein anderer Taelon hätte also keine Schuld auf sich geladen, denn er selbst hätte Da'an ja nicht getötet.”
„Jemanden in den Selbstmord zu treiben sehen Sie also nicht als Mord an?”
„Es geht nicht darum, welche Ansichten ich vertrete, sondern dass die Taelons dabei einen Unterschied machen.”
Liam erwiderte darauf nichts, sondern sah gedankenverloren zur Bar hinüber, wo Augur mit einigen Gästen plauderte. „Wurde das Urteil der Synode schon wieder aufgehoben?”, fragte er beiläufig.
„Noch nicht. Die Synode versammelt sich heute Abend noch einmal. Mehr weiß ich auch nicht.”
„Ich frage mich, wie er das gemacht hat.”
„Wer?”
„Re'sha. Sie haben sich einmal kurz mit ihm unterhalten, eine Stunde später drückt er Ihnen das Gegengift in die Hand und schon heute Abend soll diese ganze leidige Sache beendet werden? Dieser Taelon scheint ganz schön viel Einfluss zu haben, dabei ist er nicht mal Mitglied der Synode!”
„Bei uns ist auch nicht jeder, der Einfluss hat, in der Regierung.”
„Schon, aber was macht ihn so besonders, dass er so einfach etwas bewegen kann?”
„Ich weiß es nicht. Und wir werden es wahrscheinlich auch nicht erfahren.”
„Sicher?” Ein spitzbübisches Grinsen breitete sich auf Liams Gesicht aus.
„Sparen Sie sich Ihre detektivischen Ambitionen besser auf. Ich habe einen Auftrag für Sie.”
Der jüngere Beschützer lehnte sich etwas vor und nickte auffordernd. Nun zuckte es um Boones Mundwinkel. „Sagen Sie, wie gut verstehen Sie sich mit Kindern, Major?”

 
* * *
 

Gedankenverloren sah er an dem Haus empor und dachte zum wiederholten Male darüber nach, warum er Befehle von Boone annahm. Gut, er hatte einen höheren Rang und war um einiges älter als er, aber als Companion-Beschützer waren sie einander völlig gleichgestellt. Und er selbst sah wenig Sinn darin, sich mit einem Kind auseinanderzusetzen, um die von ihnen benötigten Informationen zu erhalten.
Plötzlich hatte er das Gefühl beobachtet zu werden. Er schaute sich um und sah nur einige Meter entfernt auf dem Bürgersteig einen kleinen Jungen mit seinem Fahrrad stehen. Das Kind musterte ihn aus klaren, wasserblauen Augen.
„Wollen Sie zu Mum?”, fragte er stirnrunzelnd.
„Bist du Jeremy Fielding?”, stellte der Major die Gegenfrage und bemühte sich, diesem wandelnden Meter freundlich zuzulächeln.
Der Kleine nickte. „Und wer sind Sie?”
„Ich heiße Liam Kincaid. Freut mich, dich kennen zu lernen.”
Wieder starrte ihn das Kind unverwandt an. „Also, wollen Sie jetzt zu Mum?”
„Weißt du, eigentlich wollte ich zu dir.”
„Mum sagt, ich soll nicht mit Fremden reden.”
Der Companion-Beschützer seufzte innerlich, zog seinen Ausweis heraus und hielt ihn dem Knirps hin. Dieser jedoch zeigte sich unbeeindruckt. Siedend heiß fiel dem Major ein, dass der Kleine ja noch gar nicht lesen konnte. „Ich bin Companion-Agent”, erklärte er schnell.
Wieder runzelte der Junge die Stirn (vielleicht hatte er sich das von seinem Vater abgeschaut), schob dann gewissenhaft sein Fahrrad zum Haus und schloss es sorgfältig an. Dann kam er zurück, blieb ein paar Schritte vor Liam stehen und sah ihn erwartungsvoll an. Dieser schaute sich suchend um und setzte sich, als er keine andere Sitzmöglichkeit entdeckte, einfach auf den Bordstein. Jeremy ließ sich mit gewichtiger Miene neben ihm nieder. Offenbar gefiel es ihm, dass ein Angestellter der Companions extra für ihn hierher gekommen war.
„Deine Mum ist ziemlich beschäftigt, was?”
Der Kleine zuckte die Achseln. „Sie arbeitet viel.”
„Erzählt sie manchmal davon, was genau sie macht?”
Jeremy sah zu ihm auf. „Fragen Sie sie doch selbst.”
Liam seufzte. „Hör mal, wir befürchten, dass deine Mutter in Schwierigkeiten steckt. Weißt du, ob deine Mutter vor irgendwas oder irgendwem Angst hat?”
Der Junge presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Weißt du es nicht oder darfst du es nicht sagen?”
Jeremy schüttelte nur wieder den Kopf.
Nun gut, er würde seine Taktik ändern müssen. „Du willst deine Mum doch beschützen, nicht wahr?”
Das Kind nickte zögerlich und sah ihn misstrauisch an.
„Weißt du, ich wollte meine Mutter auch schützen, aber es ist mir nicht gelungen. Vielleicht hätte ich sie retten können, wenn mir jemand geholfen hätte.”
Der Kleine scharrte leicht mit den Füßen über den Asphalt. „Was ist denn mit Ihrer Mum passiert?”
Wie erklärte man einem Kind CVIs und ihre Zusammenbrüche? „Sie ... ist sehr krank geworden.”
„Tut mir leid.”
Überrascht sah Liam auf den blonden Haarschopf neben sich hinab. Wirkliche Anteilnahme hatte er nur von Augur und Lili bekommen. Von einem kleinen Kind hätte er es allerdings nicht erwartet.
„Aber meiner Mum wird nichts passieren. Bald ist alles vorbei und es geht uns gut.”
Am liebsten hätte Liam gefragt ‚Was ist vorbei?’, aber damit hätte er das Kind wahrscheinlich nur wieder zum Schweigen gebracht. Zum Glück bestätigte sich seine Vermutung, dass der Junge von selbst fortfahren würde, wenn er wollte.
„Bald kriegt Mum ganz viel Geld und dann können wir hier weg und Mum muss nicht mehr mit der komischen Frau reden.”
„Hat deine Mutter Angst vor der komischen Frau?”
Die wasserblauen Augen bohrten sich in seine. „Mum hat vor nichts Angst!”
„Hast du die komische Frau mal gesehen?”
Jeremy nickte heftig. „Sie und ein Mann waren neulich hier und wollten zu Mum.”
„Haben sie ihren Namen gesagt?”
Wieder nickte das Kind.

 
* * *
 

To'ar hatte gerade verkündet, dass seine Testergebnisse falsch seien, als ein großer Aufruhr durch das Gemeinwesen ging. Ein Fehlurteil der Synode waren seine Artgenossen nicht gewohnt. Zumindest nicht, dass es wieder aufgehoben wurde. Die anderen Synodenmitglieder sahen ihn erwartungsvoll an. Feierlich erhob er sich und sprach, wobei er seine Worte mit Gesten unterstrich: „Aufgrund der neuen Beweislage hebe ich das Urteil gegen Da'an auf. Ich nehme hiermit das über ihn verhängte He'sha'ji zurück.” Damit ließ er einen geistigen Aufruf durch das Gemeinwesen hallen und seine Artgenossen folgten ihm, streckten ihre geistigen Fühler nach Da'an aus, suchten seinen Geist, um sich wieder mit ihm zu vereinen.
Ein helleres Leuchten glitt kurz über die Körper der anderen Synodenmitglieder, als sie den Kontakt herstellten. Zo'or jedoch hielt seinen Geist verschlossen und beobachtete das Ganze wie aus weiter Ferne.
Morgen würde er Agent Harris damit beauftragen, einen der toten Freiwilligen zu präparieren, so dass selbst die inkompetenten Untersuchungsbehörden der Menschen Beweise für seine Schuld am Tod des Wissenschaftlers finden würden. Einige zum Widerstand gelegte Spuren würden das Ganze abrunden. Nichts würde mehr darauf hinweisen, dass es in seinem Auftrag geschehen war. Einen Augenblick hatte er in Erwägung gezogen, die Companion-Agentin auszuliefern und To'ar einen Defekt an ihrem CVI diagnostizieren zu lassen, aber wer würde To'ar schon in nächster Zeit irgend etwas glauben? Außerdem war diese menschliche Frau sehr nützlich. Ihrer Loyalität konnte er sich sicher sein. Bei Sandoval war er sich da nicht ganz so sicher.
Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als die anderen Synodenmitglieder ihm einen gemeinsamen Beschluss vortrugen: „Wir hatten in letzter Zeit das Gefühl, dass du mit der Fülle deiner Aufgaben etwas überfordert bist. Daher wünschen wir, dass du dein Amt als Companion der UNO abtrittst.”
„Und wen wollt ihr an meine Stelle setzen?”, fragte er mit defensivem Unterton.
Der Sprecher vollführte eine grazile Geste in Richtung des Eingangs. Zo'or blieb fast der Mund offen stehen, als er sah, wer da gerade die Brücke betrat. Re'sha formte den Taelongruß und lächelte kalt, als er vor ihn trat. „Hast du etwas gegen mich als deinen Nachfolger einzuwenden?”
Der Synodenführer wollte sich keine Blöße geben. „Es ist der Wunsch der Synode, dir dieses Amt zu verleihen. Ich beuge mich selbstverständlich dem Wunsch der anderen.”
Re'shas Blick sprach Bände, doch laut sagte er: „Dann wirst du mir sicher nicht einen weiteren Wunsch abschlagen.”
„Sprich ihn aus.”
Der ältere Taelon legte den Kopf ein wenig schräg. „Wenn ich dieses Amt bekleide, werde ich einige Zeit auf der Erde verbringen müssen. Dementsprechend brauche ich einen Beschützer.”
„Es steht dir frei, einen zu wählen.”
„In diesem Fall wähle ich Agent Melanie Harris.”
Zo'or musste sich sehr zusammenreißen, um keine deutlich erkennbare Reaktion zu zeigen. „Agent Harris hat bereits eine Beschäftigung als Sandovals Assistentin.”
„Agent Sandoval ist selbst implantiert und wird wohl kaum die Hilfe eines weiteren Implantanten benötigen. Es stehen ihm außerdem genügend Freiwillige zur Verfügung.”
Innerlich fluchte der Synodenführer, doch diesen Wunsch konnte er Re'sha leider tatsächlich nicht abschlagen. Jedenfalls nicht, ohne die Aufmerksamkeit seiner Widersacher auf sich zu ziehen. „Gut, ich werde sie morgen früh über ihre neue Aufgabe informieren.”
„Ich danke dir, Zo'or.” Mit einem letzten, kühlen Lächeln verließ Re'sha die Brücke wieder. Zo'or sah ihm nach.

 
* * *
 

Immer noch lag er schlafend unter dem Regen aus blauem Licht, das Gesicht leicht zur Seite gewandt, die Augen geschlossen. Sanft strich sie mit dem Daumen über seinen Handrücken. Was Taelons wohl träumten? Ob Taelons überhaupt träumten? Im Grunde wusste sie so wenig über ihn und seine Spezies ...
Früher hatte sie sich nie solche Gedanken darüber gemacht. Die Taelons waren einfach Feinde, die bekämpft werden mussten. In ihrer Marine-Ausbildung hatte man ihr beigebracht, so wenig wie möglich darüber nachzudenken, dass auch Feinde Familien hatten, dass um jeden einzelnen, den sie tötete, getrauert wurde. Dass auch Feinde Kinder hatten, die um ihre Eltern weinten. Dass auch Feinde diesen Krieg eigentlich nicht wollten, nicht töten wollten und alles dafür geben würden, in Frieden leben zu können. Dass sie alle im Grunde nur Opfer der diplomatischen Inkompetenz ihrer Regierungen waren.
Doch ihre Ausbildung lag lange zurück. Ihr Leben hatte sich geändert, sie hatte sich verändert. Sie begann sich mehr und mehr zu fragen, was die Taelons empfanden, welche Motive sie für ihre Handlungen hatten, was sie in diesen Krieg mit den Jaridians getrieben hatte.
Plötzlich öffnete Da'an die Augen, richtete sich auf und deaktivierte den Energiestrom. Noch bevor Lili etwas sagen konnte, leuchtete sein Körper hell auf. Er legte den Kopf in den Nacken, presste die Augen wieder zusammen und ein tiefer Seufzer entfuhr ihm. Durch die geistige Verbindung fühlte Lili, was vor sich ging.
Es war als würde eine Woge aus Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen ihn erfassen und hoch heben, immer höher, dem Himmel entgegen. Dann begann sich sein Bewusstsein mit dem der anderen zu vereinen, wie ein Regentropfen, der in den Ozean zurückkehrte. Unwillkürlich zog Lili die Hand zurück und unterbrach die Verbindung. Eine unglaubliche Angst, sich selbst in diesem Meer zu verlieren, hatte von ihr Besitz ergriffen.
Unruhig beobachtete sie, wie das strahlend helle Leuchten allmählich abnahm, bis es seine normale Intensität wieder erreicht hatte. Der Companion wandte den Kopf ein wenig zur Seite und nahm seine menschliche Fassade an. Dann öffnete er wieder die Augen und sah sie mit einem sanften Lächeln an.
„Haben sie das Urteil aufgehoben?”, fragte sie leise.
Da'an neigte den Kopf. „Ich bin wieder Teil des Gemeinwesens.”
Lili sah traurig zu Boden. Dann hieß es also bald Abschied nehmen. Er hatte Glück, er konnte zurückkehren zu seinem alten Leben, während sie hier bleiben musste, sich verstecken musste vor der Welt. Sie zwang sich zu einem Lächeln und hob den Blick. „Gut. Dann kontaktiere ich Boone, damit er dich in die Botschaft zurückbringt.” Damit erhob sie sich und ging zu einem Terminal hinüber. Im holographischen Bilderzeuger flackerte eine Gestalt auf. Eine junge Frau in einem schwarzen Overall, mit langen dunklen Haaren, strahlend blauen Augen und einem sanften Gesichtsausdruck lächelte sie an. Offenbar hatte Augur eine neue Holo-Figur programmiert. Irgendwie kam sie Lili bekannt vor.
„Kann ich Ihnen helfen?”, fragte die junge Frau freundlich.
„Kontaktiere bitte Boone über eine verschlüsselte Frequenz”, bat Lili und betrachtete stirnrunzelnd die kleine Gestalt.
„In Ordnung.” Die Holo-Figur machte eine Geste und verschwand wieder.
Immer noch stirnrunzelnd wandte sich Lili dem Terminal zu. Einen Augenblick später erschien Boones Gesicht auf dem Bildschirm.
„Lili, was ist denn?”, fragte der Companion-Beschützer überrascht.
„Die Synode hat gerade das Urteil aufgehoben. Jetzt muss nur jemand Da'an in seine Botschaft zurückbringen.”
„Ich bin unterwegs.” Damit trennte er die Verbindung.
Lili ließ den Blick noch einen Moment auf dem holographischen Bilderzeuger ruhen, dann vertrieb sie diese Gedanken mit einem Kopfschütteln, wandte sich um und ging zu Da'an zurück.

 
* * *
 

Lautes Klingeln riss sie aus dem Tiefschlaf. Immer noch rauschte der Regen draußen und trübes Licht fiel durch das Fenster. Schlaftrunken verließ sie ihr Bett und stolperte zur Wohnungstür. Als sie öffnete, stand ihr ... Liam gegenüber.
„Major Kincaid. Kann ich Ihnen helfen?”, fragte sie und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Kann ich reinkommen?” Seine Stimme klang irgendwie seltsam.
Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn eintreten. Dann bat sie ihn ins Wohnzimmer und bot ihm einen Platz an. Er schüttelte ruckartig den Kopf und starrte sie nur indigniert an. Der Blick ließ sie frösteln.
„Warum sehen Sie mich so an?”
„Sie waren es, nicht wahr?”
Innerlich zuckte sie zusammen. „Ich weiß nicht, was ...”
„Sie wissen sehr wohl, was ich meine”, unterbrach er sie. „Sie waren für die Ausführung zuständig. Aber wer gab den Befehl?”
Sie senkte kurz den Kopf und schloss die Augen. Warum konnte Sie nicht endlich aus diesem Alptraum aufwachen?! Dann hob sie wieder den Kopf und erwiderte seinen Blick mit ausdrucksloser Miene. „Es tut mir leid, ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen.”
„Ich spreche davon, dass Sie einen Menschen getötet haben und beinahe auch einen Taelon!” Bei diesen Worten kam er langsam auf sie zu, bis er so dicht vor ihr stand, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht impulsiv zurück zu weichen. „Ich dachte, Ihr CVI verbietet Ihnen, einem Companion Schaden zuzufügen.”
Sie presste ihre Kiefer zusammen, um sich zu beherrschen.
„Meinen Glückwunsch, Sie haben uns ziemlich zum Narren gehalten. Boone hat Sie sogar um Unterstützung bei der Aufklärung des Falles gebeten. Welch Ironie!” Er schnaubte verächtlich. „Die Mörderin hilft bei der Untersuchung des Mordfalles.”
Sie sah ihn kalt an. „Und was gedenken Sie jetzt mit Ihrem angeblichen Wissen zu tun?”
Mit leicht zusammen gekniffenen Augen erwiderte er ihren Blick. „Vielleicht gehe ich ja zur Polizei.”
„Das glaube ich kaum.” Ein spöttisches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. „Was immer ich getan haben soll, kann ich nur im Auftrag der Companions getan haben, da ich ein CVI trage. Sie würden das Vertrauen der Taelons verlieren, wenn Sie etwas an die Öffentlichkeit dringen ließen. Und selbst wenn Sie die Informationen anonym weiter gäben: Glauben Sie nicht, ich würde für mich behalten, dass Sie hierher gekommen sind, um mir zu drohen! Andererseits ... wenn ich Zo'or berichte, dass Sie über diese Sache bescheid wissen und es für sich behalten, würde sein Vertrauen in Sie um einiges wachsen.”
„Sie versuchen, mit mir zu verhandeln?”, fragte Liam mit Abscheu in der Stimme.
„Wenn Sie es so nennen wollen. Ihre Stellung bei den Taelons ist nicht die beste, Major. Und was würden Sie schon damit erreichen, wenn Sie mich ausliefern? Die Taelons würden alles abstreiten und behaupten, mein CVI habe eine Fehlfunktion. Ich würde verschwinden und an meine Stelle würde ein neuer Implantant treten.”
„Ich bin sicher, die Synode wäre dennoch sehr interessiert daran, was für Intrigen ihr Anführer spinnt.”
Diesmal war sie es, die einen Schritt näher an ihn herantrat, so dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. „Ich warne Sie, halten Sie sich da raus. Dieses Spiel um Macht hat bereits seine ersten Opfer gefordert.”
„Dann wird es Zeit, dass dem jemand ein Ende setzt.”
„Sie überschätzen sich selbst, Major. Was geschehen wird, können Sie nicht aufhalten!”
Leichte Überraschung spiegelte sich in seiner Miene. „Und was wird geschehen?”
Abrupt drehte sie sich um, ging zur Wohnungstür und öffnete sie. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt gehen würden!”
„Das ist noch nicht vorbei!”, zischte er leise.
„Doch, das ist es!” sagte sie scharf. Damit schloss sie die Tür hinter ihm. ‚Es tut mir leid, Liam’, fügte sie in Gedanken hinzu. ‚Aber was soll ich tun?'

 
* * *
 

Während sie verbunden waren, hatten sie schon nicht viel miteinander gesprochen; der Austausch von Gedanken und Gefühlen hatte die Worte ersetzt. Doch das Schweigen, das jetzt zwischen ihnen herrschte, wirkte so distanziert, dass Lili das Gefühl hatte, sie seien sich völlig fremd. Dabei kannten sie einander besser als manche Freunde, die ihr Leben zusammen verbracht hatten. Oder zumindest kannte er sie inzwischen besser als jedes andere Lebewesen. Was in ihm vorging, wusste sie allerdings immer noch nicht. Im Gegenteil, er schien sogar noch undurchschaubarer zu sein als früher. Und dennoch begann sie, die geistige Verbindung zu vermissen. Zwar war es für sie ungewohnt, in ihren Gedanken nicht allein zu sein, doch nachdem sie so viele Stunden verbunden gewesen waren, kamen ihr ihre eigenen Gedanken unnatürlich laut, hart und klar vor. Als würden sie durch einen leeren, einsamen Raum hallen. Sicher waren das ganz normale Nachwirkungen einer geistigen Verbindung. Vielleicht war es vergleichbar mit den Nachwirkungen eines Weltraumaufenthalts ohne die durch Taelon-Technologie künstlich erzeugte Schwerkraft: Man musste erst wieder das Laufen lernen, weil man sich an den geringen Kraftaufwand gewöhnt hatte. Sicherlich würde sie sich schnell wieder daran gewöhnen, in Gedanken völlig allein zu sein. Doch wenn sie die Umstellung nach einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne schon als ein wenig unangenehm empfand, wie musste es dann erst sein, wenn man sein Leben lang mit anderen Lebewesen verbunden war und plötzlich von ihnen getrennt wurde? Andererseits war sie sich nicht sicher, ob sie sich nicht nur von der Fremdartigkeit des Gefühls angezogen fühlte.
Das Geräusch der Fahrstuhltüren riss sie aus ihren Gedanken. Boone kam herein und nickte ihnen begrüßend zu, bevor er sich an Da'an wandte.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?”, fragte er besorgt.
Der Taelon legte den Kopf leicht auf die Seite. „Es geht mir gut.”
„Das freut mich. Ich habe Liam kontaktiert; er wird uns mit dem Shuttle hinter der Kirche abholen.” Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr. „Was werden Sie der Synode erzählen, wo Sie waren?”
„Nichts. Selbst wenn Sie mich fragen, können Sie mich nicht zu einer Antwort zwingen. Besonders nicht, da ihr Synodenführer ein Interesse daran hat, dass möglichst bald Gras über die Sache wächst.”
„Also wissen Sie mit Sicherheit, dass Zo'or dahinter steckt.”
„Sagen wir, mein Verdacht grenzt an Gewissheit ... obwohl ich den genauen Grund nicht kenne”, fügte er nachdenklich hinzu.
Boones Global unterbrach das Gespräch. Liams Gesicht erschien auf dem Bildschirm. „Ich bin gerade hinter der Kirche gelandet. Beeilen Sie sich bitte etwas, so ein Taelon-Shuttle ist nicht gerade unauffällig.”
„In Ordnung. Wir kommen gleich.” Damit trennte er die Verbindung. „Wir sollten ihn nicht zu lange warten lassen”, meinte er zu Da'an. Der Taelon erhob sich von dem provisorischen Stuhl. Er folgte seinem Beschützer jedoch nicht zum Fahrstuhl, sondern wandte sich Lili zu, die sich ebenfalls erhoben und den Mund geöffnet hatte, als wollte sie etwas sagen. Noch einmal bot er ihr die Hand an und nach kurzem Zögern legte sie ihre Handfläche auf die seine. Ein letztes Mal stellte er die Verbindung her, doch diesmal sandte er ihr in Gedanken ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit.
*Ich weiß nicht, wie ich dir dafür jemals danken soll.*
*Das hast du doch gerade*, meinte sie lächelnd. *Ich denke, wir sind quitt.*
Er erwiderte das Lächeln. *Wir sind mehr als quitt, Lili.* Damit lösten sich ihre Hände voneinander und Da'an folgte Boone, der am Ausgang gewartet hatte. Lili sah ihnen noch eine ganze Weile nach, auch als sich die Aufzugtüren längst hinter ihnen geschlossen hatten.

 
* * *
 

Auch Liam warf dem Companion erst einmal einen besorgten Blick zu, als dieser das Shuttle bestieg und sich in einem der Sessel niederließ. Boone nickte ihm beruhigend zu und setzte sich dann ebenfalls. Da'an war während des Fluges schweigsam, doch offenbar lag dies einfach an Erschöpfung. Der Taelon hatte in den letzten Tagen einiges durchgemacht. Gedankenverloren blickte Da'an durch die Frontscheibe auf die Lichter der Stadt, die unter ihnen hinwegzogen.
Sanft setzte Liam das Shuttle auf der Landefläche in der Shuttle-Bucht auf und drehte sich auf dem Pilotensitz um. „Willkommen zu Hause”, meinte er feierlich.
Da'an erhob sich. „Ich danke Ihnen ... Ihnen beiden für Ihre Mühe.”
„Wozu hat man Freunde?”, erwiderte Liam lächelnd.
Der Companion neigte noch einmal den Kopf und verließ dann das Shuttle. Als Boone ihn begleiten wollte, hob er die Hand. „Sie haben bereits genug für mich getan, Commander. Hier in der Botschaft benötige ich keinen weiteren Schutz.” Damit formte er den Taelon-Gruß und ließ seine beiden Beschützer etwas ratlos beim Shuttle zurück.
Langsam folgte er dem zwielichtigen Gang, der zu seinen privaten Räumen führte. Es war ein angenehmes Gefühl, wieder seine eigene Stärke zu spüren, die Stimmen des Gemeinwesens zu hören, die Gewissheit zu haben, dass es vorerst vorbei war, dass er nicht mehr hilflos der Willkür seiner Widersacher ausgeliefert war, sondern dass er dank seiner menschlichen Freunde wieder in der Lage war, sich selbst zu verteidigen.
Als er die Rampe zu seinem Büro emporstieg, fühlte er bereits, dass einer seiner Artgenossen anwesend war. Er blieb einen Moment am oberen Ende der Rampe stehen und nahm das Bild in sich auf, das sich ihm bot: Der Raum war von einem sanften, bläulichen Glühen erfüllt. Durch das Fenster fielen die Lichter der Stadt herein und malten harte, klare Schatten auf den Boden und die Wände. Ganz vereinzelt waren am Himmel einige Sterne zu sehen.
Vor diesem Meer aus Lichtern, den pulsierenden Adern der Stadt, die selbst noch vom Weltraum aus zu sehen waren, stand ein Taelon, völlig bewegungslos, die Arme kraftlos an den Seiten herunterhängend wie in größter Resignation und Hoffnungslosigkeit, den Blick aus dem Fenster gerichtet, obwohl Da'an sicher war, dass sein ehemaliger Schüler nichts davon wahrnahm, was dort draußen zu sehen war. Er hatte seine menschliche Fassade fallen lassen und seine Energie erschien dunkel, wie von aller Lebenskraft beraubt. Auch Da'an nahm nun seine Energieform an und ging langsam auf den jüngeren Taelon zu, bis er neben ihm stand. Re'sha wandte den Blick nicht von dem Punkt ab, den er fixiert hatte, irgendwo in der Ferne, wo alles verschwamm.
*Ich wollte hier auf deine Rückkehr warten.* Immer noch stand der junge Companion völlig bewegungslos.
Da'an betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Sein ehemaliger Schüler sah erschöpft aus als hätte er eine Last auf sich genommen, die er nicht zu tragen vermochte und die ihn langsam erdrückte. *Ich weiß, ich habe dir viel zu verdanken ...*
*Nein*, unterbrach ihn der jüngere Taelon. *Ich habe nur meine Schuld beglichen.*
*Du standest nie in meiner Schuld*, meinte Da'an sanft. *Aber du hast dich gegen Zo'or gestellt, um mich zu retten. Warum?*
*Ich ... konnte nicht zulassen, dass das geschieht. Nicht noch einmal. Nicht noch jemand, der auf die nächste Ebene überwechselt und ...* Re'sha brach ab.
Da'an streckte die Hand aus und berührte sanft die seine. *Quo'on wäre stolz auf dich.*
*Das war er nie, auch als er noch hier war.*
*Doch, das war er. Auch wenn sein Amt ihm nicht erlaubte, zu viel Emotion einem einzelnen Taelon gegenüber zu zeigen. Nicht einmal seinem Kind gegenüber.*
*Ich verstehe. Ist Zo'or deshalb so kalt geworden?*
Als der ältere Taelon nicht antwortet, fuhr Re'sha fort. *Mit Zo'or habe ich bereits zwei, die mir etwas bedeuteten, an unser Volk und diese Machtposition verloren. Wie dumm von mir zu glauben, er würde vor dem Stuhl des Synodenführers haltmachen, würde umkehren. Ich hätte es besser wissen sollen. Er wollte an die Spitze und er hat sie erreicht. Und damit ist er für mich verloren.*
Da'an erwiderte nichts, nahm nur Re'shas Hand, obwohl bei ihnen kein Körperkontakt nötig war, um Gefühle, Gedanken und Erinnerungen zu übertragen. Es gab keine Worte des Trostes, keine heilende Berührung, es war, wie es war. Sie waren beide gezwungen, einen Kampf zu führen, den sie nicht kämpfen wollten, um nicht unterzugehen. Doch vielleicht waren sie das längst. Vielleicht waren sie dazu verdammt als erste unterzugehen, vielleicht waren sie längst verloren in diesem Spiel um Macht, Leben und Tod.

 
* * *
 

Erschöpft betrat er den Fahrstuhl und fuhr hinunter. Wenigstens hatte er heute den Papierkram für das Flat Planet geschafft und konnte die nächsten Tage etwas ausruhen. Das war der Nachteil, wenn man sein Geld für den Bau einer unterirdischen Zentrale verwendete: Man musste sich „stille” Teilhaber gefallen lassen und vieles selbst übernehmen, wofür er früher jemanden bezahlt hatte. Doch immer wenn er an dieser Sache zweifelte, erinnerte er sich an die junge Frau, die ihn vor zwei Jahren besucht hatte. Im Nachhinein erschien sie ihm wie eine Traumgestalt, ein Wesen von einer anderen Welt, das vielleicht nur seiner eigenen Phantasie entsprungen war. Aber Boone und Lili waren die lebenden Beweise dafür, dass sie existierte, und so tat er, worum sie ihn gebeten hatte, und hoffte darauf, dass es sich eines Tages auszahlen würde.
Die Türen glitten auseinander und er betrat seine Wohnung. Ein Blick zu dem Energiestrom hinüber verriet ihm, dass Da'an nicht mehr da war. Nun, Liam hatte ihn ja informiert, dass die ganze Sache kurz davor stand, aufgelöst zu werden. Offenbar hatte es sich inzwischen erledigt.
Sein Blick fiel auf sein Sofa und er trat leise näher. Lili war offenbar beim Lesen eingeschlafen. Vorsichtig löste er das Buch aus ihren Fingern, bevor es herunterfallen konnte, holte eine Decke und deckte sie damit zu. Dann ging er in die Küche und machte sich etwas zu essen. Während er im Kühlschrank herumsuchte, dachte er über die vergangenen Tage nach. Nach ihrer Rückkehr war Lili sonderbar verschlossen gewesen, aber sie hatte nicht mit ihm darüber sprechen wollen. Insgeheim hatte er gehofft, die Verbindung mit Da'an würde beiden helfen, obwohl er nicht umhin konnte, den Taelon zu beneiden.
Ein leises Geräusch ließ ihn aufschauen. Lili stand mit verschlafenem Gesichtsausdruck in der Tür.
„Gut geschlafen?”
„Ja, danke”, antwortete sie gähnend.
„Wo ist eigentlich Da'an?”
„Wieder in seiner Botschaft. Das Urteil der Synode wurde aufgehoben.”
„Heißt das, ich habe dich jetzt wieder für mich allein?”, meinte er grinsend.
Spielerisch schlug sie nach ihm, aber er wich aus. Doch sie schien nicht zum Scherzen aufgelegt zu sein und so bot er ihr einen Platz am Küchentisch an, während er einen Fisch aus dem Kühlschrank holte und anfing, ihn zuzubereiten. Sie setzte sich und sah ihm zu.
Eine halbe Stunde später saßen sie sich gegenüber und aßen.
„Augur?”
„Ja?”
„Wollen wir nicht nachher spazieren gehen?”
Er verschluckte sich beinahe. „Du meinst draußen?”
„Nein, ich dachte, wir pilgern achtzig Mal um dein Sofa herum. Natürlich draußen!”
„Und was, wenn jemand dich erkennt?”
„Es ist dunkel und ich kann ja eine Kapuze überziehen. Aber ich muss mal hier raus, Augur!” Ihre Stimme war so eindringlich, dass er schließlich nickte.
„In Ordnung. Aber erst wird gegessen. Oder schmeckt es dir nicht?”
„Doch, sehr sogar”, erwiderte sie lächelnd. Dann aßen sie schweigend weiter.
Einige Zeit später traten sie tatsächlich aus einem Nebeneingang der St. Michael's Church und Lili blieb einen Moment stehen, um die kühle Nachtluft einzuatmen. „Ich hatte fast vergessen ...” Sie brach ab und schüttelte lächelnd den Kopf. „Danke, dass du mitkommst”, sagte sie statt dessen.
„Keine Ursache. Es war schon immer mein Traum, nachts mit dir spazieren zu gehen”, meinte er breit grinsend. Wieder schlug sie spielerisch nach ihm und als er diesmal auswich, ließ sie sich auf eine kleine Verfolgungsjagd ein.
Im Laufe des Abends schaffte er es sogar, sie endlich mal wieder zum Lachen zu bringen, obwohl die ganze Zeit etwas Trauriges an ihr war. Nun, wenn sie mit ihm darüber reden wollte, würde sie es tun. Das hoffte er zumindest. Doch irgend etwas sagte ihm, dass er nicht derjenige war, mit dem sie reden wollte.

 
* * *
 

Wieder weckte sie ein Klingeln, doch diesmal war es ihr Global, das sie aus dem Schlaf riss. Verschlafen tastete sie nach dem Wecker und bemühte sich, die Digitalanzeige zu erkennen. Es war 5 Uhr morgens. Leise fluchend stieg sie aus dem Bett und folgte dem penetranten Geräusch. Nicht dass sie sonderlich gut geschlafen hätte, aber trotzdem - oder gerade deswegen - wünschte sie, der Anrufer hätte zumindest noch eine Stunde gewartet.
Endlich hatte sie das Global aus ihrer Jackentasche gefischt und nahm den Anruf entgegen. Zo'or starrte sie mit leicht verärgertem Gesichtsausdruck an.
*Was erwartet der eigentlich, wenn er zu einer solch gottlosen Zeit anruft?*, meinte Melanie und Liana musste sich zwingen, eine ernste Miene zu wahren.
„Kommen Sie unverzüglich aufs Mutterschiff!”, befahl der Synodenführer in scharfem Tonfall und beendete gleich wieder die Verbindung.
Verblüfft starrte sie auf das leere Display, dann klappte sie das Global zu und ließ es zurück in die Jackentasche gleiten.
*Was will er jetzt schon wieder?*
*Keine Ahnung, aber es wird schon nichts Gutes sein.*
Damit ging sie ins Badezimmer, duschte und zog sich an. Zehn Minuten später war sie auf dem Dach und stieg in das Shuttle, das sie zeitweilig dort abgestellt hatte.
Fliegen war eines der schöneren Dinge ihres neuen Lebens. Auch wenn die Flüge nie sehr lange dauerten, genoss sie doch jede Sekunde, die sie allein im Shuttle war. „Am Himmel brauchen wir nicht die alltäglichen Spielchen zu spielen, nicht zu lächeln, wenn uns gar nicht nach Lächeln zumute ist, nicht auf die Stolpersteine zu achten, die uns andere in den Weg legen. Erst wenn es uns gelingt, die Füße vom Boden der Tatsachen zu lösen, wenn wir uns einem Traum so vollkommen und ganz hingeben können, dass er uns vor der Realität schützen kann, wenn wir uns von allem lösen, was uns am Erdboden festbinden will, wenn wir für eine Weile in der Einsamkeit etwas Schönes finden können, dann erst sind wir wirklich frei.” Das CVI rief ihr Wort für Wort die Textstelle aus ihrem Lieblingsbuch in Erinnerung, während sie das Shuttle abheben ließ und zum Mutterschiff hinauf flog.
Freiheit. Doch sie währte nie lange, so als versuchte sie sich flügelschlagend vom Boden zu lösen und würde doch immer wieder zurück zur Erde fallen und mitten in der Realität aufschlagen, in der die Intrigen wie riesige Netze gesponnen wurden, um die zu fangen, die man als Gegner betrachtete. Doch „Gegner” oder „Feind” war ein Ausdruck, der darüber hinwegtäuschte, dass damit manchmal auch Verwandte und frühere Freunde gemeint waren. Die Vorstellung war zugleich absurd und erschreckend, jemandem, der einem nahe stand, schaden zu wollen. Und alles drehte sich nur um eins: Macht.
Gedankenversunken sah sie durch die Frontscheibe, wie die Sonne hinter dem gekrümmten Horizont aufging, während das Shuttle höher und höher stieg. Das erste Licht eines neuen Tages fiel auf die Länder unter ihr, während sie allmählich in die Dunkelheit des Universums hinauf flog.
*Hey*, flüsterte Melanie Liana in Gedanken tröstend zu, *Das Universum ist voller Licht. Wir können es nur nicht sehen.*

 
* * *
 

Kaum zu glauben, dass sie sich einst so nahe gestanden hatten, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie alles teilten ... ihre Träume, ihre Freude, ihren Kummer. Nun hatten sie sich so weit voneinander entfernt, dass es unmöglich schien, jemals wieder die alte Vertrautheit zwischen ihnen herzustellen. Irgendwie schien der Weltraum plötzlich noch leerer als sonst und die Sterne noch weiter entfernt.
Doch Re'sha verstand nicht, warum er es getan hatte, was für ihn auf dem Spiel stand. Alles, wofür er ein Leben lang gekämpft hatte, alles, was er erreicht hatte, hätte er für immer verloren. Dachte Re'sha etwa, es hätte ihm gefallen, dieses Urteil gegen seinen Chi'ma'hé auszusprechen? Was hätte er denn tun sollen? Da'an hatte seiner eigenen Spezies ganz offenbar den Rücken gekehrt. Musste er gezwungenermaßen folgen, nur weil er sein Kind war?
Seine Gedanken wanderten zurück ... zurück zu einer Zeit, die er manchmal wieder herbeisehnte. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem dieser Taelon, nur wenig älter als er selbst, zu seinem Chi'ma'hé gekommen war, um sein Schüler zu werden. Er war schon damals ernst und ein wenig melancholisch gewesen, doch Zo'or hatte schnell bemerkt, dass er auch unglaublich stur sein konnte. Das schienen sie gemeinsam zu haben.
Er wurde aus seinem Gedankengang gerissen, als Sandovals Assistentin vor seinen Stuhl trat und mit einer leichten Verneigung den Taelongruß formte.
„Da sind Sie ja endlich”, begrüßte er sie in eiskaltem Ton. „Hier sind Ihre neuen Anweisungen.” Dabei gab er ihr eine kleine Disk. „Behandeln Sie die Angelegenheit wie immer vertraulich.” Als sie sich schon zum Gehen wenden wollte, rief er sie zurück. „Sie sind ab heute nicht mehr Agent Sandovals Assistentin.”
Überrascht wandte sie sich um. „Warum? Habe ich meine Aufgaben nicht zu Ihrer Zufriedenheit erfüllt?”
„Der neue Companion der UN hat Sie als seine Beschützerin ausgewählt”, antwortete er knapp und vollführte eine Geste, um sie endgültig zu entlassen, doch sie blieb weiterhin stehen.
„Und wer wird das sein, wenn ich fragen darf?”
„Der Taelon, der mich in den letzten Tagen vertreten hat”, antwortete eine Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum und sah Da'an ruhig im Eingang der Brücke stehen. Auch ihn begrüßte sie mit einer leichten Verneigung und dem Taelongruß.
„Ich bin froh, Sie wohlbehalten wiederzusehen, Da'an”, sagte sie und lächelte leicht.
Er neigte den Kopf. „Vielen Dank. Und ich hoffe, Ihre neue Aufgabe wird Ihnen gefallen.”
„Das wird sie bestimmt, aber vorher muss sie noch einiges für mich erledigen”, fuhr Zo'or dazwischen und erntete dafür einen vielsagenden Blick von seinem Chi'ma'hé. Doch Agent Harris nickte Da'an noch einmal kurz zu und verließ dann die Brücke.
Der nordamerikanische Companion trat näher an sein Kind heran. „Du zeigst keine besondere Freude darüber, dass ich zurück bin.”
„Natürlich freue ich mich, dass du wohlbehalten bist. Doch ich kann mich durch meine Gefühle nicht von meinen Pflichten abhalten lassen.”
Da'an sah ihn so durchdringend an, dass es ihm unangenehm wurde. „Hätte ich nicht über deine Pläne für mein Projekt schweigen müssen, wäre der Verdacht nicht auf mich gefallen. Ich hätte ihnen erklären können, warum Dr. Reed nach unserem Gespräch so aufgebracht war. Dass ihm das Projekt entzogen und einem Wissenschaftler übertragen werden sollte, den wir besser mit Geld für uns einnehmen konnten, um in eine etwas andere Richtung forschen zu lassen.” Der ältere Taelon begann, langsam um den Stuhl des Synodenführers herum zu laufen. „Was meinst du hätte die Öffentlichkeit dazu gesagt, dass du diesen Wirkstoff bei bereits hoch intelligenten Menschen anwenden willst, um sie für unseren Kampf gegen die Jaridians neue Waffen entwickeln zu lassen?”
„Es sollte nur in ihrem Interesse sein. Immerhin geht es um die Verteidigung ihres eigenen Planeten.”
„Den sie gar nicht verteidigen müssten, hätten wir auf Ma'els Warnungen gehört und wären nicht hierher gekommen!”
„Aber wir sind nun einmal hier und die Jaridians wissen das! Und du scheinst den Aufenthalt auf der Erde doch sehr zu genießen dafür, dass es dir lieber wäre, wir wären nie hierher gekommen.” Dabei maß Zo'or seinen Chi'ma'hé mit einem abschätzigen Blick.
„Wir hätten die Menschen von Anfang an als gleichwertige Wesen betrachten sollen, nicht als eine uns unterlegene Spezies. Wir hätten sie als Verbündete gewinnen können.”
„Wir hätten, wir hätten! Haben wir aber nicht und selbst wenn, bezweifle ich, dass die Menschen unsere Situation verstehen würden. Sie leben ihr eigenes, lächerliches Leben, kümmern sich um ihre eigenen, lächerlichen Probleme. Meinst du, sie hätten sich in der Zeit, in der wir auf ihrem Planeten sind, in irgend einer Weise geändert? Das haben sie nicht! Bis vor ein paar Jahren haben sie Kriege gegeneinander geführt mit solch nichtigen Begründungen wie Streitigkeiten in Glaubensfragen! Sie wären nicht in der Lage, in größeren Maßstäben zu denken und zu begreifen, dass dort draußen ein Machtkampf stattfindet, der ganze Spezies auslöscht! Sie hätten uns davongejagt, wären wir als Bittsteller statt als überlegene Besucher aus dem Weltraum aufgetreten! Sie verstricken sich in ihre eigenen, lachhaften Konflikte um Religion, Geld, Territorien, oder um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Wären wir als aussterbendes Volk zu ihnen gekommen, hätten sie für ihre Hilfe eine Gegenleistung verlangt! Nun, statt dessen sind wir als überlegene Spezies zu ihnen gekommen, haben viele ihrer Probleme gelöst, doch wenn wir offen eine Gegenleistung verlangten, würden sie uns zum Teufel jagen!” Zo'or war aufgesprungen und hatte sich zunehmend in Rage geredet.
Da'an sah sein Kind traurig an. „Vielleicht hätten sie das, ja. Doch ich habe gesehen, dass sie zu großem Mitgefühl fähig sind, und es ist bedauerlich, dass wir nie den Versuch unternommen haben, es ihnen zu erklären.” Er senkte den Blick für einen Moment und sah dann aus dem Fenster in den Weltraum. „Aber sie sind längst Teilnehmer an diesem Krieg, auch wenn es ihnen nicht bewusst ist. Und wenn es ihnen bewusst wird, wird sich ihr Zorn gegen uns richten ... nicht gegen die Jaridians. Denn wir haben sie in diese Lage gebracht.” Damit wandte er sich ab und verließ die Brücke.
Der Synodenführer ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl sinken und starrte ins Leere.

 
* * *
 

Ekel stieg in ihr auf, als sie den schlaffen Körper auf das zerschlissene Sofa fallen ließ. Schwer atmend strich sie sich eine Strähne aus der Stirn, die sich aus dem Haarband gelöst hatte. Mit aller Macht versuchte sie, nicht darüber nachzudenken, was sie hier tat. Die Plastikhandschuhe klebten unangenehm an ihren Händen. Sie schwitzte, trotz der kalten Morgenluft. Nachdem sie wieder etwas Atem geschöpft hatte, setzte sie den Rucksack ab, den sie bis jetzt mit sich herumgetragen hatte, und zog ein Fläschchen und ein eingeschweißtes Injektionsbesteck heraus. Mit erschreckender Präzision zog sie das Gift auf, stach die Nadel in die bloße Armbeuge des Mannes und injizierte ihm das Mittel. Ohne die Nadel wieder herauszuziehen, nahm sie die andere Hand des Mannes und drückte seine Finger gegen die Spritze und die Ampulle. Auch auf dem Abschiedsbrief und dem Kugelschreiber hinterließ sie seine Fingerabdrücke. Die wirklich Todesursache würde man nicht herausfinden. Dafür waren die Taelons und ihre Helfer viel zu raffiniert. Wahrscheinlich würde die Leiche erst in einigen Tagen entdeckt werden. Wer in einer Kellerwohnung lebte, hatte wohl niemanden, der sich um ihn sorgte.
Sie sah in das bleiche Gesicht, während sie den Brief sorgfältig zusammenfaltete und auf einen niedrigen Sperrholztisch legte. Er war nur ein Mittel zum Zweck. Eine leere Hülle, die ihre Aufgabe erfüllen und dann für immer verschwinden würde. Nur eine weitere Requisite in diesem Theaterstück. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie ebenso enden würde ... als kaltes Stück Fleisch in einem Keller, für die Ziele anderer benutzt und schließlich weggeworfen.
Sie vertrieb diese Gedanken und konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe. Langsam bekam sie Übung darin, Beweise zu fälschen.
Eine Stunde später war sie wieder auf dem Mutterschiff, das Shuttle stand im Hangar, als wäre sie nie weg gewesen. Während sie neben Zo'ors Stuhl auf der Brücke stand und auf neue Anweisungen wartete, dachte sie über die Theorie nach, dass man nichts, aber auch rein gar nichts tun konnte, ohne Spuren zu hinterlassen. Als hinterließe man überall, wo man war, eine Brandmarke, etwas, dass diesen Ort ein winziges bisschen veränderte, so dass er nie mehr derselbe sein würde, der er vorher war. Für menschliche Augen war es größtenteils unsichtbar, aber vielleicht gab es andere Wesen, die diese Spuren sehen konnten. Und vielleicht würde jemand die Spuren entdecken, die sie hinterlassen hatte ... vielleicht nicht heute oder morgen oder in der nächsten Woche ... aber vielleicht würde irgendwann irgendwer die Spuren erkennen, die sie hinterlassen hatte ... während sie hier war.

 
* * *
 

Als Commander Boone die Brücke betrat, stand Agent Harris an einer Konsole und bearbeitete Daten. Sie sah kurz auf, kehrte jedoch sofort wieder zu ihrer Arbeit zurück, als sie ihn erkannte. Als wollte sie den Blickkontakt vermeiden. Es war nicht einmal besonders überrascht gewesen, als Liam ihm davon erzählt hatte, wie sie in die ganze Geschichte verwickelt war. Wut und Mitleid stritten in ihm. Es ähnelte dem Gefühl, dass er gehabt hatte, als er herausfand, dass Sandoval seine Frau hatte umbringen lassen. Er wusste, ihre Loyalität galt den Taelons, bis zur letzten Konsequenz, aber er wusste nicht, wieviel Entscheidungsfreiheit einem „echten” Implantanten blieb. Sicher war nur, dass sie eine ebenso große Gefahr darstellte wie Sandoval.
Äußerlich ruhig trat er vor Zo'ors Stuhl und grüßte den Taelon ehrerbietig. „Sie haben mich rufen lassen?”
„Ja. Es wurde eine weitere Pressekonferenz für heute Abend angesetzt. Sie und Agent Sandoval werden die Sicherheitsvorkehrungen übernehmen.”
„Wird außer Ihnen noch ein Taelon anwesend sein?”
„Nein, ich denke, das ist nicht nötig.”
„Was ist mit Da'an? Die Presse wird sicher großes Interesse daran haben, ihn zu befragen.”
Zo'ors Augen nahmen einen verärgerten Ausdruck an, als er ihn anstarrte wie ein Insekt, das er am liebsten zertreten würde. „Und genau aus diesem Grund wird er nicht an der Pressekonferenz teilnehmen”, antwortete er gefährlich ruhig. Mit einer abgehackten Geste entließ er ihn.
Als Boone sich umwandte und die Brücke verließ, fing er noch einmal kurz Agent Harris’ Blick auf. Ihre Miene war emotionslos, wie aus Stein gemeißelt.

 
* * *
 

Am Horizont türmten sich dunkle Wolken auf und die Bäume in dem kleinen Park der Botschaft wurden von einem kräftigen Wind durchwühlt. Er war also wirklich wieder „zu Hause”, wie sein jüngerer Beschützer es bezeichnet hatte. Zu Hause ... wo war das? Sein wahres Zuhause hatte er vor langer Zeit verloren und seitdem hatte er sich an keinem Ort wirklich zu Hause gefühlt. Diese Botschaft war sein Arbeitsplatz, das Mutterschiff in gewisser Weise ebenfalls, obwohl er sowohl hier als auch dort private Quartiere besaß, in die er sich zurückziehen konnte. Doch er sah nicht mehr darin als einfache Räume, in denen er sich aufhielt, wenn er nicht gestört werden wollte. Dieses Gefühl, zu Hause zu sein, war mit dem Planeten Taelon gestorben.
Andererseits ... dieser fremdartige, faszinierende Geist ... in der geistigen Berührung hatte er einen Teil der Ruhe gefunden, nach der er sich sehnte. Auch wenn er wusste, dass er sie eigentlich verachten sollte für ihren Versuch, das Mutterschiff zu zerstören und ihm damit eine weitere Grundlage zu entziehen, weiteren Halt zu nehmen. Doch hatte sie ihm nicht neuen Halt gegeben? Obwohl sie nicht sicher sein konnte, ob er ein weiteres Black Out haben würde? Obwohl er sie ohne weiteres hätte töten können? Sie hatte ihm damit großes Vertrauen entgegen gebracht, obwohl er es nicht erwidern konnte. Jedenfalls nicht völlig. Die Dinge, die sie teilen konnten, waren offenbar sehr begrenzt.
Ein Lächeln glitt über seine Züge, als er daran dachte, wie fasziniert sie gewesen war von der Art, wie er seine Umwelt wahrnahm. Was für ihn alltäglich war, erschien ihr wundervoll fremdartig. Ebenso empfand er die Dinge, die für sie alltäglich waren. Wahrscheinlich war dies die seltsamste Freundschaft, die er je gehabt hatte, doch es gab vieles, das sie einander zeigen, das sie von einander lernen konnten. Ihre Art faszinierte ihn. Das Pflichtbewusstsein gegenüber denjenigen, die ihr nahe standen, die vollkommene Selbstlosigkeit, zu der sie fähig war. Abgesehen davon, dass sie beinahe einen Teil seiner Spezies vernichtet hätte, hätte sie auch ihr eigenes Leben gegeben ... wahrscheinlich weil sie glaubte, dadurch der Menschheit zu helfen, ihre Freunde zu schützen.
Beschützen ... wenn er sich nicht irrte, spielte das in ihrem Leben eine große Rolle. Vielleicht weil sie sich unterbewusst Vorwürfe machte, ihren Bruder nicht genug beschützt zu haben. Vielleicht war sie dazu verdammt, sich ein Leben lang zu fragen, ob sie ihn hätte retten können, wenn sie nur da gewesen wäre. Ebenso musste Boones Tod auf sie gewirkt haben. Wieder war es ihr nicht gelungen, jemanden, der ihr etwas bedeutete, zu beschützen.
Schwere Tropfen begannen gegen das virtuelle Glas zu schlagen, sich zu Rinnsalen zu sammeln und in komplizierten Mustern an der glatten Fläche herab zu fließen.

 
* * *
 

Das Büro des Companions war leer, als sie sich im Portal materialisierte. Einen Moment blieb sie stehen, dann ging sie langsam zum Fenster hinüber und sah hinaus. New York schien im Regen zu ertrinken und der Central Park war nur undeutlich als verwaschene, grüne Fläche zu erkennen. Ihr Blick verlor sich irgendwo in der Ferne.
*Liana?*, rief Melanie sanft ihre Seelengefährtin. Seit Will plötzlich auf der Brücke aufgetaucht war, war sie sehr still gewesen, hatte sich ein Stück zurückgezogen und Melanie fast die alleinige Kontrolle überlassen. *Was hast du?*
Die Gefühle, die sie von ihrem anderen Ich empfing, beunruhigten sie. Scham, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung ...
Melanies Geist berührte Lianas tröstend, doch ihre Seelengefährtin reagierte nicht.
*Liana!*, rief sie nun eindringlicher.
Endlich tauchte sie aus der Tiefe empor. *Mach dir keine Sorgen. Ich ... habe nur nachgedacht.*
*Worüber?*
Erst nach langem Schweigen antwortete sie: *Ich kann nicht mehr nach Hause.*
Ihr wurde plötzlich eiskalt. *Was?*
*Ich könnte ihnen nicht mehr in die Augen sehen.*
*Aber du musst zu ihnen zurück! Sie sind deine Familie!*
*Die Chancen, in meine Gegenwart zurückzukehren, sind ohnehin sehr gering. Und außerdem...*
*Was außerdem?*, hakte Melanie nach, als sie abbrach, als würde sie nicht die richtigen Worte finden.
*Ich würde dir nie etwas antun.*
Verwirrt wollte sie fragen, was Liana meinte, doch etwas berührte sie am Arm und schreckte sie auf. Als sie den Blick hob, sah sie in Re'shas fragendes Gesicht.
„Verzeihen Sie bitte, ich wollte sie nicht erschrecken. Sie schienen ... in Gedanken versunken.”
Sie bemühte sich zu lächeln. „Schon gut. Ich war wirklich etwas geistesabwesend.”
„Darf ich fragen, was Sie so beschäftigt?”
Die überirdisch blauen Augen schienen in sie hinein zu sehen und sie wurde zunehmend nervös. „Ich ... dachte darüber nach, warum dieses Amt neu besetzt wird. Und warum gerade jetzt.”
Er richtete seinen Blick an ihr vorbei aus dem Fenster. Einen Augenblick lang schien auch er etwas gedankenverloren, doch dann sah er sie wieder an und neigte den Kopf leicht zur Seite. „Vielleicht war es Zeit für eine Veränderung.”
Nach einer Pause fragte sie: „Warum haben Sie mich ausgewählt?”
„Weil ich Sie für sehr kompetent halte.”
Ihr entfuhr ein verächtliches Schnauben. „Sie haben meine Akte gelesen. Bei meiner Vorgeschichte hätte es mich nicht gewundert, wenn ich mein Leben lang Sandovals Assistentin geblieben wäre.”
„Warum? Weil Sie einige Zeit als ‚psychisch labil’ eingestuft wurden?”
„Sie haben ein gutes Gedächtnis.”
Re'sha sah sie lange an und schüttelte dann unmerklich den Kopf. „Sie haben etwas erlebt, dass Sie am Boden zerstörte. Dass Sie es dennoch überstanden haben, ist kein Zeichen für psychische Labilität. Im Gegenteil. Zwar bin ich noch nicht lange auf Ihrem Planeten und kenne Sie erst seit kurzem, aber ich könnte mir keinen anderen Menschen vorstellen, dem ich mein Leben lieber anvertrauen würde.” Damit wandte er sich ab, ging zu seinem Stuhl und ließ sich darauf nieder. Sie verfolgte seine Bewegung schweigend. Was konnte man erwidern, wenn jemand einem so bedingungslos sein Leben anvertraute? Und was sah er in ihr, dass er ihr in solchem Maße vertraute? Ihre Frage hatte er nicht wirklich beantwortet. Es gab kompetentere Leute, die sich um diesen Job gerissen hätten und die nicht erst seit wenigen Wochen für die Companions arbeiteten. Die Auswahl war riesig, also warum wählte er ausgerechnet sie? Nun, vielleicht würde sie zu einem späteren Zeitpunkt eine befriedigendere Antwort bekommen.
„Wir sollten uns darüber unterhalten, welche Aufgaben Ihre neue Arbeit beinhaltet”, meinte er und riss sie damit schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit aus ihren Gedanken.
Sie nickte und verließ ihren Platz am Fenster.

 

Ende von Kapitel 5

 

 

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