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  „Phönix” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Mai 2017
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema: Ronald hat ein zunehmendes Gedächtnisproblem, Street macht eine Entdeckung.
Zeitpunkt: direkt anschließend
Charaktere: Ronald, Renee, Ga'hil, Zoriel, Lili, (Street, Harmony, Frank, Liam, [Vorjak, Mabel, Jay, Neville, Ludmila, Louise, Laurie])
 

 

PHÖNIX

Kapitel 9 - Reflexion III

 

Ronald erwachte von Atemnot und brauchte mehr als nur einen Augenblick, sich zu orientieren, dann hob er die kleine schlafende Atavus vorsichtig von seinem Brustkorb und schälte sich unter der dünnen Decke hervor. Er brauchte jetzt dringend etwas zu trinken. Etwas Richtiges, nicht nur Wasser.
Mit nur halb offenen Augen kämpfte er eine ganze Weile mit Schlüssel und Schloss der Schlafzimmertüre, dann tappte er ganz leise im Dunkeln die Treppe hinunter und legte sich an deren unterem Ende über Nevilles Rucksack hinweg zweifellos recht spektakulär auf die Schnauze - es sah nur keiner.
Allerdings hörte es jemand: Renee kam alarmiert aus der ebenso dunklen Küche, schaltete das Licht ein und half ihm auf.

„Erinnern Sie mich bitte daran, Neville seinen verdammten Rucksack in Augenhöhe vor die Zimmertüre zu hängen”, grummelte er, „Aua.”
„Ich dachte immer, Implantanten würden nicht stolpern.”
„Mythos”, er winkte ab, „und auf dieses Erlebnis hin hole ich mir keinen Kirschsaft, sondern einen Bourbon - wollen Sie auch?”
Sie musterte ihn wie einen Geisteskranken. „Nein, danke, Kirschsaft tut es schon - für Bourbon finde ich es deutlich zu früh.”
Damit hatte sie dann auch wieder recht.
„Jaaa ...”, er kratzte sich am Nacken, „Kirschsaft ist vielleicht doch die bessere Idee.” Aber immerhin servierte er den Kirschsaft in Whiskeygläsern und auf Eis, denn das Auge trank bekanntlich mit.
Renee riss derweil das große Küchenfenster nach Osten weit auf und ließ die kühle Nachtluft und den dünnen rosafarbenen Streifen am Horizont herein. „Ich habe so lange keinen irdischen Sonnenaufgang mehr gesehen”, murmelte sie, „Außerirdische, ja, genug, aber ...”
„25 Jahre sind eine lange Zeit.”
„Sie sagen es, Agent Sand... Martínez.” Sie runzelte die Stirn und fragte: „Sind Sie noch beim FBI?”
Ron schmunzelte. „Wieder - zwischenzeitlich war ich dreizehn Jahre tot.” Renee sah ihn fragend an und nahm einen Schluck. „Lili brauchte damals bei Ariels Geburt Grundenergie - um Da'an war es uns zu schade, also haben wir beschlossen, Zo'or zu entführen”, erklärte der Implantant, „Ich geriet dabei in Gefangenschaft und als Liam mich rausgeholt hat, hat er mich auf der Flucht erschossen.”

„Angeblich.”
„Natürlich.”

„Dachte ich mir schon”, murmelte Renee und blickte aus dem Fenster, „In meinem Universum haben Sie Da'an entführt. Er ist dann kristallisiert und Liam hatte Sorge, ihn versehentlich zu zerbrechen.” Ronald musste lachen. „Danach haben Sie versucht, die junge Familie in die Luft zu sprengen”, fügte die Blonde bitter hinzu.

Jetzt lachte er nicht mehr - er hatte eine Neugeborene zu töten versucht? Das war selbst für den Eisklotz, der er einmal gewesen war, ein arg starkes Stück.

„Es waren nicht wirklich Sie”, sagte Renee leise - und dabei hatte Ronald das deutliche Gefühl, dass sie es nicht für ihn sagte, sondern für sich selbst.
„Miss Palmer ... Miss?” Er sah sie fragend an.
„Ja, unverheiratet ... wobei ...”, sie grinste verlegen, „Wir haben halt nur keinen, der da etwas Offizielles machen würde ... sonst wäre ich wohl Ihre Schwiegertochter.”

„Ah ...” Ron ließ sich überrumpelt auf den nächsten Stuhl fallen. Er hatte ihr ihren einzigen Freund genommen, das hatte die andere Renee gesagt - und das damit gemeint? Vielleicht wäre jetzt ein fliegender Wechsel von Kirschsaft zu Bourbon keine so schlechte Idee mehr ... nein, er drängte diesen Gedanken und den Gedanken an die Krallenträgerin aus diesem Universum aus seinem Kopf und zwängte ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Sie sind damit nicht gerade glücklich”, stellte Renee dennoch fest.
„Ich kenne nur die andere Renee”, erklärte er, „die mir nicht erst als Hybridin höchst suspekt war.”
„Erzählen Sie mir von ihr”, bat sie.
„Drei Ehemänner, zwei adoptierte Töchter ... Sie kennen ja schon Lettice”, begann er und bemerkte zufrieden ihren verdutzten Gesichtsausdruck, „die andere heißt Ellen und ist auch künstliche echte Hybridin.”
„Es gibt auch nicht echte Hybriden?”
„Die nur Energie haben, aber keine Tripelhelix.” Liam sollte sich auch das taelonische echte Verschmelzungsprojekt genau ansehen, notierte Ron derweil in Gedanken, denn immerhin war da ja ein Teil menschlich gewesen, wenn auch nur unfertige Zellhaufen. Der Implantant nahm einen Schluck eisgekühlten Kirschsaft und erklärte: „Es gibt unechte Taelonhybriden, aus den Portalentführungen, dem Kloster und von den Hartley-Zwillingen. Es gibt keinen unechten Kimerahybriden ... nicht hier ... seit wir vor zwei Monaten in Maiyas Welt waren gibt es dort eine. Und es gibt, wie Sie wissen, unechte Atavushybriden.” Er grinste. „Und unechte Jaridianhybridinnen, so gut wie alle mit Jaridians verheirateten.”
„Lili.”
„Sie ist eine, ja”, bestätigte Ron, „Ein paar mal habe ich sogar gesehen, wie sie sich in Energiekontakt mit Vorjak verändert!” Renee zog ihre Brauen hoch und er fügte hinzu: „Naja, so ...”, und malte angedeutet mit den Fingern das Stirnmuster nach.
„Ah, ja, bei der Geburt ja auch.” Die Blonde nippte wieder und blickte aus dem Fenster. Inzwischen war der Streifen am Horizont schon orange und die Feinheiten der Landschaft waren deutlich zu erkennen.
„Nein ...”, murmelte Ron und überlegte. Bei der Geburt war Lili doch ganz Mensch geblieben, sie hatte ja auch keinen Energiekontakt gehabt - zu Vorjak nicht und zu Ariel bestimmt genauso wenig. Aber gut, das konnte sich ja leicht von Universum zu Universum unterscheiden.
Ronald leerte sein Glas und beäugte die langsam schmelzenden Eiswürfel. Er könnte jetzt doch noch einen Bourbon draufgießen ... aber er verkniff es sich und schenkte Kirschsaft nach und füllte auch Renees Glas wieder auf.

„Da ist sie ja!”, stellte die Blonde schließlich fest und begann strahlend zu lächeln.
Ron blickte nach Osten und musste unwillkürlich ebenfalls lächeln. An einem einzigen Punkt begann es, hell zu werden, doch kaum später schob sich die Sonne ganz hinter dem Horizont hervor und tauchte die Welt in goldenes Licht. War jeder Sonnenaufgang so schön?
Vermutlich nicht.
Bestimmt nicht, wenn man ihn verschlief, wie Ron es im Sommer üblicherweise machte. So früh wie damals als Companionbeschützer stand er schon sehr lange nicht mehr auf. Und im Winter war meistens Sauwetter, dann war der Sonnenaufgang auch nicht allzu schön.

„Warum war sie Ihnen suspekt?”, fragte Renee, „Wegen der drei Ehen oder hat es einen anderen Grund?”
„Beides ...” Er blickte kurz nachdenklich auf den Küchenboden und sagte dann: „Sie war das, was man wohl aalglatt nennt. Aber ich habe sie kaum kennengelernt.” Er zog einen Mundwinkel hoch. „Nur als knallharte Geschäftsfrau - und dann, als sie wohl öfter herum war, war ich abgelenkt ... ich musste nach meinem Sohn suchen”, erklärte er, „Sie hat sich nach meiner Neuimplantation noch an einigen Widerstandsaktionen beteiligt, aber sowie der Kimera die Taelon-Projekte öffentlich machte und die Synode beinahe geteert und gefedert wurde, war sie eigentlich nur mehr bei Doors International.”
„Ah. Aber warum suspekt?”
„Immer drei Ecken nobler angezogen als nötig, Frisur wie aus Beton, Gesicht wie eine Schaufensterpuppe, Lächeln wie aus der Zahnpastawerbung ... und innen drin ein Eisklotz. Da war mir nicht wohl - abgesehen vom Lächeln war ich ja zu Imperativ-Zeiten ganz genauso!”

Einen Augenblick lang starrte Renee ihn entgeistert an, dann begann sie zu lachen. „Agent Martínez, jetzt haben Sie mich restlos überzeugt. Sie sind nicht wie der Sandoval, den ich kannte.”
Dieses Kompliment konnte er gerne zurückgeben: „Und Sie sind nicht wie die Renee hier. Sie hätte in meiner Gegenwart niemals gelacht, sondern bestenfalls mit den Zähnen geknirscht und die Krallen gewetzt - und letzteres meine ich wörtlich.”

„Ich habe davon gehört.” Leichte Besorgnis zog über ihre Miene. „Ich kann Ihnen versichern: Ich bringe Sie nicht um.”
„Ich Sie auch nicht”, sagte er.
„Tja ...” Sie trank ihr Glas leer. „Sie haben die Atavushybridin umgebracht, ich den Atavuskollaborateur ... ich denke, wir sind quitt ...”
Was sollte er darauf nur sagen? Er brachte eine lange Bedenksekunde herum, indem er sein Glas ebenfalls leerte, dann sagte er: „Ja ... sind wir wohl.”

„Wieso bist du denn schon wach, Dad?”, erklang verdutzt von der Küchentüre, „Mist ...”
Ron wandte sich zu seinem Sohn um, bemerkte irritiert den wenig fachmännisch übermalten Knutschfleck und die weibliche Silhouette bei der Treppe - und verschränkte umgehend streng die Arme. „Ludmila Heidanková”, stellte Neville das Mädchen vor, „im Physikalische-Chemie-Kurs mit mir. Ludmila, mein Vater.”
Ludmila kam ins Sonnenlicht, nickte höflich und entpuppte sich als hübsche, hellblonde junge Frau.
„Freut mich.” Ron lächelte. „Helfen Sie Neville doch bitte beim Schminken”, schlug er vor, „Sie können das besser als er.” Darauf wurden gleich beide jungen Leute knallrot.
„Das ist nicht so einfach”, mischte sich Renee ein, „Ihr Abdeckstift ist für ihn doch viel zu hell.”
„Ich weiß!”, gab Neville mit einem Anflug von Ärger zu Protokoll, „Und Mums ist auch nicht viel besser geeignet.”
„Ach ...”
„Weißt du was, Dad?”, fuhr er fort, „Ich mache mit Ludmila die Fliege, bevor Mum mir dafür den Kopf abreißt.”
Zwar wollte Ron durchaus Ludmila kennenlernen - aber doch nicht unbedingt, solange die Anwesenheit zweier Atavus (Jaryas und Caedras) drohte. „Ja, tu das”, sagte er also. Die beiden nahmen ihn beim Wort und machten sich auf den Weg.

„Drohende Schwiegertochter?”, fragte Renee schmunzelnd.
Ron schüttelte den Kopf. „Eher weniger - er ist doch erst 21 ... wobei ... Liam war sechzehn ...” Er schüttete die Eiswürfel in die Spüle und seufzte. „Ich sollte mich nicht beschweren, ich bin ja auch schon seit Jahrzehnten Großvater, dagegen ist Schwiegervater zu sein ja ein Klacks.”
„Ich kann nicht mitreden, ich habe nicht mal ein Kind.”
Er runzelte die Stirn. „Ehrlich gesagt wundert mich das etwas.”
„Weshalb?”
„Nun, Liam wurde ja von Ha'gel auf Kinderwunsch getrimmt - und Ihre hiesige Doppelgängerin hat vermutlich sämtliche Gefallen eingelöst, um sich die beiden Hybridinnen einpflanzen zu lassen.”
„Ah”, machte sie, „dafür hat mich Liam erstaunlich lange vertröstet - und nach eineinhalb Jahren ging es plötzlich nicht mehr.” Ron machte zweifellos ein arg verdattertes Gesicht ... es ging nicht mehr? Bei einem Kimera? „Nein, nicht so ...”, sie seufzte verlegen, „Ein Joining hätte Da'ans Energiesignatur aus mir verscheucht und niemand mehr hätte Mutter steuern können.” Ihre Eiswürfel landeten klirrend ebenfalls in der Spüle. „Ich konnte die Energie nicht an Yulyn oder Jarya weitergeben, weil sie sie vergiftet hätte, an Ariel nicht, weil sie sie umgewandelt hätte ... und als Lili vor vier Jahren an Bord kam, war es ... war ich zu alt.”

Irritiert stellte Ronald fest, dass sie ihm gerade leid tat. Und dann stellte er fest, dass er nicht mehr wusste, wo er war. Ihm wurde schwindlig - und dann schwarz vor Augen.

„Agent Martínez? Alles in Ordnung?” Sie sah ihn besorgt an.
Ron sah sich kurz um und beurteilte seine Situation: Er lehnte in der Ecke zwischen Kühlschrank und Kalenderwand und ihm dröhnte der Kopf. „Geht schon”, sagte er, „Ich bin wohl nur unausgeschlafen, da geht gelegentlich der Kreislauf in die Knie.”
„Sind Sie sicher?”
„Aber ja. Sobald ich einen Kaffee habe, ist alles in Ordnung.”
„Ah, wie Sie meinen.” Renee nahm hilfsbereit sein Glas und stellte es gemeinsam mit ihrem in die Spülmaschine. „Und Sie wollten sogar Bourbon trinken ...”
Ron rollte mit den Augen und straffte sich. „Setzen wir uns vor die Kochmütze? Ich wollte schon immer mal als Erster beim Frühstück sein.” Sie nickte und schmunzelte und wenig später saßen sie nebeneinander auf einer Parkbank vor „Franks Kochmütze”.
Ron mochte Renee, auch wenn es merkwürdig war.

„Agent Martínez!” Sie setzte sich verdutzt aufrecht hin und hob einen ausgestreckten Finger. „Da läuft jemand auf dem Dach ...”
Auf dem Rathausdach. „Ja, das kommt vor.”
„Bitte?”
„Oh ... Liam hat die Tradition begonnen, als ihn ein großer Sturm samt Sat-Schüssel vom Dach geweht hat”, erklärte Ronald, „Er hat dann auf dem Dach drüber gegrübelt und seitdem gehen alle zum Grübeln aufs Rathausdach.” Und alle bezog Ron selbst mit ein - bisher zwar nicht, aber inzwischen sah auch er die Notwendigkeit.

Nach dem fröhlichen Frühstück setzte er sich neben die Sat-Schüssel und starrte über die Stadt. Er bekam die fremden Erinnerungen nicht so recht zu fassen, aber er spürte, wie sie ihn verwirrten ... überforderten. Seinem Kreislauf ging es gut, das wusste er - sein Verstand war das Problem.
Aber er wusste, wie es ging. Er war schon einmal mit fremden Erinnerungen zurechtgekommen, er würde es wieder schaffen. Wenn diese Erinnerungen denn mal aus ihrem Versteck kamen! Bisher hatten sie ihm nur vereinzelt hinterrücks eins übergebraten. Er hatte geträumt ...
Er hatte geträumt, in einer Kryss-Anlage gewesen zu sein, aber Liam war auch dort gewesen ... jedenfalls glaubte er doch sehr, dass es Liam gewesen war - und Liam war noch nicht geboren gewesen, als Ronald zuletzt eine dieser menschenverachtenden Hallen betreten hatte.
Es war alles sehr verwirrend.
Ron verbrachte den ganzen Tag auf dem Dach - und nicht nur diesen Tag. Er zählte sieben Tage, davon zwei mit Regenmantel, und kam nur schleppend voran. Wenigstens konnte er bald genau sagen, ab wann sich die beiden Universen unterschieden.
Sehr genau.
Er hatte Dr. Curzon nach der Blutspende gefragt - in diesem Universum hatte Renee das Blut am Empfangsschalter abgegeben, aber drüben hatte sie keine Spuren hinterlassen. Er fragte sie und sie gab sogar zu, dass sie sich einfach geweigert und Liam das Blut selber hineingeschmuggelt hatte.
Manche Erinnerungen waren wie Stereo, ähnlich, aber nicht ganz gleich, aber dann gab es jene, die sich deutlich unterschieden, aber noch merkbar denselben Hintergrund hatten - und dann gab es die, die völlig verquer überhaupt nicht zueinander passten.
Und je mehr sich die Erinnerungen unterschieden, desto mehr flutschten sie ihm davon. Als wollten sie ihm sagen, dass sie ihm nicht gehörten. Nur wenn er gerade überhaupt nicht vorbereitet war, dann sprangen sie ihn von hinten an ...

Er hatte drüben in Zo'ors Auftrag so einige üble Sachen durchgezogen, ganz wie Ron selbst vor seiner Wandlung, das konnte er verkraften - aber dann waren da die Kollateralschäden, denen Agent Ronald Sandoval keinen weiteren Gedanken gegönnt hatte: Er hatte Tonio umgebracht, und ihn dabei nur als Werkzeug benutzt, um R'am aus Zo'ors Weg zu haben.
Einen winzigen Augenblick lang wirkte der Abgrund verlockend ... aber dann seufzte Ron nur und entschuldigte sich gedanklich in Vertretung.

„Wie geht es, Vater?”
Ron seufzte noch einmal und drehte sich halb um. Liam war da, Kimera-Liam, Ga'hil, um genau zu sein - noch immer in Gestalt des Atavus. „Nicht gut, aber ich komme klar”, sagte der Implantant, „Brichst du gerade das Gesetz?” Nur wer grübelte, durfte hier herauf! - Ungeschrieben zwar, aber es hatten sich bisher alle (außer dem Dachdecker und dem Sat-Schüssel-Techniker) daran gehalten.
„Schön wäre es ... nein, diese verflixte Trennung hat mehr Nebenwirkungen, als ich jemals erwartet hätte.”
„Nebenwirkungen!”, wiederholte Ron erschrocken.
Ga'hil beruhigte ihn sofort: „Nichts Gefährliches, aber langsam raufe ich diesem Atavus nur mehr die Haare ... sobald ich die Haare dann wieder habe, denn ich ärgere mich gerade dann, wenn ich als Funkenregen herumschwirre ... wenn du verstehst.” Ronald verstand nicht und sah seinen Sohn entsprechend verwirrt an. „Wir schaffen es nicht in Resonanz, Aby, ich und ich”, erklärte Ga'hil und verlor seine Fassade, „Wenn du gestattest, möchte ich das nicht weiter breittreten.”

Oh! Nun, den Gefallen würde Ron ihm tun - er wechselte das Thema: „Gibt es etwas Neues über die Atavus? Oder über Renee? Ich sitze ja nur hier heroben und bekomme nichts mit.”
„Zu Renee, nein”, sagte der Kimera, „Street hat das Shuttle in Einzelteile zerlegt, sich auch Hilfe von Ne'mal und Skajik erbeten, aber es hatte schlicht keine Fehlfunktion. Sie nehmen jetzt das ganze Zeug unter die Lupe, das Renee von einem Planeten mit uralten Ruinen aufs Mutterschiff bringen wollte.”
„Und die Atavus?”
Ga'hil schüttelte den Kopf. „Sturköpfe. Gerade dass Howlyn zugestimmt hat, seine Truppe durch Kimeraenergie ernähren zu lassen, ohne jedes mal gleich zu meutern. Informationen gibt er keine.” Blassgrüne Linien zogen kurz über sein Gesicht. „Juda war ein wenig kooperativer, als ich ihr gesagt habe, dass es Caedra prächtig geht, aber viel war das auch nicht.”
Ron seufzte leise, stellte dann aber fest, dass der Kimera grinste. „Da ist noch etwas, oder?”
„Ja”, sagte dieser, „Dank Renee konnten wir das Schiff aufspüren. Ost...”
„...sibirische Ebene ... ich erinnere mich.” Der Implantant runzelte die Stirn und seufzte. „Drüben war ich ein übler Kollaborateur - und hatte Hybriden bei Doors International eingeschleust ...” Er sah seinen Sohn besorgt an.
„Genau das ist ein Problem, ja: Irgendjemand hat eine Atavus-Kammer in Neuseeland gefunden. Die Kapseln sind leer - und es fehlen zwei. Wir sind immer noch nicht in der Lage, ohne vollen Scan einen unechten Hybriden von einem Menschen zu unterscheiden.” Der Kimera verzog das Gesicht. „Rein zufällig sind heute zwei Hybriden bei Mecatech aufgeflogen.”
„Jemand hybridisiert im Akkord”, verstand Ronald, „sehr übel.”
„Ja. Gabriel organisiert gerade, dass die wichtigsten Militärs einem Vollscan zustimmen, aber zwingen können wir da keinen. Und schon gar niemanden in der Wirtschaft.”
Gabriel ... Ron sollte vielleicht doch einmal von diesem Dach herunterkommen, er hatte schließlich auch nur am Rande mitbekommen, dass der Mensch inzwischen unechter Kimerahybrid war.
„Aber eine Prävention könnten wir bald haben”, fuhr Ga'hil fort, „Renee sagte, sie ist vor Atavus-induziertem Energiekontakt geschützt. Sie ließ es sogar von Gren testen - und sie hat recht. Wir wissen nur nicht warum, denn an der Grundenergie alleine kann es nicht liegen.”
„Die Kontaminierten waren nicht vor Energiekontakt geschützt”, wusste Ronald.
„Genau”, sagte der Kimera und stand auf, „und dieser Forschung werde ich jetzt zusehen gehen.” Er war schon fast beim Dachfenster, als er sich wieder umwandte. „Oh, was ich noch sagen wollte: Krallen-Renee war nicht im Atavus-Gemeinwesen. Sie hatte ein CVI mit dem Imperativ, nicht auf das Gemeinwesen zu hören.”
„Sie war ... sie selbst?”
„So ist es.”

Und damit war Ga'hil durch das Fenster geklettert und Ron allein. Der Implantant seufzte laut auf - er mochte sich gerade nicht vorstellen, wie sich Renee damit fühlte. - Einige Minuten saß er alleine da, dann fand er es heraus: Sie grübelte. Wortlos setzte sie sich neben ihn und starrte ins Nichts - einige Augenblicke später blieb ihr Blick allerdings am um die Regenrinne geschlungenen vom nächsten Haus herüberwachsenden dunkelblauen Tentakelausläufer hängen.
„Die Tentakelpflanzentiere wachsen durch die ganze Stadt”, Ron zuckte knapp mit den Schultern, „Das ist Serkui, sein Keim ist in Di'nans Haus, das ist das übernächste.”
„Taelontechnologie.”
„Befreite Züchtungen”, widersprach er, „Sie kennen doch Paizhat in Liams Haus. Er ist der Urahn. Und Serkui ist vor allem ... und wenn ich es gerade erzählen will, da ist er ja.” Er wies auf Kater Sokrates, der stolz über seine persönliche Brücke von Haus zu Haus spaziert kam. „Sokrates? Miau?”
Der Kater maunzte und spazierte vorbei, tat einen Satz auf das Dachstück oberhalb des Fensters und hockte sich dort hin.

„Ich habe gehört, es ist Gesetz, dass die Grübelnden einander sagen, worüber sie grübeln”, sagte Renee schließlich, „Könnte das ein Grund dafür sein, dass Mrs. MacDougal auffällig unauffällig ständig nachsieht, ob Sie noch hier sind?”
„Zoriel grübelt?”, mit einem Mal war Ron besorgt, „Worüber?”
„Weiß der Geier. Sie scheint es Ihnen ja auch nicht sagen zu wollen.”
„Sie sind aber nicht deswegen hier, oder?”
Renee schüttelte den Kopf. „Nein. Ihr Sohn hat Ihnen doch vom Imperativ in ... meinem Kopf erzählt: Hör nicht auf das Gemeinwesen.” Sie seufzte laut auf. „Sie hat all das selbst getan, ohne Zwang. Sie hatte die Möglichkeit, sich auf die Hybridisierung vorzubereiten. Möglicherweise hat sie sich auch bewusst dafür entschieden! Ronald, mir ist schlecht.”
„Ich kann es Ihnen nachfühlen, Renee”, sagte Ron, „Ich hatte in Ihrem Universum nicht bis zum Schluss den Imperativ. Nach und nach sind alle Motivationsblöcke ausgefallen, und am Schluss war keiner mehr übrig.”
„Das wollte ich Ihnen eigentlich ersparen, aber das nützt wohl nichts, wenn Sie sich ja an drüben erinnern können. Tut mir leid.” Sie ließ den Kopf fallen und rieb sich über das Gesicht. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?”
„Nur zu.”
„Wenn Sie in einem anderen Universum wären, in dem Mabel mit jemand anderem verheiratet ist - würden Sie ihr sagen, wie es hier ist?”
Er sah sie an und verzog das Gesicht. „Nein ... ich denke nicht. Wobei, ich weiß nicht - es würde davon abhängen, wie sehr ich sie drüben vergrault habe.”
„Ja ... ich dachte mir schon, dass mir das nicht helfen wird”, murmelte Renee, „Ich habe das ungute Gefühl, ich würde den beiden ... den dreien nur verdammt viel Ärger machen, wenn ich es sage. Aber ...” Sie biss sich auf die Lippen und sagte leise: „Ich vermisse ihn.”
„Street findet bestimmt heraus, wie es Sie hierher verschlagen hat”, sagte Ron.
„Ich weiß. Sie ist ein Genie”, sagte Renee, nach einem Moment später beschloss sie: „Ich werde es Liam nicht sagen - Sie können das tun, sobald ich weg bin, wenn Sie wollen.”
„Ja.”
„Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich noch ein bisschen sitzenbleibe?”, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Bleiben Sie nur - vielleicht frage ich Sie allerdings über den Hintergrund einer merkwürdigen Erinnerung aus.” Sie neigte knapp den Kopf und blickte über die Dächer. „Zum Beispiel ... die Kryssfelder”, fiel ihm sein Traum ein, „Ich war nur einmal in einer solchen Anlage, da war ich gerade ein Jahr lang bei der Companion-Sicherheit - aber in Ihrem Universum später noch einmal, richtig?”
„Richtig”, bestätigte sie, „Liam und ich haben die Anlage abgefackelt - Sie waren auch da, allerdings in Ihrer Funktion als Zo'ors Scherge.”
„Wann war das in etwa?”
Renee dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie: „Spätherbst, 2013.”
„Herbst 2013 ... da habe ich meinen Sohn gefunden”, murmelte Ronald, „Mitte Oktober ... und dann zog es sich bis Anfang Dezember.”
„Es ... zog sich? Inwiefern?”
„Er musste mein Gedächtnis löschen, weil der Imperativ regenerierte. Ich habe ihn also gewissermaßen zweimal gefunden.”
„Ah”, sagte Renee, „Ich erinnere mich, er hat das erwähnt.” Ein Schmunzeln zog über ihr Gesicht. „Er hat auch erwähnt, dass damals auch seine Tochter geboren wurde - und dass er reichlich verdutzt war, eine zu haben.”
„Oh ja, er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen, als ich ihm von Joyces Schwangerschaft erzählte”, Ronald grinste, „aber ich hatte da gerade mein Gedächtnis nicht und keine Ahnung von meinen Großvaterfreuden.” Er musterte Renee, die geistesabwesend in den Himmel sah. „Ein Fass Taelonenergie zum Mitnehmen und ein Besuch bei Second Chances?”, fragte er.
„Ich wollte nie einen Gefallen von den Taelons!”
„Überlegen Sie es sich”, sagte er lächelnd, stand auf und kletterte durch das Dachfenster. Unten an der Treppe traf er auf Zoriel, die ungleichmäßig blau schimmerte und mit geschlossenen Augen und auf den Bauch gelegten Händen an der Wand lehnte. „Zoriel?”, fragte er sie leise, „Alles in Ordnung?”
Die Atavus riss erschrocken ihre Augen auf und sah sich hektisch um. „Ronny! Ich hab dich gar nicht gehört!”
„Geht es dir nicht gut?”
Sie biss sich auf die Lippen. „Nein. Lass mich in Ruhe!” Wut flackerte in ihren Augen - Ron wusste, sie konnte auch einen unvorsichtigen Helfer treffen.

Er war im Moment nicht in der Verfassung, der Atavus zu helfen. Er sprach sie nicht an, wann immer er ihr an der Treppe begegnete. Sie war von Tag zu Tag ruhiger, zunehmend war auch Damien bei ihr - aber die Wut ging nicht weg. Was war nur los? Was hatte Ron verpasst?
Renee kam hingegen nicht mehr, auch Liam hatte sein Problem mit der ehelichen Resonanz bald gelöst. Frank setzte sich einmal dazu - Kural hatte ihm tatsächlich eine Diät verschrieben, der Schuft! Bei der Gelegenheit wehte es dem vollschlanken Koch auch noch sein Haar vom Rathaus - am nächsten Tag zeterte er über seine ach so guten Freunde, die ihn fleißig aufzogen: „Toupet or not Toupet.”
Und dann war da Janie, die ihren ersten Liebeskummer beweinte: Sie hatte sich in Dominic verguckt und wurde nicht einmal wahrgenommen. Da konnte ihr Ron leider nur sagen, was sonst jeder in der Stadt wusste: Dominic war voll der Kimera-Freak und übersah alles andere notorisch.
Nach insgesamt siebzehn Grübeltagen kam abends Liam, Mensch-Liam, aufs Dach geklettert und seufzte eine Begrüßung. Ron sah ihn müde an - er konnte kaum mehr schlafen, er hatte Albträume. Ein in diesem Universum nur vage geplantes Hybridexperiment war drüben durchgezogen worden, und zwar von Agent Ronald Sandoval. Ron aß auch nicht mehr, da half nicht einmal der Hotdog, den ihm Liam gerade in die Hand drücken wollte.

„Vater, Hungerstreik und Schlafentzug helfen dir nicht!”
„Ich würde ja essen, aber behalte du das Essen mal drin, wenn du die Dinge sehen kannst, die ich sehe.” Ron rümpfte die Nase und versuchte, den herbeischwirrenden Gedanken an quasi hirntote menschliche Brutkästen zu vertreiben. „Lenk mich ab. Was ist los?”
„Krallen im weißen Haus, der Präsident liegt kräftig gepikst im Krankenhaus. Es ist unklar, ob er es überlebt.”
Das lenkte Ronald tatsächlich ab - er starrte seinen Sohn entsetzt an. „Wie kommen die da rein?”
„Sie haben einfach Senatorin Bellamy aus ihrer Wohnung geholt und hybridisiert, sie kam problemlos rein”, erklärte Liam, „Ich habe Jameson vom Secret Service den Kopf gewaschen. Es kann nicht angehen, dass nur zur vollen Stunde oder während eines Spiels der Kimeran Green Wolves auch bekannte Politiker gescannt werden, es muss jedes Mal passieren.”
„Und?”
Oh, das ist furchtbar teuer ... wissen Sie, was ein Vollscan kostet? Rechnen Sie das mal hoch, Mr. Beckett!
Ron rollte mit den Augen. „Was für ein Idiot.”
„Finde ich auch.” Liam biss vom Hotdog ab und setzte sich bequemer hin. „Falls du auch deine Familieninterna nicht mitbekommst: Neville hat sich in den Kopf gesetzt, in Prag weiterstudieren zu wollen und sich inzwischen auf die Suche nach einer Studentenbude gemacht.”
„Wieso in Prag?” Ronald runzelte kurz die Stirn, dann schlug er sich die Hand vor selbige. „Ludmila Heidanková!”
„Exakt. Ihr Auslandssemester ist vorbei - da will er ihr halt nach.”
Ron seufzte. „Meinst du, ich kann ihn davon noch abhalten?”
„Nein. Er wurde von der TU Prag nämlich schon angenommen und wird das sicher nicht in den Wind schießen - die haben die beste Fakultät für Nanotechnologie und auf genau das will er jetzt umsatteln.”

Jetzt zog auch noch der letzte Sohn aus ... Ronald fühlte sich schon einmal prophylaktisch einsam. Andererseits war es absolut nicht ohne, dass seine Söhne allesamt etwas Ordentliches wurden: Joker der Menschheit, Interspeziesmediator, Shuttlekonstrukteur und Nanophysiker. Er konnte stolz sein, wirklich.

Nach seiner Mahlzeit kletterte Liam wieder durch das Dachfenster und sowie er weg war erschien Zoriels Kopf in selbigem. „Du bist ja wirklich ständig hier ... aber du siehst auch total kaputt aus.”
„Ich kann nicht mehr ...”, sagte Ronald seufzend und wies auf das Buch neben ihm.
„Historische Enzyklopädie - 2011 bis 2020”, las Zoriel den Titel vor und kletterte durch das Fenster, „Du kannst nicht mehr unterscheiden, was in welchem Universum war.”
„Ganz genau”, er raufte sich die Haare, „aber in dem verdammten Buch steht kaum etwas drin! Ich meine, die großen Fakten stehen drin, ja, aber ich weiß ja eigentlich viel mehr als da drin steht ... sofern ich eben weiß, dass es wirklich in diesem Universum passiert ist.”
„Hmm.” Sie setzte sich neben ihn. „Ronny ... als ich bei den Atavus war ... Howlyn ...”
Howlyn - Ron kannte ihn besser, als er ihn aus nur diesem Universum kennen dürfte. „Was hat er getan?”
„Ich konnte es nicht ...” Sie seufzte und blickte über die Stadt. Ron legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte aufmunternd. „Ich bin dort raus, ja”, murmelte sie und sah ihn bedrückt an, „aber ich war schwanger.”

Schwanger?

„Howlyns Brut. Immer wieder habe ich mich hingesetzt und meine Energie gesammelt ... um dem ein Ende zu setzen ...” Sie legte sich ihre Hände auf den Bauch und senkte den Blick. „Howlyns verdammte Brut ... aber auch mein Kind! Ich konnte es nicht.”
„Es kann nichts dafür”, versuchte Ron einen möglichst hilfreichen Kommentar.
Zoriel schüttelte langsam den Kopf. „Nein, konnte es nicht ... gestern Abend hat es begonnen, Körperenergie auszubilden.” Unruhig knetete sie ihre Hände. „Ronny, wir konnten es spüren, es war da, so lebendig, so unschuldig ... und dann hat es Grundenergie differenziert und ... und ... vor einer halben Stunde ist es gestorben.”
Er legte ihr schweigend einen Arm um die Schultern und drückte sie an sich.
„Es war meines, nicht Howlyns!”, fauchte sie plötzlich, „Es hatte ja sein Gedächtnis nicht. Nur meines!” Ron musterte sie einen Moment lang irritiert, dann legte er auch noch seinen freien Arm um sie und schluckte die Frage hinunter. Zoriel schluchzte nun seine Schulter nass und klammerte sich sehr fest an ihn. „Was soll ich nur tun?”
„Was möchtest du denn tun, Zoriel?”, fragte er leise.
„Ihm den Kopf abreißen ... aber er ist ein Gefangener und Liam sagt, wir töten keine Gefangenen. Schade ...”
„Außerdem”, gab Ronald zu bedenken, „fragt dann jeder, warum du ihm den Kopf abreißt.”
Zoriel lehnte sich gegen ihn und grummelte leise: „Stimmt ... leider.” Sie schob sich etwas von ihm weg und zog eine Grimasse. „Nicht zuletzt Howlyn würde das fragen - und er ist der allerallerletzte, der es wissen soll. Verdammter Mistkerl ...”

Sachte fasste Ron sie an den Schultern. „Möchtest du davon erzählen?”
„Nein, ... na gut, doch ...” Sie seufzte laut auf. „Es ging so schnell, Ronny, wir waren fast sofort in voller Resonanz, das habe ich noch nie erlebt ...”
„Und das ist schlecht, nehme ich an.”
„Hmm, nein, also bei Damien wäre es gut”, sie verzog das Gesicht noch etwas mehr, „Jedenfalls war ich völlig überrumpelt und habe instinktiv gerade verkehrt reagiert.” Kurz starrte sie düster über die Dächer der Stadt, dann fand sich ein schwaches Lächeln auf ihrem Gesicht. „Wenigstens hat Howlyn davon nichts bemerkt - er hatte in dem Moment genug Ärger mit der Grundenergievergiftung.”
„Denn weil er mit dir in Resonanz war, ist die Grundenergie in Nullzeit komplett durch ihn durch”, verstand Ronald. Zoriel grinste böse und nickte.

Still blickten die beiden dann eine Weile über die Stadt. „Und wie kommst du voran?”, fragte die Atavus schließlich.
Er seufzte. „Ich habe keinen Anhaltspunkt mehr ... die Erinnerungen beginnen, sich zu vermischen, glaube ich. Vielleicht.”
Sie runzelte die Stirn. „Oh, aber du kannst mich ja fragen, ob die Erinnerung in dieses Universum gehört.”
„Habe ich Liam mal gefoltert?”, fragte er.
Zoriel zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls nicht in Zo'ors Auftrag. Frag das besser Liam.”
Ronald griff nach dem fröhlich vorbeispazierenden Kater und knuddelte ihn zu einer schnurrenden Kugel zusammen. „Habe ich Liam mal ein Überwachungs-CVI eingepflanzt?”
„Nicht in Zo'ors Auftrag”, die Atavus schüttelte den Kopf, „Ich denke, du solltest mich eher Dinge über Zo'or fragen, da kann ich dir dann nämlich sogar helfen.”
„Hat Liam mich mal verhört?”
„Woher soll ich das wissen?”, sie seufzte, „Erinnerst du dich eigentlich an irgendetwas anderes als Verhöre?”
Ronald stutzte kurz, dann nickte er. „Dass ich Zo'or verraten habe.”
„Hast du. Du hast ihn entführt.”
„Und versucht, ihn ins All zu verfrachten? Im Portal hatte ich ihn schon ...”
„Nnnein ... daran würde ich mich bestimmt erinnern.” Zoriel schüttelte sich etwas.
„Er war in einer Art Starre ...”
„Sicher nie.”
Ron musterte die Atavus kritisch. „Würdest du dich daran erinnern, wenn Zo'or ja in einer Starre war?”
Sie zog einen Mundwinkel hoch und legte Ron eine Hand auf die Schulter. „Ronny, du hast mir all deinen damaligen Hass auf Zo'or haarklein erzählt - und das hättest du nie und nimmer ausgelassen.”

Das war natürlich ein Argument.
Sie wusste das im Moment auch viel besser als er. Nur bei wenigen Erinnerungen aus der fraglichen Zeit konnte er ganz sicher sagen, aus welchem Universum sie kamen. Energisch schüttelte er sich und beschloss, Zoriel nichts von seinen Erfahrungen mit Juda zu erzählen - die waren nämlich von drüben und würden die vereinigte Atavus unangenehm an ihr Erlebnis mit Howlyn erinnern.

„Ausgestorben”, murmelte Zoriel derweil nachdenklich, „Drüben sind Taelons und Jaridians ausgestorben - Ronny, weißt du, was mit Ariel drüben ist?”
Und da schwappten die Erinnerungen wieder ... Ron drückte mit beiden Händen seinen Schädel zusammen, um ihn am Platzen zu hindern.
Ariel ...
Vorjak hatte Ronald um einen Ratschlag bezüglich Lili geradezu angefleht ... und Ron ... hatte ihn mit „Vertrauen Sie ihr halt” abgewimmelt. Oder nicht? Er hatte ihm doch zu einer Simulation geraten ... oder?

Das wusste am ehesten Vorjak. Ron überreichte also den Kater an Zoriel und kletterte durch das Dachfenster ins Haus und die Treppe hinunter. Er fand den Jaridian schließlich mitten im See und da es sich auf die Entfernung nicht gut unterhielt, holte er sich schnell eine Badehose und gesellte sich dazu.
Im Gegensatz zu Vorjak fand er es zwar reichlich frisch, trotz August, aber den schwirrenden Kopf zu kühlen schadete bestimmt nicht.
„Es wäre einfacher, wenn es wirklich andere Erinnerungen wären, hmm?”, fragte der Jaridian.
„Das kannst du laut sagen ... es ist, als würde alles verschwimmen.”
„Du willst mich etwas fragen - du frierst nämlich”, bemerkte Vorjak und brutzelte per Shaqarava einen surrenden Blutsauger.
Ron bekam davon erst einen Schrecken, dann einen Schwall Wasser ins Gesicht und schließlich ... zurückgelassen! Wie konnte Vorjak nur verächtlich grinsen und sich abwenden, wo Ronald ihm all dies erst ermöglicht hatte?
Kein Skrill mehr, zu schade ...

Mit den Fäusten voran schnellte Ron auf den überraschten Jaridian zu und tauchte ihn kräftig unter ... tauchte ihn unter? Egal, sollte der doch da unten bleiben, Ron sorgte dafür, so gut er konnte.
Vorjak wehrte sich leider, das Wasser schlug über dem Implantanten zusammen und drang in Nase und Mund. Aber selbst bei dieser katastrophalen Entwicklung blieb es nicht .. durch Shaqarava gelähmt konnte Ron nur hilflos zusehen, wie Kayla ihn ans Ufer zog, sich über ihn beugte und ihm einen Kuss gab. Er ignorierte sie, so gut er konnte.
Nebel um ihn, er fiel - Liam und Renee standen vor ihm und ersterer richtete seine Waffe auf ihn. Ron hob schnell seinen Skrillarm und zuckte zurück, als Renee heransprang und diesen mit ihren Krallen bis auf die Knochen aufschlitzte. Tate griff ihm hilfsbereit unter die Arme und zog ihn in Sicherheit - in
Sicherheit? Dort wartete William mit erhobener Waffe auf sie und Ron hatte gerade genug Zeit, zu erschrecken, bevor er Tates Handkante gegen den Nacken bekam.

Schwärze, Stille, nichts mehr.

* * *

Jemand hielt seine Hand, es fühlte sich angenehm an. Langsam öffnete Ronald seine Augen und traute selbigen nicht.
Maiya!
„Ron!”, sie strahlte ihn an, „Wie fühlst du dich?”
„Durcheinander.”
„Ja, das ... haben wir bemerkt.” Sie seufzte leise, dann lächelte sie wieder. „Du hast ganz schön rumgezappelt und dich gewehrt.”
„Was ist passiert, Maiya?”
Sie stutzte deutlich - warum? Fest umfasste sie seine Hände, dann sagte sie: „Du erinnerst dich doch an ... uns? Bitte erinnere dich, ja?”
Woran? Er schüttelte langsam den Kopf, worauf sie in Tränen ausbrach. Ein junger Asiate kam schnell herbei und legte ihr fürsorglich einen Arm um die Schultern.
In Rons Verstand klickte es: „Jay ... Mabel!”
Ron!”, sie umarmte ihn heftig, „Du hast mir einen üblen Schrecken eingejagt.”
„Mabel, was ist passiert?”
„Die Erinnerungen aus dem anderen Universum haben sich in den Vordergrund gedrängt”, erklärte sie sanft, „aber du wirst dieses Chaos ordnen.” Energisch nickte sie. „Wenn du gleich auf mich gehört hättest, würdest du bestimmt nicht hier liegen!”
Jay rollte mit den Augen. „Mum ...”
Ron hingegen ließ sich von ihrem strengen Lächeln anstecken. Wie hatte er nur ihre Liebe vergessen können? Wie hatte er Jay vergessen können? Aber jetzt wusste er es wieder. „Wer ist denn dafür zuständig?”, fragte er und zog an den Fesseln.
„Das war Louise, nachdem sie ein paar mal von dir eine gewatscht bekommen hat”, erklärte Jay, „Warte, ich mache die Dinger auf.” Er begann, an den zugehörigen Schnallen zu rütteln und schaffte es trotz dieser dilletantischen Vorgehensweise, Ron von den Fesseln zu befreien.
So fühlte sich der Implantant schon viel besser. Trotzdem blieb das bittere Gefühl der Enttäuschung - aber worüber? Sein Implantat half ihm nicht, sowie er versuchte, sich zu erinnern, brummte sein Kopf nur noch.

„Hey, Ronny, du bist ja wach!”
Ron fuhr erschrocken zusammen und musterte die strohblonde junge Frau. Kein Misstrauen brodelte in ihm hoch, obwohl er eben dies tatsächlich erwartet hatte - aber er erkannte sie auch nicht und sah zweifellos entsprechend ratlos drein.
Jay stieß ihm den Ellbogen in die Seite und flüsterte: „Das ist Louise!”
Rons CVI war gerade wirklich nicht sehr nützlich. Irgendetwas war hier faul. Er lächelte freundlich.
„Du grübelst, Dad, ich sehe es dir an”, sagte Jay, „Ich versichere dir, du kannst Lou trauen. Sie hat dich nur gefesselt, damit du ihr nicht wieder eine runterhaust.”
Sagte Jay! Konnte Ron ihm denn trauen?
All das könnte ja schließlich ebenso eine Simulation sein - und sein CVI war entfernt oder irgendwie deaktiviert!
Gute Miene, Ron, mach schön eine gute Miene.

Das fiel ihm leicht.
Er fühlte sich nämlich wohl hier - von Mabel umsorgt, von Louise auf angenehme Art untersucht und von Laurie bekocht. Wenn es eine Simulation war, dann eine außerordentlich wohlschmeckende. Es war für eine Simulation auch ungewöhnlich, ihn nur mit einer Handvoll Leuten (und einem Kater) bekannt zu machen, aber klar zu machen, dass die Stadt ein paar tausend Einwohner mehr hatte.
Vier Tage lang war er freundlich und nett und versuchte unauffällig, mehr zu erfahren, als ihm zugestanden wurde, dann war seine Geduld am Ende und er schlich sich zu einer Art abendlicher Besprechung in „Franks Kochmütze”. Gekonnt huschte er durch das erstaunlicherweise völlig leere Lokal und hockte sich in eine Ecke - Schirmständer und Mantelständer (beide derzeit eher als Lager für einstaubende Winterbekleidung genutzt) dienten ihm als Deckung.

„Hmm?” Renee Palmer hob ihren Kopf aus einem Berg aus Büchern. „Ah, Lili, schön, Sie zu sehen.”
Die Schrecksekunde hatte es in sich gehabt ... Ronald würde ab jetzt noch viel viel leiser sein.
Während durchgehend herzlicher Begrüßungen trafen weitere Bekannte ein: Street, Tate, Boone, Mabel - und Unbekannte: eine grauhäutige Atavus mit Jaridianstirn und Taelonaugen, ein Asiate und eine Asiatin sowie ... ein Kimera.
„Und wie steht es so?”, ergriff der Asiate das Wort, als alle saßen.
„Wie gehabt”, sagte Mabel, „er erinnert sich nicht und ist misstrauisch.”
„Autsch”, machte die Asiatin, „Können wir ihn nicht einfach konfrontieren?”
Lili schüttelte den Kopf. „Das letzte Mal wäre er doch fast abgesoffen, Harmony. Wir müssen wahnsinnig aufpassen und es sehr bedacht angehen.”
Mabel seufzte. „Was schwierig ist, wenn Neville mich ständig mit seinem Geheule, dass er einen sich am Familienleben beteiligenden Vater will, nervt.”
„Ach deshalb hast du ihn bei uns einquartiert ...” Lili grinste.
Mabel erwiderte das Grinsen. „Du hast ja Platz, wo Vorjak es sich in Pepes Studentenbude gemütlich macht.”
Vorjak! Ron biss die Zähne zusammen und versuchte, nicht zu knirschen.
„Meine Damen”, brachte sich der Kimera ein, „Was machen wir jetzt? Es kann nicht ewig so weitergehen, irgendwie muss er sich erinnern.”
„Sharing”, schlug Harmony vor.
„Ich bezweifle, dass ich ihm in meinem Zustand geheuer bin, Harmony.”
„Daaad ... ich meinte natürlich mich!”
„Könnte vielleicht funktionieren”, stimmte Mabel zu, „Ron hat sich ja auch spontan an Jay erinnert, also warum nicht auch an Harmony?”
„Soll ich gleich los?”, fragte die Kimerahybridin.
„Nein”, kam von Street, sie begann, in ihrem Rucksack zu graben. Ron reckte den Kopf, als sie eine graue Stoffkugel auf den Tisch legte und selbige theatralisch auspackte - der Inhalt sah wie ein melonengroßer, leuchtender Bernstein aus. „Hat heute Mittag zu leuchten begonnen”, erklärte Street.

„Nicht nur das!”

„Ah, du siehst es also auch, Harmony”, war die Rothaarige zufrieden, „Magst du es erklären?” Kopfschütteln. „Also gut”, sagte Street, „es ist ein multidimensionaler Vektorgenerator. Damit erzeugt man dimensionale Passagen, ohne das Shuttle beinahe in Atome zu zerlegen.”

„Es ist mehr als nur eine Energiequelle?”, war Renee perplex.
„Viel mehr”, sagte Street und strich mit vier Fingern in merkwürdigen Mustern über die Kugel, „Ich hoffe, ihr gewöhnlichen Vierdimensionalen könnt wenigstens die Ausgabe sehen, wenn schon nicht die ganzen bunten Knöpfe.”
Die gewöhnlichen Vierdimensionalen konnten - jedenfalls konnte es Ron.

Ein gelb-rotes, irgendwie feuerartiges Energiewesen ohne jegliche Fassade sprach - allerdings zunächst unverständlich. Es benutzte nacheinander mehrere Sprachen, die Ron allesamt ein Rätsel waren, doch an neunter Stelle sprach es eine Eunoia-Variante.
„Wir sind Gnevo. Ihr werdet keinen von uns mehr finden, da es uns in eurem Universum nicht mehr gibt, aber wir sind nicht ausgestorben. Es steht euch frei, unser System selbst zu benutzen - wir brauchen es nicht mehr.”
„Was hat er gesagt?”, fragte Frank.
„Dass er und seine Leute nicht mehr in ... Renees Universum sind und wir den Kram gern benutzen dürfen”, erklärte Harmony, „und das auf Kimerianisch. Er hat noch ein paar andere Sprachen bemüht, aber davon habe ich keine verstanden und gerade mal zwei überhaupt erkannt.”
Tate runzelte die Stirn. „Das Ding muss uralt sein ... vier Millionen Jahre? Kommt das hin?”
„Älter, sonst hätte er taelonisches Eunoia benutzt”, widersprach die Atavus, „Ich schätze mindestens sieben Millionen.”
„Neun Millionen”, korrigierte der Kimera, „dann passt nämlich der Mythos der Verschwundenen zeitlich dazu.”
Harmony und der andere Asiate nickten verstehend, die anderen Anwesenden eher verblüfft. Street, die die Rede des Gnevo derweil unterbrochen hatte, blickte kurz prüfend in die Runde und ließ den Alien dann weitersprechen.
„Sobald das voraktivierte Gerät in die Interdimension gebracht wird verknüpft es alle seit der Voraktivierung getrennten beziehungsweise, falls die Energie dafür nicht genügt, die maximal erreichbaren Universen und markiert eines davon zufällig als das Zieluniversum. Alle Passagen aus sämtlichen betroffenen Universen werden dann nach der Sekundäraktivierung in jenes führen.”
„Meine Güte!”, Harmony machte große Augen, „Wow ...”
„Was hat er gesagt?”, fragte Frank.
„Das Ding ist dafür da, eine Gruppe Leute in einem Universum zu konzentrieren”, erklärte sie, „Samt mehrfacher Verschmelzung, wie Maiya und Isabel eine gemacht haben. Die Gnevo hocken in irgendeinem Universum da draußen und sind quasi unsterblich, weil sie kaum altern.”
„In vielen Universen, weil die sich ja auch wieder trennen”, korrigierte der andere Asiate, „Aber möglicherweise ziehen die Gnevo dasselbe Spiel ja auch immer wieder durch ...”
„Dad ... das ist wirklich schräg.”

Diese Harmony hatte zwei Väter? Sehr interessant.

„Das bedeutet dann aber auch, dass unser Universum als Zieluniversum markiert wurde”, bemerkte Tate, „also dürften möglicherweise noch ein paar Leute aus anderen Universen herum sein, oder? Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass in zig tausend Universen niemand sonst so ein Ding gefunden hat.”
„Nein, wenigstens das nicht”, widersprach Street, „Die Sekundäraktivierung war noch nicht, ich konnte sie hinauszögern. Offenbar ist durchaus eingeplant, dass sich das Zieluniversum auf die logistische Herausforderung vorbereitet.”
„Die Gnevo haben das ganze System einmal deaktiviert”, überlegte Renee, „also sollten wir das auch schaffen.”
„Gut dreieinhalb Jahre nach Sekundäraktivierung - und zwar automatisch”, sagte die Rothaarige seufzend.

Lili hob einen Finger und ergriff das Wort: „Ich habe eine prinzipielle Frage. Warum hat Renee die Kugel überhaupt gefunden? Die müssten sich doch auch in einem Universum konzentrieren, oder?”
Einen Moment lang waren alle recht ratlos, dann setzte sich Harmony verdutzt ganz aufrecht hin. „Sie pendeln”, sagte sie aufgeregt, „Die Dinger kehren wieder ins angestammte Universum zurück, um die nächste Ladung Leute zu transportieren.” Sie musterte die Blonde. „Renee, Sie könnten einfach in ein Shuttle steigen und losfliegen, sie würden zuhause landen.”
„Sind Sie sicher?”
Street runzelte ihre Stirn und blickte auf die Kugel, dann sagte sie verwundert: „Harmony hat Recht ... und zudem sollten Sie das tun, Renee, denn sowie Sie in Ihrem eigenen Universum sind, dürften Sie Zugriff auf eine weitere Gruppe Steuerungsfunktionen haben - möglicherweise können Sie das System dann komplett deaktivieren.”
Renee freute sich offensichtlich, doch sie hatte auch Zweifel anzubringen: „Street, ich werde bestimmt keinen Zugriff auf Steuerungsfunktionen haben. Ich kann sie nämlich nicht sehen.” Sie benagte einen Moment lang ihre Unterlippe, dann sagte sie: „Sie können nicht mit, es gibt Sie drüben ja.”
„Bei mir dauerte es über zwei Monate, bis das Universum beschloss, dass es nicht Maiya und Isabel geben darf”, widersprach Mabel, „und Sie waren ja auch schon gut eine Woche hier, bevor Sie Ihre ersten Anfälle hatten, Renee.”
„Das könnte bedeuten, dass das Universum, nun, wachsamer wird”, warf Tate beeindruckend philosophisch ein, „Wir sollten da besser kein Risiko eingehen.” Er sah Harmony an.
„Nein”, sagte der zweite Asiate sofort, „wenn wir kein Risiko eingehen sollen, ist es nichts für Harmony. Vater sagt, die Universen haben sich etwa Frühling 2013 merkbar getrennt - und zur Sicherheit sollten wir davon ausgehen, dass sie sich tatsächlich genau dann getrennt haben.”
„Ähm ... und?”
„Da war Mum schon schwanger”, erklärte Harmony, „ziemlich lange sogar schon.”
„Echt jetzt?”, war Tate baff.
„Frank ... die Mutterschiffkollidiererin, weißt du noch?”, Lili stieß ihn in die Seite, „Das war damals schon!”

Jetzt war Ronald in seinem Versteck auch baff - beinahe zu baff, um stillzuhalten. Harmony war Joyce Belmans Tochter? Es erklärte freilich, dass sie wie Street mehr sehen konnte als die gewöhnlichen Vierdimensionalen.
Hoffentlich konnte sie nicht auch Gedanken lesen ... Rons zum Beispiel.
Sie machte nicht den Eindruck, jedenfalls schien sie nicht zu wissen, dass Ron hier hinter Schirmständer und Mantelständer hockte und sich bemühte, möglichst keinen Muskel zu rühren - und das war gar nicht so einfach! Wann war Ronald nur so fürchterlich alt geworden?

„Tja ... ich denke, die Wahrscheinlichkeit ist recht gering, dass es Ihre Tochter in meinem Universum gibt”, sprach Renee nach einer Denkpause Street an, „wobei ich es nicht sicher sagen kann.”
„Mehr Auswahl haben wir nicht”, gab die Rothaarige zu, „Ich weiß niemanden sonst, der über eine multidimensionale Wahrnehmung verfügt ... jetzt abgesehen von Harmonys Mutter, die ja auch nicht zur Wahl steht.”
Der Kimera nickte, gab allerdings zu bedenken: „Lil sollte nicht als Einzige mit.”
Frank runzelte die Stirn. „Wen würdest du noch schicken, Liam?”
Liam?
„Deram, falls es beim Flug einen Zwischenfall gibt - und einen Taelon, am besten wohl Da'an.”
„Zo'or”, sagte die grauhäutige Atavus energisch, „Renee sagt, drüben war Zo'or bis zum Ende Synodenführer, also ist Zo'or die beste Wahl.”
„Wäre”, widersprach Liam, „Du kannst nicht hinüber, du bist auch Ariel!”
„Ja, stimmt”, sagte sie, „aber wenn ich mich von dieser Atavus-Waffe aufspalten lasse, stehe ich nicht so blöd da wie du und dein Mensch-Ich!”, sie wies auf den Asiaten, „Ich kann problemlos wieder eins werden!”
Lili, deren Gesicht eine schnelle Wandlung von Verblüffung über Sorge bis hin zu Ärger durchmachte, platzte schließlich lautstark: „Vergiss den Quatsch, Zoriel! Das wirst du nicht tun!”

Zoriel!
Ronald verhinderte gerade noch, dass ihm ein Laut der Überraschung entglitt. Hier war einiges faul - und es stellte sich ihm auch die Frage, ob dieser Liam wirklich der Liam war, an den er gerade dachte. Kimera konnte ja noch sein, auch wenn der Gedanke, jahrelang mit einem solchen Alien zusammengearbeitet zu haben, Ron absolut nicht behagte - aber asiatisch sah Kincaid nun absolut nicht aus.

„Können wir das besprechen, wenn auch Da'an hier ist?”, grummelte Zoriel.
„Er wird dir nicht zustimmen!”, sagte Lili, „Du weißt das, er wird nicht zulassen, dass du dich so in Gefahr bringst, wenn es auch anders geht.”
„Ja, er war ja auch dagegen, dass du dich bei den erweckten Atavus einschleichst”, warf Harmony ein, „Nein, du wirst dich nicht aufspalten lassen, ich verweigere meine Mithilfe: Ich setze Zo'or dann einfach nicht aus der Interdimension wieder zusammen. Also lass es!”

Ron war sehr perplex. Er wusste genau, das war absolut atypisch für Zo'or - aber wer hier verhielt sich schon typisch? Lili und Renee, höchstens. Gut, vielleicht auch Mabel. Doch, ganz bestimmt Mabel ... er wollte ihr trauen, so sehr, er liebte sie. Aber er konnte ihr nicht trauen, niemandem.

„Ähem, Ronny, was machst du da?”

Ron hob den Kopf und blickte über den Wintermantelberg hinweg in die grauen Augen einer sommersprossigen jungen Frau mit Käsebrötchentablett in ihrer linken Hand. „Laurie ...”
„Lauschen ist aber nicht die feine englische Art”, sagte sie, „Komm an den Tisch und iss was, tut dir nur gut. Du siehst aus, als könntest du dich hinter einem Besenstiel verstecken.”
„Unsinn, der Berg hier genügt ja offensichtlich auch nicht.”
Laurie lachte hell auf, schob den Berg samt darunter vergrabenem Schirmständer beiseite und reichte Ron eine Hand. „Ich finde es schade, dass du so durch den Wind bist und uns nicht traust - aber du kannst ja nichts dafür.”
Er ließ sich hochziehen und musterte die illustre Gesellschaft am Tisch - versammelte Besorgnis, kein Ärger. Er traute ihnen trotzdem nicht! „Guten Abend”, grüßte er höflich und setzte sich, wenngleich mit einem mulmigen Gefühl, an den einzigen freien Platz direkt neben dem Kimera. Gegenüber rückten derweil Renee, Lili und Tate näher zusammen und schufen Platz für Laurie - Tate legte ihr sogar einen Arm um die Schultern.

„Okay, wo waren wir?”, fragte Lili.
„Dass ihr mich sabotieren wollt!”, grummelte Zoriel.
„Es ist auch eine blöde Idee”, sagte der Kimera, „Spielt es nicht, aus, basta. Aber da wir gerade von der Atavus-Waffe reden - Harmony, bitte.”
Die Hybridin nickte. „Ja, klar. Ich habe mir Ma'els Verschmelzungsprogramm für die Atavuskapseln angesehen und beschlossen, dass der Kerl ein Genie war - und brav alles kommentiert hat er auch, sehr sympathisch.”
„Also steht Liam nicht mehr dumm da, weil du weißt, wie Kimera und Mensch wieder zusammengefügt werden können?”
„Nicht ganz, Lili, aber da ist immerhin ein Lichtstreif am Horizont. Ist doch auch was.” Harmony griff nach einem Käsebrötchen. „Renee hat mir erzählt, wie das Programm in ihrem Universum aktiviert wurde”, sagte sie, „aber Ma'el hat es anders geplant. Er hat nie erwartet, dass da ein Kimera beteiligt wäre, er beabsichtigte nur, dass ein Mensch mit seinen ... Modifikationen den Ablauf steuern würde.”
„Modifikationen?”, Street machte große Augen, „Du meinst ... mich?”
„Ja, dich. Deine Fähigkeiten wurden einzelnen menschlichen Erblinien von Ma'el gegeben. Genauso auch die Telepathie, ihr erinnert euch ja an Katya Petrenko.”
„Es lief nicht nach Plan bei uns?”, fragte Renee überrascht nach, „Ich meine, ja, es weckte die Atavus, aber ich dachte, das wäre eine erwartete Nebenwirkung, die Ma'el nicht kümmerte, weil es ja nur mehr die Menschheit betraf ...”
„Renee, Grandma hatte die Modifikation, und Dad hat sie auch”, sagte Harmony, „und dank seiner im Grunde multidimensionalen Natur konnte er in Ihrem Universum den Pool auch betreten, obwohl er kein solches Genie ist wie Street - aber seine Energie hat das Programm übergangen und alle in der Kammer anwesenden in die Multidimensionalität geschleudert”, kurzer Blick zu Zoriel, „und zwar ohne sie dabei wie Will damals, als du ihn umbringen wolltest, in die Einzelteile zu zerlegen.”
„Das heißt ... ich war drüben ein Elfdimensionaler, bis ich zurückkam ... vermutlich die anderen Elfdimensionalen irgendwie überzeugen konnte, dass es wirklich wichtig ist oder so”, verstand der Asiate zwischen Harmony und dem Kimera, „Warum auch immer. Sie sind ja üblicherweise eher sparsam mit Einmischungserlaubnissen.”

„Ein ... was?” Renee war fassungslos. „Sie meinen, er saß gar nicht in diesem Energiepool fest?”

„Ma'els Programm sah nicht vor, den Pool aufzufüllen”, erklärte Harmony und schüttelte den Kopf, „es waren nur die Atavus drin, die aus den Kapseln entmaterialisiert wurden, und natürlich die chiffrierte Substratenergie.”
Die Blonde versuchte sichtlich, ihre verlorene Fassung zurückzuerlangen. Schließlich fragte sie: „Was ist mit den Taelons und Jaridians, die in die Kapseln gegangen sind?”
„Sahen sich wohl plötzlich den Elfdimensionalen gegenüber, ohne selbst wirklich welche zu sein.” Harmony biss von ihrem Brötchen ab und redete mit vollem Mund weiter: „Ich bin überzeugt, dass sie am Leben sind, nur weiß ich nicht in welcher Form. Da ist alles möglich.” Sie schluckte, dann sagte sie grinsend: „Fragen Sie Ihren Kimera - er weiß es, er war dabei.”
„Ja ...”, murmelte Renee, „dann ist Da'an aber auch nicht der Richtige, um in mein Universum mitzukommen. T'than? Kann man ihm trauen?”
„Kann man, ja”, sagte Zoriel, „Auch wenn der höchste Punkt seines Körpers die Nase ist, ein Vertreter des Friedens ist er inzwischen durchaus.”
„Okay”, der Kimera lehnte sich zurück, „Renee, Sie kehren in Ihr Universum zurück und Lil, Deram und T'than begleiten Sie ... und Ni'jeg muss auch mit, damit T'than nicht versehentlich vom Gemeinwesen getrennt wird.”
„Dad, er ist acht!”
„Und dir fällt etwas Besseres ein? Die Taelonhybriden können T'than nicht stabilisieren.” Harmony hmpfte und aß den Rest ihres Brötchens. „Bleiben die Atavushybriden”, fuhr Liam fort, „ich werde mich diesbezüglich gleich mit Präsident Fairbanks unterhalten und ihm zu seiner Genesung gratulieren.”

„Bleibt Ronnys Problem”, sagte die Hybridin und schenkte Ronald an ihren beiden Vätern vorbei ein strahlendes Lächeln, „Du hast gelauscht, also weißt du ja Bescheid. Sharing?” Sie zeigte ihm einen kleinen orange leuchtenden Punkt in ihrer rechten Hand.
Ron fühlte sich bedroht und wich bis an die Kante der Sitzbank zurück.
„Danke”, missverstand ihn der Kimera und zwängte sich an ihm vorbei - „Danke, Vater”, sagte auch der Asiate neben ihm.
Vater?
Jetzt fühlte Ronald sich vor allem überrumpelt - und saß ohne Verteidigungsmöglichkeit direkt neben einer Kimerahybridin mit offen glühendem Shaqarava! Warum zwang sie ihn nicht einfach? Warum war nicht einfach sein Implantat entsprechend angepasst worden? Er kannte sich ehrlich nicht mehr aus ...
Sie war wohl seine Enkelin ... gut, sie sah ihm ja ähnlich.
Vielleicht wollte sie ihm ja wirklich nicht übel (und hatte er überhaupt eine Wahl?) ... beherzt hob er seine Hand und drückte sie gegen ihre ...
Mit einem Mal war ihm wieder alles klar!

Er war so ein Dummkopf gewesen.

 

Ende von Kapitel 9

 

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