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  „Nur ein Wimpernschlag” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Entstehung: 2004
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Eine teilweise ausserirdische Familie feiert Weihnachten.
Zeitpunkt:  2204, 2260
Charaktere:  Liam, Karen, Lance, Matilda und andere
 
Anmerkung:  Diese Geschichte wurde als Teil des Adventskalenders 2004 geschrieben.
 

 

NUR EIN WIMPERNSCHLAG

 

Lance kniff die Augen zusammen und fixierte das Tor. Er lief drei Schritte und trat den Ball.
„Wieder daneben, Lancie!” stellte seine jüngste Schwester Matilda fest. Lance seufzte und trottete vom Spielfeld.
„Mattie, wieso kann ich nicht wie du sein?” murmelte er: „Du hast alle Fussballerfahrung von Mum geerbt!”
„Es war allein Zufall, Lancie!” sagte Matilda: „Dad ist nunmal nur zum Teil Kimera!” Lance blickte sie mit seinen dunklen Augen an.
„Mattie, ich bin vier Köpfe kleiner als du und dreizehn Jahre älter!” knurrte er: „Ich finde das ungerecht!”
„Aber weder du noch ich können das ändern!” stellte Matilda fest. Lance seufzte.
„Gehen wir Mum helfen?” fragte er dann: „Je mehr Hände, desto mehr Kekse wird es geben!”
„Keksfreak!” grinste Matilda und ging mit ihm nach Hause. „Ich frage mich, ob Dad einen Baum gefunden hat, der einer Tanne irgendwie ähnlich sieht!” überlegte sie: „Letztes Jahr brachte er ja etwas, das eher nach Palme aussah!”
„Letztes Weihnachten warst du noch nicht geboren!” stellte Lance fest.
„Naja, genetisches Gedächtnis!” bemerkte Matilda und stiess die Haustüre auf.
„Mum, wir sind daaaaa!” rief Lance und rannte in die Küche, Matilda folgte ihm gemächlich, ihr Blick blieb kurz am Adventkranz hängen, vier Kerzen brannten.
„Na, Schatz, wie war's?” fragte die Mutter der beiden.
„Er hat drei Tore geschossen!” schwindelte Matilda.
„Gar keines!” brummte Lance.
„Macht nichts! Magst du Teig kneten?” Lance' Augen begannen zu leuchten und er wusch sofort seine Hände gründlichst, er wusste, dass seine Mutter darauf grossen Wert legte. Die Haustüre wurde geöffnet und kurz darauf wieder geschlossen.
„Karen, ich habe einen tollen Baum gefunden!”
„Daddiiiiiieeee!” rief Lance, rannte aus der Kochecke und schlang seine kurzen Arme um den Bauch seines Vaters.
„Hoffentlich nicht wieder eine Palme, Liam!” seufzte Karen.
„Nein, der Baum läuft doch tatsächlich oben spitz zu!” erklärte Liam: „Nur leider ist er ziemlich pink!”
„Soetwas habe ich befürchtet!” seufzte Karen: „Im Eckkästchen ganz oben ist grüne Sprühfarbe!” Lance sprang auf und ab.
„Darf ich sprühen, bitte, Daddie, darf ich sprühen?” rief er. Liam schüttelte lachend den Kopf.
„Junge, Lancie, das mache doch besser ich!” sagte er. Lance trottete zu seiner Mutter zurück und griff energisch in den Teig. „Matilda, hilfst du mir bitte, die Planen auszubreiten?” bat Liam dann.
„Klar, Dad!” murmelte Matilda, holte die Sprühfarbe und folgte ihrem Vater in den Keller. Lance liess all seinen Ärger am Teig aus, schlug ihn, drückte ihn zusammen.
„Schatz, jetzt kannst du ihn auswalken!” sagte Karen schliesslich. Lance griff nach dem Nudelwalker und knüppelte den Teig solange nieder, bis er flach war. Dann nahm er die Ausstecher und machte aus dem Teig wunderschöne Kekse.
„Warum fühlst du dich nicht wohl?” fragte Karen.
„Ist nix!” brummte Lance und schaufelte die Kekse aufs Blech. Karen seufzte.
„Junge, möchtest du wirklich nicht darüber reden?” fragte sie.
„Ist nix!” brummte Lance und knetete den Verschnitt wieder zusammen.
„Seit der Geburt deiner jüngsten Schwester vor zwei Wochen!” sagte Karen: „Seitdem geht es dir nicht mehr wirklich gut!”
„Ihr habt gesagt, ihr wollt noch ein Kind!” knurrte Lance: „Da denkt man eher an ein Baby nach neun Monaten als an eine erwachsene Frau nach einem Tag!” Karen seufzte.
„Das ist nun mal so, weil dein Dad zum Teil Kimera ist!” sagte sie.
„Mattie ist so verdammt besserwisserisch!” knurrte Lance: „Jenny nicht!”
„Jenny ist nun mal eine normal menschliche, nun ja, normal weniger, jedenfalls menschliche Neunjährige!” erklärte Karen: „Wenn du deine Zeit nicht mit Matilda verbringen möchtest, dann eben mit Jenny!”
„Aber Jenny spielt mit Puppen!” protestierte Lance.
„Sie ist aber die Schwester, die dir am ähnlichsten ist!” sagte Karen. Lance grummelte leise.
„Aber von Mattie kann ich viel mehr lernen!” brummte er dann.
„Dann ist es doch gut, dass sie es besser weiss!” stellte Karen fest und öffnete das Backrohr. Sie schob zwei Bleche mit unfertigen Keksen hinein und schloss es dann wieder.
„Aber sie gibt damit ständig an!” knurrte Lance.
„Sag ihr das doch!” murmelte Karen: „Ich kann ihr Verhalten doch nicht per Fernsteuerung ändern!”
„Hmmmm!” brummte Lance und schlug mit dem Nudelwalker auf den Teig vor ihm. „Hat sich Daddie früher auch so aufgeführt?” fragte er dann. Karen schmunzelte.
„Das ist fast zweihundert Jahre her!” sagte sie: „Er hatte nie Geschwister, weder Kimeramischlinge noch normale Menschen! Seine menschlichen Eltern wussten nichts von ihm und sein Kimeravater war tot!”
„Er hatte mehr Eltern?” staunte Lance. Karen nickte. „Können wir auch Kekse mit Marmelade drin machen?” fragte Lance. Karen blinzelte verwirrt.
„Nat ... natürlich, Lancie!” murmelte sie und holte einige Gläser verschiedenster Marmeladen aus dem Kühlschrank.

Als Liam und Matilda die Planen so ausgebreitet hatten, dass beim Sprühen nichts ausser dem Baum und den Planen grün werden würde, ergriff Liam die Farbdose und schüttelte sie kräftig.
„Dad, ich glaube, Lance mag mich nicht!” seufzte Matilda. Liam sah sie verblüfft an.
„Warum?” fragte er.
„Er hackt ständig auf mir herum, wenn ich etwas weiss und ihm sage!” erklärte Matilda: „Gestern zum Beispiel hat Mary-Anne erklärt, wie ein Hyperraumsprungtor funktioniert! Und ich habe eben richtiggestellt, was sie falsch gesagt hat! Lance war sauer, ziemlich sauer!”
„Lance ist der Ältere von euch beiden, Mattie!” sagte Liam: „Da steckt er es eben nicht so leicht weg, dass du mehr weisst als seine angebetete Klassenbeste!”
„Aber ... ich weiss es nunmal!” murmelte Matilda: „Soll ich mein Wissen denn für mich behalten? Lance will doch immer alles wissen!”
„Wenn du ihm eine Frage beantwortest, ist es kein Problem!” sagte Liam: „Nur wenn du von dir aus anfängst und das womöglich noch in Gegenwart von Lance' Freunden, dann wird er sich wohl nicht mehr gar so gut fühlen!”
„Aber ich weiss es nunmal!” murmelte Matilda. Liam nickte.
„Aber wenn du die Erfahrung der Kimera nach aussen trägst, wirst du auffallen!” sagte er: „Lerne besser früher als später, wie man sich menschlich verhält!”
„Du hast dein Wissen auch nicht für dich behalten!” brummte Matilda: „Deinen unwissenden Vater hast du doch richtig gereizt!”
„Ich habe nicht das Wissen der Kimera genutzt, Matilda!” erklärte Liam: „Nur das Wissen meiner menschlichen Eltern!”
„Du hast Ronald Sandoval gegen sich selbst rennen lassen!” nickte Matilda.
„Ganz genau!” bestätigte Liam: „Und für ihn war es auch gar nicht verwunderlich, dass ich dieses Wissen habe! Immerhin war ich zu dem Zeitpunkt angeblich altgedienter Soldat!” Matilda nickte. „Und das ist der wichtigste Punkt, Mattie!” erklärte Liam: „Verhalte dich immer so, wie sich die Person, die du darstellst, verhalten würde! Gib niemals mehr Wissen zu, als deine Identität haben kann!”
Matilda senkte den Kopf. „Das weiss ich!” sagte sie: „Aber meine Identität weiss, wie ein Hyperraumsprungtor funktioniert!” Liam seufzte.
„Das stimmt!” gab er zu: „Aber darum kümmert sich Lance nicht! Für ihn bist du die kleine Schwester, obwohl du für alle anderen seine grosse Schwester mit fertigem Studium bist!” Er dachte kurz nach. „Für ihn ist deine Identität nicht viel anders als Jennys!” sagte er: „Die kleine Schwester eben!” Matilda nickte zögernd. Liam schüttelte die Sprühdose ein weiteres Mal, richtete sie dann auf den pinken Baum und besprühte diesen mit einem kräftigen Grün. Es begann, nach Lösungsmittel zu riechen.
„Dad!” murmelte Matilda: „Vielleicht sollte ich in Lance' Gegenwart einfach weniger reden!”
„Vielleicht!” sagte Liam und drehte den Baum mit seiner linken, behandschuhten Hand um.
„Vielleicht sollte ich ihn nicht auf das genetische Gedächtnis hinweisen!” murmelte Matilda. Liam sprühte nun auch die andere Seite des Baumes an.
„Vielleicht!” sagte er.
„Vielleicht sollte ich meine Identität genau entwickeln!” murmelte Matilda.
„Vielleicht!” sagte Liam und schüttelte die Sprühdose.
„Dad?” fragte Matilda. Liam sah sie an. „Hörst du mir überhaupt zu?” fragte Matilda.
„Entschuldige, Matilda, was hast du gesagt?” fragte Liam.
„Dad, ich weiss, dass du mir zugehört hast!” seufzte Matilda: „Was sagst du dazu?” Liam seufzte.
„Genau das, was ich gesagt habe!” murmelte er: „Vielleicht! Niemals sind zwei Menschen gleich, Mattie, und was Jenny freut, findet Lance vielleicht ausserordentlich bescheuert, oder auch andersherum!” Matilda seufzte lautstark.
„Wirklich, Dad, du bist mir eine ganz grosse Hilfe!” brummte sie.
„Wie wär's, Mattie?” fragte Liam: „Frag doch einfach Lance, was du tun sollst!”
„Aber Dad!” seufzte Matilda: „Lance ist so ... widersprüchlich! Mal ist er so wissbegierig und fragt alles, egal wer sonst noch in der Nähe ist, und ein anderes Mal springt er mir mit dem Arsch ins Gesicht, wenn ich nur den Mund aufmache!” Liam grinste.
„Lass den Arsch weg, Matilda!” sagte er: „Das ist beileibe keine gehobene Ausdrucksweise!”
„Daaad!” knurrte Matilda.
„Reagierst du immer gleich, Mattie?” fragte Liam: „Du hast doch auch mal einen guten und mal einen schlechten Tag! Gelegentlich steht Teenager Lance eben mit dem linken Fuss auf und fährt mit seinen Hormonen Achterbahn!”
„Aber das entschuldigt sein Verhalten doch nicht!” brummte Matilda.
„Nein, aber es erklärt sein Verhalten!” sagte Liam: „Das nennt man Pubertät!”
„Dann hab ich mit der Pubertät ja nichts verpasst!” bemerkte Matilda. Liam grinste und schüttelte die Dose.
„Das sagte Augur auch!” stellte er fest und sprühte die weniger grünen Stellen des Baumes noch einmal an.
„Dad?” fragte Matilda: „Ich habe dein Wissen geerbt! Aber wieso kannst du mir dann all die Fragen beantworten?” Liam drehte den Baum und betrachtete ihn genau.
„Mattie, Wissen allein ist nicht alles!” sagte er: „Man muss das Wissen erst ... kennenlernen, üben vielleicht! Wenn ich mein Verhalten damals als Beschützer jetzt betrachte, weiss ich, dass ich eigentlich viel zu unerfahren dafür war!” Er seufzte und sprühte einen noch etwas pink durchscheinenden Ast an. „Damals konnte ich nur gut und böse sehen!” murmelte er: „Verstehst du, was ich damit meine?” Matilda starrte die mittlerweile grüne Baumspitze an.
„Ich denke, ich verstehe, was du meinst!” sagte sie: „Lebenserfahrung kann nicht durch geerbte Erfahrungen ersetzt werden!” Liam stellte die Dose weg und nickte.

Karen holte mit dicken Kochhandschuhen die heissen Bleche aus dem Backofen und stellte sie auf die steinerne Arbeitsfläche. Lance hatte während dieser kurzen Zeit, in der sie ihm und der Schokoladeglasur den Rücken zugekehrt hatte, tatsächlich einen Löffel ergriffen, Glasur stibitzt und den saubergeschleckten Löffel wieder weggelegt. Nun sah er seine Mutter mit einem unschuldigen Dackelblick an, allerdings hatte er Schokolade im Mundwinkel.
„Lancie!” seufzte Karen: „Hol doch einen richtig sauberen Löffel aus der Schublade und leck die Schokolade von deinem Mäulchen!” Lance tat es sofort. Unterdessen wurde die Kellertüre geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen.
„Karen, der Baum ist grün!” rief Liam.
„Sehr schön!” rief Karen zurück. Liam und Matilda betraten die weihnachtlich duftende Küche, Liam holte zwei Gläser aus einem Schrank, während Matilda einen Krug mit Wasser füllte.
„Mattie, kannst du auch Marzipanhörnchen karamellisieren?” fragte Lance. Matilda schenkte sich und ihrem Vater Wasser ein und sah dann grinsend zu ihrem Bruder.
„Also, theoretisch ja!” sagte sie: „Aber Dad hat natürlich viel mehr Übung!”
„Aber du machst auch mit, ja?” bettelte Lance. Matilda nahm einen Schluck Wasser und atmete tief durch, endlich verschwand der Lösungsmittelgeruch aus ihrer Nase.
„Keine Sorge, Lancie!” sagte Liam: „Du kriegst genug Marzipanhörnchen!” Lance drängte sich an seiner Mutter vorbei und grub im Vorratskästchen neben der Türe. Schliesslich hatte er Puderzucker und Marzipan gefunden und hielt beides triumphierend hoch.
„Nacheinander, Lance!” sagte Karen: „Nicht alles gleichzeitig! Zuerst bekommen die Sterne hier ihre Glasur!”
Euphorisch begann Lance damit, die fast noch zu heissen Sternkekse in Schokoladeglasur zu tauchen, Matilda widmete sich der Zitronenglasur. Liam und Karen hantierten mit Löffeln, Schneebesen und Volleipulver.
„Ich erinnere mich deutlich an die Zeit, als es noch richtige Eier gab!” seufzte Liam.
„Auf der Erde gibt es sie ja!” bemerkte Karen: „Hättest du halt dort bleiben sollen!”
„Warum sind wir dann nicht dort?” fragte Lance: „Wenn dort alles besser ist ... verstehe ich nicht! Dort gibt es Eier, Tannen ...”
„Und Psi-Polizisten!” fügte Liam hinzu. Karen seufzte.
Lance und Matilda tauchten schweigend Sterne in Glasur, die vorweihnachtliche Stimmung war verschwunden und auch die Marzipanhörnchen brachten sie nicht wirklich wieder zurück. Liam schob zwei Bleche mit Schaumgebäck in den Ofen. Karen stach Marzipankreise aus, machte einen Schnitt vom Zentrum nach aussen und rollte daraus dann verbogene Kegel, die schliesslich mittels Shaqarava karamellisiert wurden.
Gut drei Viertel der Hörnchen wurden in Keksdosen verpackt, der Rest sogleich genascht.
Danach holte Liam die Bleche wieder aus dem Ofen und schaltete diesen ab. Er führte sein Sprachtagebuch, während Karen und Matilda sich schnulzige Weihnachtsfilme ansahen und Lance versuchte, Jenny von ihrer Grippe abzulenken.
„23. Dezember 2204, ich fürchte, es ist schwer mit Lance und Matilda. Die beiden leben seit zwei Wochen auf engstem Raum miteinander, obwohl sie keine Zeit hatten, sich kennenzulernen. Es ist Lance unrecht, dass ihm so plötzlich jemand seinen Platz als Grössten wegnimmt.” Liam seufzte leise und blies die Adventkerzen aus. „Ich hoffe, dass die beiden aus Weihnachten etwas machen, ich hoffe es!”
Die Nacht brach herein über New Dublin auf Proxima 3, bald lagen alle im Bett und schliefen tief und fest.

Ein warmer Mittagssonnenstrahl traf Lance' Gesicht und weckte ihn. Im ersten Augenblick dachte der Junge daran, die Vorhänge zuzuziehen und sich danach wieder unter die dünne Decke zu verziehen, doch dann fiel ihm ein, dass Weihnachten war. Mit einem lauten Freudenschrei sprang Lance aus dem Bett und rannte im Pyjama die Treppe hinunter. Karen wartete grinsend auf ihn. Lance schob sich an ihr vorbei ins grosse Speisezimmer.
„Toll!” murmelte er, ohne den Mund wieder ganz zuzubekommen.
„Dieser Baum sieht wirklich fast wie eine Tanne aus!” stellte Karen fest: „Also los, fangen wir mit den Kugeln an!” Lance hob vorsichtig eine Packung silberne Glaskugeln aus der grossen Holzkiste und hängte die erste auf.
„Tun wir rotes Lametta drauf?” fragte er.
„Wenn du willst!” sagte Karen und befestigte eine Kugel weit oben. Lance verteilte mit ihr die silbernen Glaskugeln auf dem ganzen Baum und guckte dann nachdenklich in die Kiste.
„Können wir die Holzsterne da aufhängen?” fragte er.
„Strohsterne!” sagte Karen: „Die sind teilweise fast zweihundert Jahre alt!” Lance schob den braunen Faden eines Sterns über eine Zweigspitze und sah dann seine Mutter an.
„Und die halten so lang? Echt?” murmelte er staunend.
„Sie sind irgendwie konserviert!” erklärte Karen. Sie und Lance hängten noch 20 weitere auf, dann beschloss er, dass sie sonst dominant wirken würden.
„Und jetzt Lametta!” freute er sich.
„Moment, Lancie!” rief Karen lachend: „Zuerst noch die Süssigkeiten!”
„Sind es viele Süssigkeiten?” fragte Lance neugierig.
„Nicht so viele, als dass du sie nicht alle aufessen könntest!” stellte Karen fest: „Aber für dich sind ja Raumfrachterladungen nicht genug!” Sie verschwand kurz in die Küche und kam dann mit zehn Packungen Schokoladefiguren, Geleeringen und Zuckerringen wieder zurück. Lance riss die erste Packung auf und steckte sich zunächst einmal einen Geleering in den Mund. Karen grinste nur. Schlussendlich landeten ja doch die meisten Süssigkeiten auf dem Baum.
Schliesslich streckte Liam den Kopf zur Türe herein.
„Wie lange braucht ihr noch?” fragte er: „In der Küche ist jetzt alles nur mehr von euch abhängig!”
„Lametta ist noch nicht drauf! Und die Lichter haben wir auch noch nicht!” sagte Karen: „Wie lange sind wir schon dran?” Sie blickte auf ihre Uhr. „Tatsächlich? Fünf Stunden schon?” Sie lächelte Liam an. „In einer Stunde sind wir fertig!” sagte sie, während Lance begann, die Lamettafäden einzeln über die Zweige zu legen. Liam nickte.
„Gut!” sagte er: „Dann kommt das Truthahnimitat in einer halben Stunde in den Ofen!” Er schloss die Türe wieder und kehrte zu Matilda in die Küche zurück. Zufrieden sah er sich um. Die vier kalten Gerichte waren absolut identisch auf jeweils fünf grossen Tellern angerichtet, darüber war Frischhaltefolie gespannt.
„Dad, ich glaube, wir könnten ein Restaurant aufmachen!” bemerkte Matilda lächelnd. Liam zog ein schiefes Grinsen.
„Eine meiner früheren Identitäten war Haubenkoch, Mattie, du weisst das doch!” sagte er: „Sollen wir die Nachspeisen jetzt schon anrichten oder erst wenn der Truthahn im Ofen ist?”
„Jetzt!” sagte Matilda und stellte zehn Schüsseln und fünf kleine Teller auf die Arbeitsfläche. Liam nichte und öffnete den Kühlschrank. Der Fruchtschaum war erstarrt, Liam stellte ihn neben die Schüsseln und Teller. Matilda schnitt mit einem Faden gleichmässige Stücke heraus und stellte sie vorsichtig auf die Teller. Liam unterdessen kümmerte sich um die Schokoladecreme.
„Schön, Dad!” murmelte Matilda: „Wie machst du das mit der Spirale aus Vanillesauce in der Creme? Mir ist das vorhin im Probierschüsselchen sowas von schiefgegangen ...”
„Übung!” sagte Liam: „Da ist so ein gewisser Schwung drin, vor hundert Jahren konnte ich das viel besser!” Matilda seufzte.
„Also irgendwie ist es nervenaufreibend, zu wissen, aber nicht zu können!” brummte sie. Energisch riss sie den Kühlschrank auf und nahm die grosse Schüssel mit eisgekühlten Fruchtstücken heraus.
„Viel kannst du ja doch!” bemerkte Liam: „Jedenfalls kannst du sehr viel geübter kochen als die meisten Leute!”
„Aber ich habe das Gefühl, ich müsste es so gut können, wie du damals!” seufzte Matilda und füllte die letzten fünf Schüsseln mit Fruchtstücken, Liam setzte jeweils eine Kugel Vanilleeis drauf. Danach stellten die beiden die Nachspeisen wieder in den Kühlschrank.
„Dad, manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich als reiner Mensch nicht glücklicher wäre!” murmelte Matilda.
„Weil du dann nicht anders wärst?” fragte Liam.
„Ja, das auch!” seufzte Matilda: „Aber ich glaube, es würde mir auch sehr viel leichter fallen, mich über Kleinigkeiten zu freuen! So wie Lance sich über Teigkneten freut!”
„Nein, Mattie, das ist für Menschen nicht normal!” verneinte Liam: „Lance ist ein Junge, der sich über alles Mögliche freuen kann, aber so sind nicht viele! Den meisten Menschen geht diese Fähigkeit der Freude früh verloren!” Er legte den Kopf schief und sah in Matildas Augen. „Freust du dich über Weihnachten?”
„Ja, klar, Dad!” murmelte Matilda verblüfft.
„Freust du dich darüber, dass dir die Fruchtcreme gelungen ist?” fragte Liam. Matilda nickte. „Freust du dich auch, wenn der Wind das Glockenspiel vor der Türe streift?”
„Dad, das ist doch nur der Wind!” brummte Matilda.
„Eben!” sagte Liam: „Lass das fallen, Mattie! Lass dich einfach von allem faszinieren, dann werden deine Augen ebenso leuchten wie Lance'!” Er blickte kurz auf die Uhr und schob dann den Truthahn in den Ofen. Den Rest der Zeit spielten die beiden Mischlinge Dame.

Lance zog mit prüfendem Blick an einem Lamettafädchen und nickte dann zufrieden.
„Jawohl, so ist es perfekt!” sagte er. Karen blickte von ihrem Messgerät auf.
„Also 21 Lichter haben volle Batterien!” sagte sie und reichte ihrem Sohn das erste. Lance nahm das Licht und klammerte es an einem Ast fest.
„Sind 21 nicht ein bisschen wenig?” fragte er.
„Quatsch, Lancie, letztes Jahr hatten wir weniger!” sagte Karen.
„Da hatten wir aber auch die Palme!” seufzte Lance: „Da haben nicht so viele Lichter draufgepasst!”
„Klippen wir erst mal die hier an!” schlug Karen vor: „Wenn das zuwenige sind, können Liam und Mattie immer noch versuchen, ein paar von den Dingern aufzuladen!” Sie hielt ihre Handfläche nach oben und setzte ein Licht in die Mitte ihrer Hand. „Du weisst schon!” sagte sie grinsend: „Brzzzzzt klirrrr plinnnnng!” Lance kicherte leise und klammerte das nächste Licht fest. Karen begann nun auch, Lichter zu befestigen, wobei Lance immer wieder aus Symmetriegründen korrigierte.
Schliesslich waren alle Lichter befestigt und die beiden Künstler betrachteten ihr Werk kritisch.
„Besser als die Palme!” stellte Karen fest und Lance grinste. Schnell wurde der verbleibende Schmuck in die Kiste gepackt und diese in den Keller getragen.
„Mum, es riecht nach Essen!” stellte Lance schliesslich fest, in eben diesem Moment kamen Liam und Matilda mit Tellern beladen aus der Küche.
„Lance, hol doch bitte Jenny!” sagte Karen. Lance nickte und lief die Treppe hoch und in Jennys Zimmer. Die Grippepatientin schlief gerade. Lance setzte sich auf die Bettkante und strich über die nussbraunen Haare seiner Schwester. Jenny regte sich und sah ihren Bruder an.
„Jenny, es ist Weihnachten!” sagte Lance: „Mum hat dir was zum Anziehen hergelegt, was richtig warm ist!” Jenny hustete und setzte sich auf. Lance reichte ihr nacheinander alle Kleidungsstücke und schliesslich eine grüne Haarspange, mit der Jenny ihre Haarpracht bändigte. Gemeinsam gingen die beiden die Treppe hinunter und in den Speisesaal. Jenny starrte den geschmückten Baum mit offenem Mund an. Liam berührte sie an der Schulter, sie sah ihn an.
„Gefällt er dir?” fragte er. Jenny nickte. Sie bewegte Hände, Arme und Kopf. Alle in diesem Haus verstanden die Gebärdensprache.
*Er ist grün!* sagte Jenny lautlos und grinste. Liam deutete auf den Tisch, worauf sich alle setzten. Karen sprach das Tischgebet, Jennys Blick hing an ihren Lippen, um zu verstehen. Schliesslich zündete Liam die drei Tischkerzen an und Lance machte sich mit leuchtenden Augen über die erste kalte Speise her. Matilda blickte in eine Kerzenflamme und seufzte.
Jenny hatte es so viel schwieriger in ihrem Leben und meisterte dennoch alles, während Matilda nur mit der nicht ganz einfachen Beziehung zu ihrem Bruder kämpfte. Die Taubstumme berührte Matilda am Arm und wartete, bis ihre Worte gesehen wurden.
*Weshalb bist du traurig?* fragte sie. Matilda schüttelte den Kopf.
„Ich bin nicht traurig, Jenny!” sagte sie: „Ich denke nur nach!” Sie streckte ihrer Schwester eine Hand hin, in der ihr Shaqarava matt schimmerte. „Soll ich es dir erklären?” Jenny nickte und ergriff die Hand.
Sanft liess Matilda fliessen, was sie beschäftigte. Unterschiede machten es schwer für sie, mit ihrem Bruder umzugehen. Sie hatte geerbte Erinnerungen, er hatte 13 Jahre eigene Lebenserfahrung, sie war Kimera, er war ein Mensch.
~Solche Probleme sind lösbar, Matilda!~ erklärte Jenny: ~Ich glaube ich unterscheide mich sehr von Lance!~ Sie liess Matildas Hand los und blickte zu ihrem Bruder.
„Lancie!” sagte Matilda. Lance hörte verblüfft auf zu kauen. „Ich bin Kimera, Lance!” sagte Matilda: „Ich bin nun mal nicht wie du! Ich kann mich nicht meinem Alter entsprechend verhalten, weil ich nicht die Gestalt eines Winzlinges habe!” Sie seufzte. „Aber ich kann mich auch nicht immer dem Alter meiner Identität entsprechend verhalten, weil ich eben erst zwölf Tage alt bin!” Lance schluckte.
Es war logisch. Wieso hatte er das nicht verstanden? Sie war nun mal weder Kind noch Erwachsene.
„Klar, Mattie!” sagte er.
An jenem Tag hatte er wirklich verstanden, was es für Matilda bedeutete, was es für jeden jungen Kimera bedeutete, ein Kind im Körper eines Erwachsen zu sein.

Matilda, Jenny, Liam und Lance tauchten aus der Erinnerung auf und lächelten. Viel Zeit war seitdem vergangen. Matilda hatte vier Töchter und einen Sohn geboren, Liam hatte zwei Frauen betrauert, Jenny hatte acht hörende Enkel und Lance war seit zwei Monaten Urgrossvater.
Liam und Matilda hatten ein herrliches Menü gezaubert, das nun in den Mäulern der Familie verschwand. Lance hatte seit seinem Schulabschluss auf der Erde gelebt, dass sich hier, auf Proxima 3 nur Jennys Abkömmlinge befanden, und auch von diesen nicht alle.
Lance blickte mit leuchtenden Augen auf den Weihnachtsbaum. Jenny machte auf sich aufmerksam.
*Wie damals, Lance!* sagte sie stumm: *Samuel hat ihn grün angesprüht!* Ihr Sohn Samuel winkte lachend. Lance stand auf und begab sich mit Hilfe seines Stockes zum Baum. Drei Geleeringe und eine Schokoladefigur naschte er, bevor er zum Tisch zurückkehrte.
„Süssigkeitenfreak!” grinste Matilda.
„Du wirst in deinem Leben viel mehr Süssigkeiten essen, als ich!” bemerkte Lance: „Also kehr erstmal vor der eigenen Haustüre!” Er zwinkerte schelmisch. „Es ist schön, dass wir uns doch noch einmal wieder getroffen haben!” sagte er dann: „Das Lake-Syndrom lässt mir ja nicht mehr viel Zeit!”
„Auch das ist ein Punkt, der es den Kimera schwer macht!” seufzte Matilda: „Alle sterben weg!”
„Ich stimme dir zu, Mattie!” sagte Lance: „Aber ich nehme meinen baldigen Tod hin, das Ende gehört nun einmal ebenso dazu, wie der Anfang!” Er lehnte sich zu seiner Schwester. „Sei nicht traurig, wenn ich weg bin, Mattie!” flüsterte er: „Irgendwo sehen wir uns in ferner Zukunft wieder!”

„26. Dezember 2260, heute ist Lance gestorben. Ich bin nicht traurig! Er hat mich gebeten, nicht traurig zu sein. Aber ich vermisse ihn, obwohl ich ihn seit 50 Jahren kaum mehr gesehen habe. Ich weiss, dass für uns Kimera ein Jahrhundert nur ein Wimpernschlag ist, aber die Menschen vergehen in dieser Zeit. Es ist unser grösster Fehler, nicht jeden Wimpernschlag voll auszunutzen, ich werde diesen Fehler nicht wieder machen.”
„Irgendjemand sagte einmal, dass wir uns über jene Dinge freuen sollen, die vorbeifliessen und niemals wiederkehren. Für die ewigen Dinge bliebe noch genügend Zeit. Ich glaube, dieser Jemand hat eine tiefe Wahrheit erkannt.”
„Ich werde nicht in mein arbeitsreiches Leben von vor Weihnachten zurückkehren. Ich werde auf Proxima 3 bleiben, bei Jenny und ihren Kindern und Enkeln. Ich würde auch gerne Lance' Nachfahren auf der Erde kennenlernen, aber es wird immer schwieriger, die Erde zu erreichen. Direktflüge gibt es nicht mehr.”
Matilda blickte aus dem Fenster.
„Aber irgendwann wird sich auch diese Sache zum Guten wenden, ich weiss es, ich fühle es! Eine neue Ära wird anbrechen!”

 

ENDE

 

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