Alle in der Stadt kamen damit klar. Zoriel wurde allgemein akzeptiert und schien sich doch recht wohl zu fühlen - Vorjaks Ärger legte sich, sie war immer noch seine Tochter und so verhielt er sich. T'than wurde allerdings erst ein Vierteljahr später über seine neue Atavustochter informiert und zunächst weigerte er sich, sie überhaupt zu treffen - er liess Zoriel eiskalt im Warteraum des Gefängnisses stehen. Harmony bekam davon zunehmend weniger mit, denn sie hatte fürchterlich viel zu tun. Ja, sie konnte ein Shuttle fliegen und wusste, wie dessen Antrieb funktionierte, aber das half ihr nicht dabei, mit einem Propellerflugzeug umzugehen. Mitch als der echte Liam Kincaid mit einer echten militärischen Pilotenlizenz bot ihr zwar an, ihr per Sharing zu zeigen, wie sie es machen musste, doch sie wollte es selbst lernen. Entsprechend büffelte sie und verbrachte die meiste Zeit im Simulator - es machte ja doch Spass. Für Harmony rückte die Welt noch ein Stückchen zusammen, als Le'or mit Cathy und Morris Lennard und den Töchtern Geena und Alice in den washingtoner Vorort zog, in dem auch Familie Kincaid lebte. Nicht dass sie es einfach hatten, denn Ämter, Geistliche und Familienorganisationen setzten ihnen kräftig zu - was für eine ungesetzliche, unchristliche und familiär unzumutbare Dreierkonstellation! Aber die Ämter konnten sich nicht zu sehr querstellen, denn immerhin besass inzwischen auch Ga'hil Beckett (er hatte spontan beschlossen, den Nachnamen seiner Mutter anzunehmen) eine Geburtsurkunde - mit allen drei Eltern drauf. Mit seinem einundzwanzigsten Geburtstag im tiefsten Winter stieg dann auch eine kräftige Party in Clearwater. Ja, der Kimera war jetzt richtig erwachsen! - Diese Tatsache war sogar eine kurze Fernsehmeldung wert.
Harmonys neunzehnter Geburtstag zwei Monate vorher, kurz vor Weihnachten, war demgegenüber viel unspektakulärer gewesen.
Ihre Pilotenausbildung verlief grossartig. Nicht dass sie mit normalen Flugzeugen so viel besser klar kam als die anderen Schüler, aber tatsächlich hatte der Fluglehrer Shuttlesimulationszeit für jeden aufgetrieben: Oh, Harmony war gut! Sie war die einzige, die das simulierte Fluggerät wieder stabilisieren konnte, als die linke Passagestrebe die Energie verlor und nur mehr durch dimensionale Resonanz arbeitete. Nicht einmal der Fluglehrer schaffte das.
Sie war ein Naturtalent! - Mit genetischem Gedächtnis. Prompt wollte die Air Force sie haben, aber sie wollte nicht. Es wäre ja noch schöner, den Vater auch noch als Vorgesetzten zu haben! - Er war zwar bei der Army und nicht bei der Air Force, aber trotzdem, Harmony blieb zivil. Sie wurde aber schon mal für das Passagiershuttleprojekt vorgemerkt und das war etwas zum feiern.
* * *
Zu sechst machten sie die Discos unsicher, Harmony, Zoriel, Jason, Louise, Corinna und Vince. Die Atavus war dabei natürlich menschlich getarnt, wenngleich sie kein Geheimnis daraus machte, was sie war. Das unbändige Staunen rundherum so zu geniessen, das kam definitiv von Zo'or. Von Ariel kam es dafür, mit Jay über die Tanzfläche zu wirbeln - und er konnte wirklich ausnehmend gut tanzen. Harmonys Blick ruhte eher auf dem jungen Asiaten, der schmunzelnd mit einem White And Green Alien Mix am anderen Ende der Bar stand. Natürlich erkannte sie ihn, wenngleich nicht am Gesicht: Seine Ausstrahlung war für sie unverkennbar Kimera, das war Dad. So sah er also als Mensch ohne die genetische Überlagerung aus. Sie prostete ihm mit ihrem ebenfalls vom Kimera-Aussehen inspirierten Drink zu und nippte grinsend daran.
Dass man Alkoholkonsum von Jugendlichen so einfach in den Griff bekam ... einfach einen alkoholfreien Kimera-Drink erfinden und alle wollen ihn haben, genau wie damals den (schwer alkoholischen) Mothership Core Break.
Zoriel bevorzugte dann eben jenen Mothership Core Break und geriet darüber mit dem Barkeeper in Streit über ihr Alter. Ja, Zo'or war tausendvierundvierzig Jahre alt gewesen, doch Ariel wäre gerade vor einer Woche neunzehn geworden - und Zoriel war im Grunde doch noch nicht einmal ein Jahr alt. Schliesslich entschied sich die Atavus für Mezachak und liess Vincent gönnerhaft nippen, er spie auch gleich Feuer davon und verfluchte sie ausgiebig. Diese Charaktereigenschaft kam definitiv von Ariel, die Vince immer wieder auf ähnliche Art geärgert hatte - oder es vielmehr versucht hatte, denn er war im Laufe der Jahre sehr wachsam geworden.
* * *
Harmony blieb die einzige, die von Liams asiatischer Gestalt wusste. Er sagte es niemandem, nicht einmal Jay. Sie wusste genau, es sollte eine Überraschung werden - und Harmony war auch eingeladen: Jays Abschlussball. Allerdings gab es vorher noch andere wichtige Dinge zu tun. Sich endlich für einen Namen zu entscheiden, zum Beispiel, und das, wo Aby schon nicht mehr watschelte, sondern rollte. Drei Wochen lang flogen in jeder freien Sekunde Name um Name hin und her und dann hatten Aby und Liam sich immer noch nicht entschieden, aber dafür ein Baby. Einen ausserordentlich süssen kleinen Matthew, oder Michael, oder Farrell, oder Jonathan („Nein, ich nenne ihn doch nicht nach Doors!”), oder Shawn („Ich hatte einen Grossonkel Shawn, der war Säufer und Schläger!”), oder oder oder ...
Schlussendlich wurde das dann alles nichts, Harmony musste entscheiden und sie entschied: Ihr Bruder hiess Farrell. Ein Glück, dass Mum damals gleich einen Namen festgelegt hatte, sonst hätte Harmony womöglich nach neunzehn Jahren selber noch keinen.
Wie bei Vater und Schwester war auch Farrell nichts Nichtmenschliches anzumerken, seine genetische Ausstrahlung war absolut menschlich, sein Energiekörper versteckt, unauffällig und nicht einmal in einem normalen Interdimensionstomographen auszumachen - nicht dass es jemand von der Neugeborenenstation für nötig hielt, ihn in einen Tomographen zu schieben, aber Harmony wusste, wie schwer Kimera zu erkennen waren. Zu erkennen überhaupt nur, weil die biochemischen Gensequenzer bei den Überlagerungen (fürs Aussehen bei Dad und Farrell, zum Verstecken der Jaridiangene bei Harmony) zu stottern begannen - und das musste man erst einmal wissen. Harmony hatte die folgende Woche praktisch sturmfrei, da Dad so gut wie ständig bei Aby und Farrell im Krankenhaus war, unter anderem auch um hartnäckige Journalisten abzuwimmeln, die es schafften, an den Schwestern vorbeizukommen. Die junge Hybridin wunderte sich aber nicht zu knapp, dass ihr nie Paparazzi auf den Fersen gewesen waren.
Es war wohl so, dass eine Geburt mehr Quoten brachte als ein schon älteres Kind. Bei Harmonys Geburt war ihr Vater ja noch lange nicht General gewesen, sondern noch nur Major.
Die Presse verlor ihr Interesse an Familie Kincaid nach einigen Tagen - es gab schlechte Nachrichten und für die Presse waren schlechte Nachrichten gute Nachrichten: Der Mars wurde von einer Jaridianflotte bombardiert. Vorjak war ausser sich, ebenso Liam, doch sie konnten Niral nicht zur Vernunft bringen. Die Jaridians waren gespalten, die Mehrheit folgte zwar Vorjak, doch durch die immense Anzahl an Jaridians war Nirals Minderheit immer noch mehrere Millionen Kämpfer stark. Zoriel bot sich als Vermittlerin an, denn ewig würden die Energieschilde der Taelonsiedlungen nicht halten. Sowohl Vorjak als auch Da'an sträubten sich heftig, doch natürlich hatte die junge Atavus recht: Sie war der lebende Beweis, dass es Taelons und Jaridians gab, die einander wirklich vertrauten.
* * *
Niral traute dem Kimera genug, um dessen Versprechen, ihn nicht gefangen zu setzen, zu glauben. Er nahm ein Jaridian-Shuttle und flog zur Mondstation. Liam liess Frau und Sohn mit einem eingeweihten Jaridian (er hiess Trigal) in Generalstarnung zuhause und flog als Ga'hil ebenfalls zur Mondstation, er nahm Vorjak, Da'an, Zoriel und Harmony mit. Zwar glaubte er nicht, dass es zu einem Zwischenfall käme, doch falls Zoriel verletzt würde, bräuchte sie Harmonys Hilfe. Niemand sonst war energetisch direkt kompatibel.
Niral war sichtlich nicht wenig überrascht, zwei so junge Frauen zu sehen, als er mit vier Schränken von Jaridians aus seinem Shuttle stieg - und er erkannte Harmony: „Menschenkind des Anführers der Taelonsicherheit, was tust du hier?” „Ich begleite eine gute Freundin, das ist alles.” Da'an unterdessen liess die schlafende Mondstation ganz zum Leben erwachen. Normalerweise waren nur die Hangare und Portalräume mit Energie versorgt, aber jetzt wurden andere Räumlichkeiten gebraucht. Die Station schuf in zwei Gruppen bequeme Sitzgelegenheiten an einer Fensterfront und ausser Nirals Wachen nahmen alle Platz. Zoriel schlug ihre Beine übereinander und fragte: „Was wollen Sie von den Taelons? Noch mehr Grundenergie? Sie können auch einfach fragen!” „Es sind inzwischen vier Spulen, die Grundenergie erzeugen”, fügte Liam hinzu, „die Menge ist also nicht mehr wie vor sieben Jahren durch meine Umwandlungskapazität und jene der Taelons beschränkt.” Niral schien den Kimera kaum wahrzunehmen, er hatte seinen Blick starr auf die Atavus gerichtet. „Was bist du?”, knurrte er schliesslich.
„Zoriel Marquette, Tochter von Vorjak, Lili Marquette, Da'an und T'than”, antwortete sie.
Er sprang auf und wich deutlich angewidert zurück. „Atavus!”, spie er das Wort aus, „Taelonfreund Vorjak hat sich also mit gleich zwei Taelons eingelassen ... und das schon vor so langer Zeit!” „Nein, Niral”, lächelte sie freundlich, „ich wurde nicht geboren. Ich existiere dank einer dauerhaften Verschmelzung von Ariel Marquette und Zo'or.” Zo'or zu erwähnen war keine gute Idee gewesen. Niral stürzte mit tiefrot glühendem Shaqarava durch den Raum, Zoriel brachte sich eilig hinter ihrem Sessel in Sicherheit und hob abwehrend ihre Hände, in denen es dunkelblau aufleuchtete - und Vorjak war ebenso bereit, seine Tochter zu verteidigen. Es war nicht nötig: Ga'hil riss Niral auf halbem Weg herum und stiess ihn energisch in die andere Hälfte des Raumes zurück. „Sie brechen unsere Abmachung, dass hier niemandem etwas geschieht?”, fauchte er, „Beherrschen Sie sich, Jaridian Niral!”
Der Jaridian beherrschte sich, auch wenn es ihn sichtlich einigen Zahnabrieb kostete. Er ballte die Fäuste und stapfte einige Momente sichtlich kochend durch den Raum, bis er sich schliesslich wieder hinsetzte.
„Was wollen Sie von den Taelons?”, setzte sich auch Zoriel. Damit stand die Frage wieder im Raum und diesmal war Niral nicht abgelenkt. „Als überlegene Kriegspartei verlangen wir eine bedingungslose Kapitulation des Taelon-Gemeinwesens”, sagte er fest, „Die Mitglieder der Synode wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt.” Kurz sah er zur Atavus. „Zoriels Fall wird noch einmal diskutiert werden müssen”, fügte er hinzu, „Ariel Marquette war niemals an Kriegsentscheidungen beteiligt und zudem Halbjaridian.” „Da müssen Sie sich erst mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag absprechen”, widersprach Ga'hil, „Die komplette Synode sowie alle jemals auf der Erde tätigen Taelons wurden dort angeklagt und rechtskräftig verurteilt.” „Wozu verurteilt?”, knurrte Niral, „Ich sehe Zo'or und Da'an! Sie sind am Leben und in Freiheit!” „Tatsächlich sind die meisten anderen in Verwahrung”, gab Vorjak zurück, „Nur drei der Angeklagten sind nicht in Haft: Mit'gai, Da'an und Zo'or.” Er zog sein Global aus der Tasche und tippte auf den Bildschirm. „Zo'or wurde zu mentaler Isolation verurteilt, nachträglich, denn vom Gemeinwesen getrennt war er schon. Demgegenüber war seine Haft in der Widerstandsstadt vergleichsweise locker.” „Über achtzehn Jahre war Zo'or nur mit mir verbunden”, fügte Ga'hil hinzu. „Da'an”, fuhr Vorjak fort, „bekam eine Haftverkürzung. Er wusste von General Kincaids Eintreten in seine Dienste an von dessen Mitgliedschaft im Widerstand und ersparte ihm auch eine Implantation.” „Tatsächlich!”, war Niral durchaus erstaunt. Ein beinahe anerkennender Blick streifte den Taelon. „Mit'gai bekam ebenfalls eine Haftverkürzung, da er plausibel darlegen konnte, nur aus Angst gehandelt zu haben.” „Angst”, schnappte der Jaridian, „wovor sollte dieser Taelon Angst gehabt haben?” „Erst vor Qo'on und T'than, später vor Zo'or”, erklärte Zoriel, „Die drei haben nun wirklich nicht an Drohungen gespart, seine Energie der Gemeinschaft zuzuführen.” Niral runzelte die Stirn. „Ja, Morddrohungen falls Mit'gai nicht kooperiert”, nickte die Atavus, „Das Taelon-Gemeinwesen war sich auch nicht immer ganz einig, manche konnten sich der ... mentalen Gleichrichtung mehr oder weniger entziehen.” „Die Ursache für die Verderbtheit der Taelons spielt keine Rolle”, beharrte der Jaridian, „Ich verlange die bedingungslose Kapitulation.” Liam erhob dagegen natürlich Einspruch: „Die Taelons haben bereits der Menschheit gegenüber kapituliert - unter der Bedingung, sich auf deren und besonders meinen Schutz verlassen zu können.” Er verschränkte seine Arme und musterte Niral. „Ihre Forderung ist demzufolge ein Angriff auf die Menschheit und auf mich”, sagte er kühl, „nehmen Sie sie also umgehend zurück.”
Typisch Dad. Er praktizierte eine sehr merkwürdige Art der Diplomatie, die häufig nur darin bestand, sich zwischen die Konfliktparteien zu stellen und damit zu rechnen, dass niemand ihn treffen wollte. Ronny hatte sehr recht, dass Liam Kincaid sich fast zwanghaft ständig in Gefahr brachte, wenn er nur die geringste Chance hatte, damit einen einzelnen, eine Stadt, ein Land, eine Welt, eine Spezies oder sonst etwas zu retten. Aber das Leben des Kimera war nicht mehr unantastbar, seit es die Grundenergiespulen gab! Natürlich war er verdammt schwer umzubringen, aber irgendwo sollte er dann doch aufhören, ständig Risiken einzugehen. Harmony hatte keine Lust, Waisenkind zu werden - auch wenn Waisenkind in ihrem Fall höchstwahrscheinlich nur bedeuten würde, beide Elternteile in einem multidimensionalen Irgendwo zu haben und nicht im Jenseits. Selbst die völlige Zerstörung des Energiekörpers würde Liam ja nicht zwangsläufig umbringen.
„Die Taelons haben noch Bedingungen gestellt?”, brachte Niral nach einigen Momenten Karpfen-Mimik absolut fassungslos heraus. „Sie waren nicht die einzigen”, bemerkte Zoriel trocken, „Ga'hil stellte die Bedingung, dass die Menschheit die Kontrolle über die damals noch zu erfindende Grundenergieherstellung haben soll. Es ist den Taelons nur rudimentär bekannt, wie die Spulen funktionieren, und sie wissen auch nur von einer den Standort.” Sie beugte sich etwas vor. „Wissen Sie, Niral, die Menschen trauen den Taelons nicht! - Den Jaridians aber schon, wenngleich Sie hartnäckig daran arbeiten, das zunichte zu machen.” „Um es so zu sagen, wie es mit Sicherheit sein wird: Wenn Sie den Angriff nicht stoppen, Niral, werden die Menschen Ihnen bestimmt keine Grundenergie zukommen lassen.” Wieder diese Diplomatie, die eigentlich kaum mehr Diplomatie war.
„Kimera Ga'hil, Sie würden uns am Fieber einfach sterben lassen?”, knurrte der Jaridian. „Jaridian Niral, Sie würden zweieinhalbtausend Taelons, darunter eineinhalbtausend Kinder, einfach durch Ihr Bombardement töten?”, gab Liam eisig zurück, „Und dann dafür noch deren Ration Grundenergie erhalten wollen? Sie messen mit zweierlei Mass!”
Das tat Niral wohl - und es war ihm klar. „Wir sind im Krieg!”, sagte er fest, „Und wer begann ihn? Doch die Taelons, nicht wahr?”
Wer hatte den Krieg begonnen? Harmony wusste das sehr gut, besser als die Jaridians, auch besser als die Taelons. Es war ein Jaridian gewesen, jedenfalls in gewisser Weise, der den Krieg begonnen hatte. Die Tragödie war sehr lange her, so lange, dass es damals noch gar keine Menschen gegeben hatte und deren Vorfahren noch nicht einmal aufrecht gegangen waren. In gewisser Weise hatten ja aber auch die Taelons den Krieg begonnen. Wie man Krieg eben definierte. Waren dreihundert Tote schon Krieg? Oder erst zehntausend? Auf eine gewisse verworrene Art war sogar ein Kimera schuld gewesen. Worte konnten schliesslich ebenso töten wie Shaqarava oder eine Waffe, wenn auch über Umwege.
„Ich weiss es nicht”, beantwortete Zoriel die Frage des Jaridian, „Es ist zu lange her, selbst das genetische Gedächtnis wird unscharf. Fünftausend Generationen von Taelons, Niral. Wieviele Zigtausende Generationen von Jaridians?” Sie stand auf und ging einige Schritte durch den Raum. „Die Taelons wissen nicht mehr, worum es überhaupt ging”, sagte sie, „Ebensowenig Dad oder ich. Wissen Sie es?”
Er wusste es nicht, das sah Harmony ihm an.
„Ich kann Ihnen zeigen, was damals passiert ist”, bot Liam, „Ich erinnere mich daran.” Da'an, Vorjak und Zoriel sahen ihn verblüfft an. „Ja, wirklich”, schmunzelte er, „Ich erinnere mich - ich kann es zeigen.” Er streckte eine Handfläche Vorjak entgegen, die andere Niral. Vorjak zögerte nicht und liess auch (wenn auch sichtbar ungern) Da'an seine andere Hand, dass jener es wiederum Zoriel zeigen konnte, doch Niral überlegte lange, bevor er schliesslich das Sharing annahm. Harmony war aussen vor, doch ohne ihre energetische Natur zu offenbaren konnte sie nicht teilnehmen - aber sie erinnerte sich ja ohnehin. Dads Fassade flackerte und verschwand fast völlig und Da'an ging es ebenso, während die Jaridians und die Atavus beinahe unter der Wucht der Erinnerungen zusammenbrachen - Zoriel steckte es noch am besten weg, doch Vorjak und Niral mussten sich zitternd hinsetzen und erst einmal ein paar Schlucke trinken. „Verstehen Sie?”, fragte Ga'hil schliesslich. Niral stellte mit noch immer zittrigen Händen sein Wasserglas ab und nickte langsam. „Ja ... ich verstehe.”
* * *
Der Angriff auf den Mars wurde gestoppt, Nirals Flotte zog sich aus dem Sonnensystem zurück. Vorjak war dennoch nicht zufrieden, denn die Spaltung der Jaridians blieb bestehen. „Ich hätte vor sieben Jahren gegen Niral vorgehen sollen”, fluchte er immer wieder, „Jetzt kann ich es nicht mehr, jetzt würde ich seine Bewegung damit stärken.” Weder er noch Da'an, Zoriel oder Harmony teilten Liams Zuversicht: Nirals Bewegung würde sich keineswegs mit der Zeit einfach auflösen. Es gab ja auch immer noch Leute, die Nordstaaten und Südstaaten zurück wollten, das Habsburgerreich oder die Sowjetunion - nur biss man da bei Präsident (Diktator) Federov der Republik (Bananenrepublik - gut, gefrorene Bananen) Rostok auf Granit, er verteidigte sein Pflänzchen bis aufs Blut. Mehr als Niral keinen Grund für Aggressionen zu geben konnte man also nicht tun. Und selbst das konnte man nicht tun - der Energieschild, der die Siedlung auf Neu-Taelon (auch als Mars bekannt) schützte, würde in den nächsten Wochen deutlich verstärkt, und Doors International, geleitet von Renee Palmer (soviel zu Winslow, die Ehe hatte nicht einmal ein Jahr gehalten - aber immerhin zwei Kinder hervorgebracht, über deren Erziehung sich trefflich öffentlich streiten liess), freute sich über den grossen Auftrag.
Harmony bemühte sich, nicht zu sehr über Nirals Flotte nachzudenken. Sie flog inzwischen ihre erste Maschine mit Düsentriebwerk und das war doch ganz anders als mit Propellern - oder Passagestreben. Dennoch, der Fluglehrer hatte bei ihr kaum etwas zu tun, da sich Düsen im Grunde fast so verhielten wie Passagestreben im Schnellflug, jedenfalls mehr als dass sie sich wie Propeller verhielten. Nur die Landung ... aus ihrem Gedächtnis kannte Harmony nun einmal nur Senkrechtstarter, von daher machte ihr die Landung bei diesem schnellen Gerät am meisten Probleme - allerdings auch nicht zu viel. Dumm nur, dass sie aus ihrem Gedächtnis nicht auch wusste, wie man am besten Windeln wechselte, denn das hatte sie auch häufiger zu tun. War sie selbst auch so ein kompliziertes Baby gewesen? Hatte sie selbst auch so laut geschrien? Hatte Dad damals auch solche Augenringe gehabt, wie nun Aby?
Nein, Dad hatte jetzt natürlich keine Augenringe, wenn er keine wollte, er baute seinen materiellen Körper doch immer wieder neu auf. (Er rasierte sich ja nicht einmal und war trotzdem immer stoppelfrei.) Aber damals war er noch nicht ständig zwischendurch vollständig zu Energie geworden.
* * *
Wie üblich lebte Harmony nicht lange den normalen Alltagstrott. Nirals Angriff blieb nicht ohne Folgen, wenngleich sie von ungewohnter Seite kamen. Es waren keine Soldaten, es waren auch keine Jaridians. Harmony wusste nicht, was für eine Truppe das war, bis sie bei einem eine kleine Narbe unter dem Ohr sah: Ehemalige Freiwillige. Deren Implantate hatten nie einen Imperativ beinhaltet, das war nur bei den Implantaten im Gehirn möglich, aber die Freiwilligen waren recht gründlich auf andere Art indoktriniert worden. Manche standen noch immer grundsätzlich auf der Seite der Taelons und verteidigten auch deren Verbrechen. Sie lauerten Harmony bewaffnet auf dem Heimweg auf und scheuchten sie in eine Nebenstrasse. „Miss Kincaid, ich hoffe, Sie entschuldigen, dass wir Sie so überfallen”, ergriff einer das Wort, „aber wir müssen mit Ihnen reden.” „Mit mir? Wieso?” „Sie sind die Tochter Ihres Vaters. Mit ihm können wir leider nicht so einfach reden.” Er strich sich eine Strähne hinters Ohr (wobei Harmony die Narbe sehen konnte) und musterte die junge Asiatin. „Die Jaridianflotte da draussen ist eine Bedrohung für die Taelons als Spezies”, sagte er dann, „Wir hätten uns gewünscht, dass der Kimera deutlicher darauf reagiert.” „Ich war dabei! Er hat deutlich reagiert!”, gab sie zurück, „Eine Drohung wie die, die er Niral gegenüber ausgesprochen hat, haben Sie noch nie gehört!” „Und dennoch existiert die Notwendigkeit, Neu-Taelon stärker zu schützen! Die Jaridians haben gelogen!” „Da sind sie, mit Verlaub, nicht die einzigen!”, knurrte Harmony, „Und Sie sollten nicht glauben, dass Jaridians in ihrem Kopf einen Schalter umlegen können: Jetzt sind die Taelons unsere Freunde. Nein, das waren Millionen Jahre Krieg!” Sie verschränkte ihre Arme. „Sie sollten eher staunen, dass es so friedlich zugeht, wie es das tut. Die meisten Taelons sind ja auch nur deshalb so friedlich, weil ihnen Ga'hil und mein Vater sonst den Energiehahn zudrehen!”
Ga'hil und ihr Vater - klang merkwürdig.
„Wir werden wohl doch mit Ihrem Vater reden müssen, da Sie uns keine Hilfe sind”, beschloss der ehemalige Freiwillige und zog ein sauberes Tuch und ein Skalpell aus einer Tasche, „Wenn er Ihren Finger in der Post hat, wird er uns wohl zuhören.”
Niemals!
Das kam absolut nicht in Frage! Harmony rekapitulierte eilig ihr Wissen über Pa'dar und trat dann einem der Kerle in den Bauch, während sie einem anderen ihre Faust in die Gurgel rammte - und rannte. Acht wenig freundliche Zeitgenossen (also alle bis auf den, der nun Atemprobleme hatte) waren leider sogleich hinter ihr her. Harmony heizte ihre Energiebahnen an und schlug einen Haken, dann eilte sie in eine weitere Quergasse. Sie war schnell, aber als Mensch kam sie ihren Verfolgern nicht so einfach davon. Sie musste zurück auf eine belebte Strasse. Hier links! Die Schritte der Verfolger kamen näher, Harmony regte ihren Energiefluss noch mehr an. Es war bestimmt nicht mehr weit bis zu einer Strasse mit Autos, sie konnte den Verkehrslärm ja hören! Nochmal links - nein, das war ein Fehler gewesen. Jetzt stand Harmony doch tatsächlich ein Gittertor im Weg.
Bei einem Fernsehkrimi hätte sie gelangweilt von Klischee gesprochen. Das würde sie garantiert nie wieder tun - wenn sie hier nur heil wieder rauskam!
Sollte sie versuchen, hinüberzuklettern? Oder sich umdrehen und allen acht Kerlen mit Pa'dar zuleibe rücken? So gut konnte sie Pa'dar dann auch wieder nicht ... nein, das war keine Lösung. Sie konnte sich natürlich umdrehen und allen acht Kerlen mit Shaqarava zuleibe rücken oder auch den materiellen Körper auflösen und durch das Gitter hindurchlaufen - beides war ungut, beides würde sie und ihren Vater entlarven.
Es musste doch einen anderen Weg geben! Irgendeinen Weg, den ehemaligen Freiwilligen auszukommen ... Irgendeinen ...
Mit einem Mal fühlte Harmony sich schwerelos und alles um sie war weiss. Was passierte mit ihr? Was geschah hier? Sie fühlte sich schwach, müde, als wäre sie ohne Energiefluss einen Marathon gelaufen. Was war nur los? Warum drehte sich alles?
„Mein Flöckchen ... du machst mir ganz schön Ärger, ich musste dich aus einem siebendimensional verschlungenen Interdimensionsnexus mit verdammt geringem Vektorbetrag holen.” Vor Harmony erschien die strahlende Gestalt ihrer Mutter. „Du solltest die Teleportation noch ein bisschen üben, hmm? Es hätte vier Jahre gebraucht, bis du angekommen wärst.” Die junge Hybridin war mehr als perplex. Teleportation? „M...Mum?”, flüsterte sie und sah sich im leeren Weiss um, „Wo ... bin ich?” „In einer sechsdimensionalen Blase innerhalb der Komplexität des elfdimensionalen Universums. Oder fünfdimensional - die Zeitwahrnehmung ist immer extra.” Besonders hilfreich war das nicht. „Mum ...” „Wir können uns in elf Dimensionen bewegen, Harmony”, erklärte Joyce, „nicht nur in vier, wie die Menschen.” Sie nahm ihre Tochter in den Arm und diese umarmte ihre Mutter noch sehr verwirrt. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ja?”, fügte Mum hinzu, „Du bist zwar an der Schwelle, eine Elfdimensionale zu werden, aber das ist Liam auch. Ich bin tatsächlich ...” „Was bist du?” „Ich bin die einzige Elfdimensionale in dieser Galaxie, die nicht zwischen materiellem und energetischem Körper wechseln kann”, erklärte Mum, „allerdings zwischen materiell-energetischem und dimensionalem.” Sie lächelte sanft. „Du kannst noch nicht nur den dimensionalen Körper haben. Du wirst es können, ja, aber noch kannst du den energetischen oder den materiellen Körper nur kurzzeitig unterdrücken ... für eine Teleportation zum Beispiel.”
Teleportation. Mum meinte das ernst!
„Du meinst ... nicht du hast mich aus der Gasse geholt?”, fragte Harmony nach. Joyce schüttelte den Kopf: „Das warst du selbst.” Sie hielt die Kimera an den Schultern. „Es braucht verdammt viel Energie, also tu es nicht leichtfertig. Dein Energielevel hält das nicht oft aus - oh, ich rate dir, beim essen genauso reinzuhauen wie Liam.” „Äh ... ja ...” „Teleportation ist eine Sache der Konzentration”, fuhr Mum fort, „Du darfst dich nicht so in die Multidimensionalität fallen lassen wie vorhin! Da kann nämlich alles Mögliche schiefgehen.” „Okay”, nickte Harmony unsicher. „Gut. Und jetzt bringe ich dich in die Gasse zurück und ordne ein bisschen um”, lächelte Joyce, „Merke: Du läufst links, dann rechts und dann wieder rechts und direkt zum Polizeiwagen, ja?” „Gemerkt. Mache ich.”
Das Weiss wich Dunkelheit, Schrittgeräuschen und Hauswänden. Harmony rannte mit allem, was ihre Muskeln hergaben, erst nach links, dann nach rechts (jetzt konnte sie die Strasse sehen) und dann bog sie wieder nach rechts ab und sah tatsächlich einen Streifenwagen am Strassenrand stehen. Einer der Polizisten stand neben dem Wagen und sprach mit einer schwarzbezopften Passantin im Jogginganzug. „Hey! Hilfe!”, rief Harmony und wandte sich kurz um. Die ehemaligen Freiwilligen waren noch da, allerdings nutzten sie gerade die volle Bremswirkung ihrer Schuhsohlen und spurteten schliesslich in die andere Richtung davon. Polizist und Passantin sahen die Kerle nur noch kurz von hinten, dann richteten sie ihre Blicke auf die Hybridin.
Passantin? Das war Irina Colby! „Harmony?”, schien die ältere Asiatin verdutzt.
„Mum?”
* * *
Im Polizeirevier schrieb ein rothaariger Polizist, der Harmony merkwürdig bekannt vorkam, alles, was sie über die Angreifer zu sagen wusste, in einen Notizblock (ja, aus Papier!), dann blätterte er um, fuhr gefühlte drei Mal mit der Bleistiftspitze über den Block und zeigte der Kimerahybridin ein sehr genaues Abbild des Anführers. „Ja, das ist er”, nickte sie. „Gut, dann schicke ich das durch den Computer, warten Sie bitte.” Er öffnete die Türe und verliess den Raum. Von draussen war nun etwas sehr Interessantes zu hören: „Guten Abend. FBI, Ronald Martínez. Wer von Ihnen hat mich betreffend Harmony Kincaid angerufen?” „Das war ich, Sir”, rief der begnadete Zeichner, dann fiel die Tür zu und Harmony hörte Rons Antwort nicht mehr. Aber immerhin war durch den Rolladen zu sehen, wie die beiden miteinander diskutierten und schliesslich der Polizist knapp auf die Türe wies. Ronald trat ein, der Rotschopf folgte ihm. „Harmony, ist dir etwas passiert?”, fragte ihr Grossvater. Sie seufzte kurz. „Es geht mir gut.” Sein Blick wanderte zu Joyce. „Dich hätte ich nicht erwartet”, stellte er fest, „Irina, schön, dich zu sehen.” „Hi, Ron”, schmunzelte sie, „Dir geht es gut?” „Aber ja - jetzt geht es aber um Harmony.” Er setzte sich, der Polizist ebenfalls. „Ich habe das Bild gesehen, das Sergeant Marchese gezeichnet hat - und ich habe die Person erkannt: Donald Remington, Corporal der Freiwilligentruppen Nordamerika bis zu seinem Abschied vor vierzehn Jahren. Seither war er Frisör.” „Frisör”, wiederholte Harmony und zog die Brauen hoch. „Hast du was gegen Frisöre?” „Nein, nein. Ronny, können wir bitte Dad keine Sorgen machen?” „Harmony, du bist mir ein Spassvogel!”, seufzte er, „So etwas Wichtiges können wir doch wirklich nicht vor dem Leiter der Taelonsicherheit verheimlichen!” Nein, konnten sie nicht. Harmony seufzte leise. „Na bitte”, nickte Ron, „Polizei, Army und FBI gemeinsam gehen der Sache bestimmt bald auf den Grund.” „Ich hoffe es”, sagte Harmony, „Ich will meine Finger alle noch ein bisschen behalten.”
Damit waren sie im Revier fertig, sie verabschiedeten sich (Joyce überraschend herzlich) und stiegen in Rons Wagen. „Also”, blickte er zu Irina, „hat Detective William Marchese einen Doppelgänger oder was?” Aha! Ihm kam er also auch bekannt vor - aber von ihm hatte Harmony ja auch die Erinnerung. „Vielleicht irgendwo, weiss ich nicht”, schmunzelte Joyce, „Ihn jedenfalls habe ich in atomare Bestandteile und ein energetisches Echo mit Taelonmuster aufgelöst mit einzig einem achtdimensionalem Konnektor in Form gehalten in der Interdimension gefunden und wieder zusammengesetzt.” Ein leichtes Schimmern zog über ihre Haut. „Er brauchte natürlich einen neuen Namen, aber da er sich von William nicht trennen wollte, blieb der Vorname halt.” „Verstehe. Soll ich es Mitch sagen?” „Klar, wenn du meinst.” Ronald runzelte kurz seine Stirn, dann startete er den Wagen und fuhr los. „Weisst du, dafür, dass du angeblich meine Halbschwester bist, erzählst du mir erstaunlich wenig”, bemerkte er, als sie vor der ersten Ampel standen. „Glaubst du, wenn Mitch, Liam, du oder sonstwer sich zu sehr für ihn interessiert hätten, hätte er sein können, wer er ist?”, verdrehte sie die Augen, „Ja, ich hab ihn zwanzig Jahre jünger gemacht, aber jetzt ist er doch wieder in genau dem Alter wie damals! Second Chances war nun nicht unbekannt, na? Und prinzipiell habe ich ihn ja auch genau auf die Art verjüngt.”
„Also ist er das echt?”, lehnte sich Harmony vom Rücksitz nach vorne. Mum grinste sie an: „Ja, ist er.”
Es gab also immer noch richtig grosse gute Überraschungen auf dieser Welt. Harmony lehnte sich wieder in den Sitz zurück und lächelte breit. Noch etwas, weswegen ihr Grossvater keine Schuldgefühle haben musste: William Boone lebte ja. (Und Zoriel würde sich bestimmt auch freuen, das zu hören.) „Ausserdem, Ron”, fuhr Joyce fort, „selbst als angebliche Halbgeschwister haben wir uns ja erst als Erwachsene kennengelernt ... und wir sind auch keine Nachbarn wie Lili und Mabel.” „Und deshalb sagst du nichts? Kein guter Grund.” Er fuhr auf den Highway und drückte aufs Gas. „Warum bist du überhaupt hier? Du hast immer einen Grund für dein Erscheinen.” „Wir haben ihm nicht alles gesagt, was passiert ist”, sagte sie kryptisch. Harmony seufzte laut auf. „Ron ... ich werde wie Mum - offensichtlich kann ich mich teleportieren.” „Ja, ich musste diesbezüglich einiges in den Erinnerungen der Verfolger geradebiegen”, nickte Joyce, „Ich bin auch der Meinung, dass wir das vor Liam nicht breittreten sollten.”
„Nein, nein, Mum”, widersprach Harmony, „Das schon! Nur nicht, dass ich erst in vier Jahren angekommen wäre.” Ron sah sie im Rückspiegel irritiert an. „Ja ich hab's halt noch nicht raus, wie es genau geht”, seufzte sie, „aber die Tatsache, dass ich teleportieren kann ... Dad wird sich viel weniger Sorgen machen, wenn er das weiss.” „Da wäre ich mir nicht so sicher.” „Nicht? Wieso nicht?” „Harmony, Liam macht sich um alles Sorgen, ausser um sich selbst”, erklärte Ronald energisch, „Du solltest das doch wirklich wissen.”
Das stimmte natürlich. Dad war ein Meister darin, sich Sorgen zu machen - ausser vielleicht dann, wenn es wirklich angebracht wäre. Ron parkte Louises kleinen Mitsubishi zu, dann stiegen er, Joyce und Harmony aus und die Kimera öffnete die Haustüre. „Hi, alle. Louise und Corinna sind also schon da?” „Ja”, kam Liam mit einem Tuch über der Schulter und einem Baby an selbige gelehnt aus dem Wohnzimmer, „Du kommst spät, Harmony, ... und du bringst Besuch mit ...” Seine Mundwinkel sanken etwas nach unten. „Hallo, Irina.” „Hallo”, lächelte Joyce, „Einen süssen Knirps hast du da.” „Ja. Willst du zum Essen bleiben?”, fragte er, „Ron, du schon, oder?” Sein Vater grinste knapp, marschierte in die Küche und bekam sofort die Anweisung, die Nudeln auf Bissfestigkeit zu prüfen. „Irina, warum bist du hier?”, fragte Liam weiter. „Die Polizei war der Meinung, ich würde als Zeugin taugen”, erklärte Joyce, „Harmony wurde von Ex-Freiwilligen verfolgt.” „Die wollten dir meinen Finger per Post schicken”, fügte deren Tochter hinzu, „Deshalb war auch das FBI gleich da. Also Ronny.”
Liams Mund klappte auf, die Stirn wandelte sich in einen Stapel Sorgenfalten und die Augen wurden gross - unterdessen kamen auch Louise und Corinna aus dem Wohnzimmer, ebenso besorgt. „Geht es dir gut?”, fragte Dad schliesslich. „Ja, tut es”, nickte Harmony und rollte mit den Augen, „Schaut mal, ich hab noch alle zehn!” Sie streckte ihre Hände vor sich und spreizte alle Finger. „Na?” „Ach, Flöckchen ...”, murmelte Liam, trat näher und legte seinen freien Arm um sie. Die junge Hybridin wollte es zwar nicht zugeben, aber das war doch das beste gegen ihre irgendwo immer noch vorhandene Angst. Er passte auf sie auf. Und selbst wenn die Kerle ihren Finger abgeschnitten hätten, Dad hätte sie da rausgeholt - und ihr Finger wäre ja auch schnell nachgewachsen.
Zwei Störungen gab es aber kaum später. Erst rief Aby, dass das Essen fertig war, dann begann Farrell zu schreien. Entsprechend kam Liam nicht zum essen - er lief wippend in der Küche im Kreis und redete leise auf den Kleinen ein.
Harmony folgte dem Rat ihrer Mutter und ass mehr als fleissig, was bei diesen perfekt bissfesten Nudeln und der Tomatenrahmsauce nun wirklich nicht so schwer war. Louise und Corinna waren sichtlich überrascht, zu erfahren, wie nahe Harmony mit dem Kimera angeblich verwandt war: Seine Cousine! - Dass sie in Wahrheit sogar seine Tochter war, würde die beiden vermutlich bis ins Koma umhauen, aber es blieb natürlich geheim. Aby schaffte es dann endlich, das Gesprächsthema dauerhaft von Harmonys Erlebnis wegzuführen. Immerhin waren es nur noch vier Tage bis Jays Abschlussball und die drei jungen Frauen waren ja alle eingeladen. Es war nicht das beste Thema, es ging um Ballfrisuren, aber Harmony war sehr froh, dass sie sich keine Gedanken um ihre Finger mehr machen musste.
Nach dem Essen wurde das Frisurenthema zwischen Harmony und Louise vor dem Spiegel noch vertieft, während Corinna nebenan fluchend ihre Tasche durchgrub. Immer wieder kam Liam leise summend vorbei - Farrell wollte nicht trinken und nicht schlafen und volle Windel hatte er auch keine, also wurde er geknuddelt und mit Duzidu angesprochen.
„Hier! Hab's!”, kam Corinna schliesslich mit einem Buch in den Händen ins Bad gelaufen, „Sie hat es signiert, also pass gut drauf auf!” Harmony hielt möglichst still, da Louise auf ihrem Kopf eine hübsche Ordnung zu schaffen versuchte, und griff nach dem Buch - „Me Two” von Zoriel Marquette. Die Atavus hatte also tatsächlich ihre zwei Lebensgeschichten veröffentlicht - oder würde veröffentlichen, noch gab es ja nur die Vorab-Exemplare. Ob der zwei Wochen alte Atavus (bestehend aus einem siebenjährigen Jaridian und einem fünfzehnjährigen Taelon-Kind), dessen sämtliche Eltern für Doors International auf dem Mars am Energieschild arbeiteten, auch ein Buch schreiben würde? Noch würde es sich bestimmt gut verkaufen, aber wenn es ebenso ablief wie beim Hybridenboom, wären Atavus in einigen Jahren nichts so Besonderes mehr. Noch gab es aber Kimerahybriden einen mehr als Atavus, wenn auch geheim. Und auch echte Taelonhybriden gab es mehr: Friedensminister Di'nan hatte schon vor einiger Zeit wie zuvor Le'or eine zu zwei Dritteln menschliche Familie gegründet. Allerdings waren beide sowohl sehr junge Taelons als auch vor der Zuspitzung des taelonischen Perfektionswahns in Stasis gegangen. Die noch immer inhaftierten alteingesessenen ehemaligen Synodenmitglieder betrachteten die Hybriden und die taelonischen Elternteile (genauso auch die Atavus) eher weniger wohlwollend. Nur Da'an und Mit'gai, die nicht inhaftierten, zeigten sich tolerant - nicht dass sie es nachmachen würden.
„So”, sagte Louise schliesslich zufrieden, „fertig. Wie findest du es?” Harmony musterte sich im Spiegel und behalf sich auch mit einem Handspiegel, um sich von hinten sehen zu können. Doch, sie fand den dezenten Zopfkranz ganz nett - kurz konzentrierte sie sich und schuf einen energetischen Abdruck dieser Materiekonfiguration, dann würde sie sich am Balltag den Besuch beim Frisör sparen können. Sie war schon richtig gespannt auf den Ball. „Mädels, seid ihr fertig?”, sah Aby mit Baby auf dem Arm pünktlich zur Tür herein, „Dann würde ich nämlich ganz gerne mit dem Kleinen duschen.”
Die jungen Frauen liessen das Bad der Mutter-Kind-Duschvereinigung und führten die Frisurexperimente vor dem Garderobenspiegel weiter. Dass Joyce sich dabei kommentatorisch einmischte, war nicht gerade nach Harmonys Geschmack, aber nicht zu ändern. Wenigstens hatten Dad und Ron Spass - sie spielten Dame und Liam verlor hörbar haushoch, aber das war gegen einen CVI-Träger natürlich klar und ärgerte ihn auch nicht.
Die angeblichen Halbgeschwister verabschiedeten sich schliesslich, Irina wollte aber noch kurz mit Harmony allein reden. „Du solltest deiner Freundin Louise beistehen”, sagte sie, „Sie wird es brauchen.” „Hä?”, machte die Kimerahybridin. „Sie weiss es noch nicht, aber sie ist schwanger.” „Äh ... hmm”, Harmony klappte ihren Mund wieder zu. „Und von wem?” Joyce runzelte konzentriert die Stirn. „Keine genetische Resonanz in einem Radius von fünfhundert Metern”, murmelte sie dann, „Ich weiss es nicht.” „Ja, okay, ich stehe ihr bei, schon gut”, seufzte Harmony und schob ihre Mutter aus dem zukünftigen Spielzimmer wieder in den Vorraum. Nach kurzer Restverabschiedung machten sich Joyce und Ronald auf den Weg - und damit war Louises Mitsubishi wieder frei und die unwissende Schwangere konnte sich überlegen, ob und wann sie und Corinna fahren wollten.
* * *
Der Mitsubishi blieb über Nacht stehen und die beiden schliefen im Gästezimmer. Harmony traf sie morgens nicht wach an, sie musste ja früh zur Flugschule - an diesem Tag gab es den vollen Rundumschlag Theorie, Abschnitt „Newton und sein Apfel oder warum man in der Interdimension anders rechnen muss”. Newton! Alter Hut, war dreimal in ihrem Gedächtnis. Die mehrdimensionale Gravitationstheorie war hingegen neu, da musste Harmony auch büffeln. Ordentlich büffeln. Sie fand nicht die Zeit, sich ein Kleid zu besorgen - also würde sie dasselbe tragen wie im Vorjahr? Auf keinen Fall! Harmony war inzwischen recht gut darin, ihre Fassade zu Kleidung auszudifferenzieren. Gemeinsam mit Liam und Aby blätterte sie einen Modekatalog durch und liess sich inspirieren, schliesslich trug sie ein cemefarbenes knöchellanges Kleid mit einem verschlungenen schwarzen Muster um die Taille - ohne Träger, denn Kleidung aus Fassade rutschte nicht. Dad zwinkerte mehr als schelmisch, als er sie schliesslich an der Highschool absetzte und wieder abfuhr. Oh, Jay würde staunen. Alle würden staunen.
* * *
Harmony begrüsste all ihre ehemaligen Lehrer und auch etliche ihrer ehemaligen Klassenkameraden - sogar Maryssa. Die intelligenzabstinente Senatorentochter hatte sich in eine fleissige Studentin der Ingenieurswissenschaften gewandelt, dabei hatte nicht nur Harmony bezweifelt, dass Maryssa eine Aufnahmeprüfung schaffen konnte. Aber die Nase zeigte immer noch vor allem nach oben. Nun, es musste ja nicht jeder sympathisch sein. Zoriel, in abschwächender Tarnung, also relativ menschlich, kam durch den Trubel direkt zu Harmony und grüsste sie - Küsschen links, Küsschen rechts. Ihr Kleid war kurz und blauviolett, nur auf der Brust (unterhalb des beeindruckenden Ausschnitts) war ein weisses Dreieck, darin ein Herz aus Wölkchen, ein gezeichnetes trauriges Plüschbärchen und die geschnörkelte Frage: Möchtest mir 'nen Kaffee ausgeben?
Und natürlich blauviolette Highheels.
„Massgeschneidert, hmm?”, fragte die Kimera. „Angepasst”, korrigierte Zoriel, „ohne Bärchen gekauft, draufnähen lassen.” „Sehr ... süss.” „Ja”, Zoriel strahlte, „Und deins? Ich dachte, ohne Träger hält bei dir nichts. Spezielles Büstenteil?” Harmony grinste bis zu den Ohren. „Weisst du, ich fühle mich fast nackt in diesem Kleid.” „Ich werd verrückt ... steht dir, passt perfekt, was habe ich auch gefragt ...? Oh, da sind Lou und Corinna!” Die Atavus zog die Kimera zu einer Menschentraube, die Ronny und Jason umringte - die beiden gesuchten Frauen waren auch ziemlich in der Mitte, da war kein Durchkommen. Aber dafür bekam Harmony als erste mit, als das Staunen beim Eingang losging: Ga'hil war da. Sehen konnte sie ihn noch nicht, aber sie konnte den Kimera spüren. Sie tippte Zoriel auf die Schulter und wies mit einem Kopfnicken in die Richtung. „Hmm?”, fragte die Atavus, doch dann war das grüne Schimmern zu sehen und sie zog die Brauen hoch, „Das wird ein Auftritt!” Sie gab Randall, dem Geschichtelehrer und allseits bekannten Tanztrampel, einen Stoss in die Schulter, machte auch eine unbekannte Dame in grün durch ein Tippen aufmerksam, dann wies sie auf den Eingangsbereich. Das Schultertippen wurde hektisch weitergegeben, schliesslich wurde die allgemeine Aufmerksamkeit von Ron und Jason abgezogen - Traube um den Kimera bildete sich aber keine, dafür waren die Menschen dann doch zu scheu angesichts dieser Berühmtheit.
Dad war im Grunde menschlich, in asiatischer Form, wie Harmony ihn vor einiger Zeit in der Disco gesehen hatte. Sein Hemd war Teil der üblichen weissglänzenden Kimerafassade, dazu gab es eine blassgrüne, ebenfalls glänzende Fliege - und Hose, Sakko und Schuhe auf ganz irdische Art. Damit ihn von ferne niemand für einen Menschen hielt, zogen aber ständig weisse und blassgrüne Schlieren über seine gesamte Gestalt - und die blassgrünen Augen waren auch alles andere als menschenüblich.
Ja, Dad zog eine Wahnsinns-Show ab, wie immer, wenn er Kimera war.
Louise und Corinna kamen zu Zoriel und Harmony, statt magisch von Ga'hil angezogen zu werden. „So ungefähr hab ich ihn mir sogar vorgestellt”, bemerkte Lou, „aber ich finde ja besonders die Fliege Klasse.” „Ob die wohl aus seiner Fassade ist oder angeklipst?”, überlegte Corinna. „Fassade”, erklärte Zoriel sogleich, „Nicht nur die Fliege, alles. Im Prinzip ist er nackt.” „Oh.” Louise wurde an der Nasenspitze rot. Harmony wechselte einen Blick mit der Atavus und grinste. „Ach komm, Louise, du hast ihn doch schon ohne Haut gesehen”, knuffte sie die Blonde dann in die Schulter, „Na?” „Jaja”, seufzte diese, dann erhellte sich ihr Blick, „Oh, da ist Vince!” Sie huschte ohne Verabschiedung davon und in die Arme des Sheriffsohns, die beiden machten sofort die Tanzfläche unsicher - und küssten sich, auf den Mund.
Harmony runzelte die Stirn. Das hatte sie nicht erwartet. Ausgerechnet Vince! Aber es schien sehr ernst zu sein, die beiden waren ein Leuchtfeuer der Verliebtheit. Ein Wunder, dass Louise nicht ständig von ihm gesprochen hatte - vor allem, wenn man bedachte, wie weit sie laut Joyce schon gekommen waren.
„Hi”, klopfte Jay den dreien auf die Schultern, „ich bin der Tanzbotschafter.” „Ah?”, hob Corinna eine Braue. „Darf ich dich zum Tanz auffordern, Corinna, und meinem berühmtesten Bruder einen Tanz mit der Generalstochter und meinem Vater einen mit der baldigen Bestsellerautorin vermitteln?”
Er durfte natürlich. Harmony war nur froh, dass Dad ihr seine nächsten Tanzschritte per Sharing deutlicher mitteilen konnte als durch gewöhnlichen Körperkontakt - nicht dass er nicht führen könnte, aber beim Kimera trübte ein menschlicher Fehler möglicherweise das Bild. Ob die Kincaid-Identität einmal aufgedeckt würde, fragte sie ihn, ohne laut zu sprechen. Er schüttelte sachte den Kopf: Farrell musste mit entscheiden und noch war er viel zu jung dafür. In fünfzehn Jahren also frühestens - wenn nicht noch ein Kimera-Baby dazwischenkam. Aber Harmony war sehr gerne ein Mensch, sie genoss ihr Leben.
Oh ja, sie genoss es sehr. Sie wurde erfolgreich Zivilpilotin (Copilotin vorerst), sie gründete erfolgreich einen eigenen Haushalt, sie sagte gegen den Möchtegern-Fingerschneider aus und brachte ihn erfolgreich ins Gefängnis - sie, Zoriel und Corinna waren auch Louises Brautjungfern und etwas später Patinnen des kleinen Donovan. Farrell wuchs fleissig, bald konnte er auch von Hawomys Händen gehalten hochaufgerichtet die Welt unsicher machen - alleine konnte er sich zwar noch nicht auf den Beinen halten, aber für sein Alter war er wirklich nicht schlecht unterwegs. Eineinhalb Jahre nach dem Abschlussball, den der Kimera besucht hatte, Harmony war zwanzig, zeigte sie sich als Ga'hils Kimera-Tochter Jae'yal Beckett.
Erfolgreich - wenn auch ohne ihr Geburtsdatum zu sagen.
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