Startseite Aktuelles Update Geschichten Kategorien Bilder Forum - Der Baum Links Hilfe Kontakt
  „Phönix” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   August 2017
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema: Zwei Kimera stehen vor Gericht, Frank und Ariel erfahren etwas Überraschendes.
Zeitpunkt: direkt anschließend
Charaktere: Ga'hil, Ron, Frank, Ariel, Street, Street, [Vorjak, Augur, Zoriel, Kaylee, Harmony, Farrell, Liam, (Naomi Cruz, Richard Carter, Brooke Donaldson, Annika Moranis)]
 

 

PHÖNIX

Kapitel 12 - Identität III

 

Auf dem Basketballplatz diskutierte es sich nicht gut, also gingen sie in „Franks Kochmütze”, allerdings nicht alle. Farrell, Deram und Sayi'a machten sich zum See auf, wo die Clearwater-Musikgruppe die Freizeit versüßte, T'than wollte später nachkommen, suchte aber zunächst das Mutterschiff auf.
Entsprechend rief Ga'hil ein paar wichtige Leute zusammen und begab sich mit Ron, Street und Ariel ins Gasthaus - Ron griff sogleich nach Franks Kuchenteller und stellte ihn außer Reichweite des Kochs wieder ab.
„Hey!”, protestierte dieser energisch.
„Kural hat dir eine Diät verschrieben - und das da ist definitiv keine Diät!”
„Es ist Sonntag!” Er musterte den Implantanten einige Sekunden lang böse, dann wurden seine Augen groß. „Meine Güte, ihr seid wieder da! Ging alles glatt, oder?” Er blickte zu Ariel und runzelte die Stirn. „Nein, ging es nicht. Hallo, Ariel. Du siehst ... ungewöhnlich aus.”
„Habe ich in diesem Universum früher nicht genauso ausgesehen?”, fragte sie irritiert nach.
Ron schüttelte den Kopf. „Nein, und ich kann das sogar erklären, aber zuerst sollten wir über Lil reden.” Er begrüsste Vorjak und Da'an, die gerade das Lokal betraten. „Sie ist verschollen, aber Street sagt, dass noch jemand in diesem Universum dem System der Gnevo Befehle gibt.”
„Moment”, unterbrach Ga'hil, „Lil ist in diesem Universum und ihr seid ihr nachgeflogen?” Ron nickte. „Wie ist das möglich? Ich dachte, vor der Sekundäraktivierung kann nur die allererste Kugel verwendet werden.”
„Das ist so, ja, eigentlich”, brachte Street grinsend ein, „Ich habe das System überzeugt, die hier”, sie tippte auf die Bernsteinmelone vor ihr auf dem Tisch, „auch als allererste anzusehen. War reichlich kompliziert.”
„Okay, das ist mir zu hoch”, seufzte er, „Aber wo ist Lil denn dann?” Schulterzucken aus allen Richtungen.
„Und was ist mit den Befehlen ans Gnevo-System?”, fragte Frank gabelwedelnd (irgendwie hatte er den Kuchenteller zurückerlangt), „Kann man da irgendwie Nachrichten einpacken? Ich meine, wenn du merkst, dass Lil Befehle gibt, merkt sie doch auch, dass du es tust, richtig?”
„Ja, daran hab ich auch schon gedacht”, sagte sie, „aber ich glaube, dass es ziemlich schwierig wird ... da fällt mir bestimmt etwas ein.” Sie schielte auf den Kuchenteller. „Ihr könnt hier Ariel und alles Mögliche diskutieren, ich denke über die Kommunikation nach, wenn mir jemand auch einen Kuchen bringt.”
„Muss ich jetzt aufstehen?”, seufzte der Koch.
„Sport, Sport, Frankie!”, sagte Ga'hil, „Sonst wird die Diät noch sparsamer als sowieso und Kural passt auch noch besser auf.”
„Ja, ja ...” Frank marschierte in die Küche und kam etwas später mit einem Teller Obstcremetorte in der Hand und seiner Tochter im Schlepptau zurück.

„Hi, Laurie”, grüßte Ron, „Soll ich jetzt den Unterschied zwischen Ariel und Ariel erklären? Immer unter der Voraussetzung, dass mich nachher keiner würgt, ich bin nämlich schuld dran.”
„Nicht du”, sagte Vorjak, „Los, erzähl.”
Ron lehnte sich zurück und runzelte die Stirn. „Das war etwas, was mein Gedächtnis reichlich durchgewirbelt hat”, bemerkte er, „Ich wusste ehrlich nicht mehr, was in welchem Universum war. Vorjak, als ich dir Lili geschickt habe, hast du mich um Rat gebeten.”
„Ja. Wie ich mit ihr umgehen soll. Du hast mir geraten, ihr zu trauen, weil sie als Widerstandsmitglied eine Verbündete ist.”
„Ich war anderweitig beschäftigt und habe dich damit nur möglichst schnell abgewimmelt - bedanke dich dafür bei meinem ältesten Sohn. Drüben habe ich hingegen ausgiebig zu einer Simulation geraten und du hast sie durchgeführt.”
„Und Lili hat mir danach nicht den Hals umgedreht?”, war der Jaridian erstaunt.
„Nein, du hast ihr nämlich eine Gehirnwäsche verpassen lassen.”
„Gehirnwäsche?” Ga'hil klappte verdutzt den Mund auf.
Ronald verzog energisch das Gesicht, nickte und fuhr dann fort: „Ich habe die technischen Details geliefert, um die Schwangerschaft anzupassen. Zur Fieberprävention wurde die Entwicklung eingefroren und schließlich auf der Erde, als Grundenergie verfügbar war, per Second-Chances-Technologie und überhaupt generell beschleunigt, dass Ariel die gefährlichste Zeit im Grunde übersprungen hat.”
„Das ist voll giftgrün”, murmelte Laurie mit verzogenem Gesicht, „Drüben hätte ich euch beide nicht gemocht, da habt ihr es!” Sie wies energisch auf Implantant und Jaridian.
„Ähm ...”, räusperte sich Ariel, „das erklärt, dass ich schneller erwachsen geworden bin als die Ariel hier, aber ... warum sehe ich anders aus?”
„Weil du keine Halbjaridian bist, sondern nur zu einem Viertel”, erklärte Ron, „Frank, hör bitte weg.”
„Was, wieso?”, musterte ihn dieser verdutzt.
Der Implantant rollte mit den Augen. „Hier hätte Ariel ohne ständige Energiegabe von Zo'or nicht überlebt”, erklärte er dann, „Drüben stand kein Taelon auf Dauer zur Verfügung. Darum die Jaridian-Verdünnung per Second-Chances-Technologie.” Frank hob fragend seine Brauen. „Mein drüberes Ich hat Ariels Genom sequenziert, Vorjaks Beitrag halbiert und den Rest mit einem unwissenden Spender aufgefüllt”, sagte Ron und verzog das Gesicht immer mehr, „und zwar mit dir, Frank ...”
Dieser ließ prompt seine Gabel fallen, flüsterte: „Ach du Schreck”, und schielte vorsichtig zu Ariel, „Ich glaube, ich brauche keinen Kuchen mehr ... einen Schnaps!”

„Kein Schnaps”, beschloss Ga'hil, „Wir haben andere Probleme. Frank, Schnitzel und Gulasch sind ab jetzt verboten.”
„Ach, mein Gewicht ist jetzt ein so großes Problem, dass du ein Machtwort sprechen musst?” Der Koch verdrehte seine Augen. „Ich weiß, was Kural mir alles verboten hat!”
Der Kimera grinste schief. „Nein, generell und für alle Gäste. Sonst stellen sich die Atavus quer, was das Menschenpiksen angeht - Zalyc argumentiert, dass zwischen Menschen und Schweinen als Nahrung kein moralischer Unterschied besteht, und ich habe es mir gespart, auf Intelligenz oder Betäubung hinzuweisen - damit kann er nämlich auch argumentieren, der Atavus-IQ ist durchschnittlich höher als der von Menschen.”

„Echt?”, fragte Street.
„Durchschnittlich! Du bist schlauer als jeder Atavus.”

„Na das will ich doch hoffen und jetzt frage ich noch nach, was es mit den Atavus auf sich hat, denen du tatsächlich abgewöhnen willst, sich von Menschen zu ernähren.”
„Sie hängen dank einem von Ma'el veränderten Verbundsignalgeber im Taelongemeinwesen statt in dem der anderen Atavus”, sagte Ga'hil, „Haben wir in Stonehenge gefunden.”
„Gren ...”
„Den haben wir auch gefunden, ja. Er benimmt sich.” Der Kimera nahm Frank den Kuchenteller weg, Abys Gestalt wieder an und einen Bissen - der Koch wollte ja ohnehin lieber einen Schnaps.
„Warum hast du eigentlich wieder Abys Gestalt?”, fragte Ron, „Sie war doch nicht sehr begeistert davon, im Kokon zu landen.”

Frank seufzte leise. „Dir hat also noch keiner die gesammelten Katastrophen erzählt. Dann mache ich das mal, wenn es recht ist.” Er kratzte sich am Kopf und ruckelte versehentlich merkbar am Toupet. „Unsere Atavus in der Stadt benehmen sich, aber draußen sind auch welche”, sagte er, „Sie hybridisieren im Akkord und haben das Weiße Haus, das FBI und die gute Justitia einkassiert. Letzteres hat zwei Kimera hinter Gitter gebracht - und für dich, Ron, gibt es auch einen Haftbefehl! Wegen Federov.”
„Verdammter Mist”, knurrte Ron, „Für die zählt nicht, dass er mir mit seinen Krallen ein paar Löcher stanzen wollte.”
„Sie behaupten selbstverständlich, er hätte keine gehabt.”
„Noch etwas - auch wenn Liam es am liebsten ignorieren würde”, ergriff Vorjak das Wort.
Der Kimera richtete sich auf und platzte energisch hinaus: „Nein! Mach mich nicht zum Gespött des Multiversums!”
Frank ging vorsorglich hinter Ron in Deckung und sagte: „Der Papst hat ihn zum Messias erklärt.” In hohem Bogen über den Implantanten hinweg traf die zerknüllte Serviette dennoch.
„Danke!”, knurrte Ga'hil, „Es reicht wirklich schon, dass ich Augur seinen Reliquienhandel kaum ausreden konnte ... bitte, verschont mich!”
Ronald machte große Augen: „Reliquienhandel? Womit denn?” Der Kimera zog eine Fratze, worauf Ron ihn in Frieden ließ. „Schon gut, ich frage nicht mehr.” Ein Glück, dass der Implantant nicht gerade religiös war ... diese neue Position seines Sohnes würde ihn sonst komplett aus der Bahn werfen.
Was Ha'gel wohl davon hielt?

„Wo ist Mabel?”, wechselte Ron das Thema.
„Spanien.”
„Spanien?”, war er verdutzt, „Nicht dass ich ihr nicht gönnen würde, gelegentlich mal ihre Verwandten dort zu besuchen, aber ausgerechnet, wenn Howlyn bei uns zuhause wohnt?”
„Neville ist da, außerdem passen Lili und Vorjak ja auch auf ihre Nachbarn auf”, sagte Ga'hil, „Mabel ist meine Verbindung zur spanischen Regierung - dort haben die Atavus nämlich noch nicht die Oberhand, in ganz Europa und Afrika nicht.” Er aß einen Bissen Kuchen und strich eine von Abys unzähmbaren Strähnen hinter sein Ohr. „Dank Renee und Harmony hat Carlisle inzwischen eine Energiemischung gefunden, die zuverlässig vor Atavus-induziertem Energiekontakt schützt. Wird in Europa und Afrika fleißig ausgegeben.”
„Ihr vergiftet ihnen also die Nahrungsquelle”, verstand Ariel.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre mit reiner Grundenergie. Kimera-Taelon-Mischenergie reagiert auf einen Atavus, bevor er überhaupt zusticht oder hybridisiert, und bildet eine Art Schutzschild.”

„Ah”, machte Street gemeinsam mit einem plötzlich verstehenden Gesichtsausdruck, von Ron fing sie sogleich einen warnenden Blick ein, worauf sie schwieg.

Ga'hil runzelte kurz die Stirn und sagte dann: „Ariel, ich schlage vor, du wohnst bei deinen Eltern - Jarya ist eh schon dorthin umgezogen, weil Howlyn und Juda jetzt Jays altes Zimmer belegen. Um Sayi'as Quartier wird sich bestimmt T'than kümmern.” Er musterte die geniale Mathematikerin aus dem anderen Universum, überlegte einen Moment und sagte dann: „Street ... ich habe Platz, Harmonys Zimmer ist leer.”
„Okay”, sagten die beiden Rotschöpfe.
„Es piepst”, sagte derweil Frank, Ga'hil musterte ihn irritiert. „Liam, bei dir piept es!”, wiederholte der Koch, „Tief vergraben in der Tasche, schon eine ganze Weile.”
Der Kimera machte: „Oh!”, und begann, in Abys Handtasche zu graben, „Ehrlich gesagt verwundert mich am meisten, dass ich das Ding noch nirgendwo liegenlassen habe. Ist nichts für Männer.”
„Sagt der Kerl mit Stöckelschuhen und BH.” Dafür flog Frank dann auch ein Kugelschreiber gegen die Schulter.

Endlich ließ Ga'hil das Global aufschnappen und meldete sich: „Ja, Aby Kincaid hier.”
„Naomi Cruz, Kanzlei Donaldson und Smith. Entschuldigen Sie, dass ich Sie am Sonntag störe, Mrs. Kincaid, aber es ist wichtig.”
„Sind Rechtsdinge das nicht immer?”
„Allerdings, das sind sie”, stimmte Naomi zu, „Kommen Sie bitte vorbei. Heute noch.”
„Bin unterwegs”, sagte Ga'hil und schob das Global zu, „Bis später.” Eilig stopfte er das Gerät in die Handtasche, dann lief er aus dem Haus und zum Portal.
Er kannte den Weg zur Kanzlei, aber es war zu weit für einen Spaziergang, also winkte er nach einem Taxi und ließ sich fahren - und wimmelte den Autogrammwunsch des Taxifahrers so energisch ab, wie es ging, ohne unhöflich zu werden. Schon alleine, weil Ga'hil sich mit Abys Handschrift nicht gar so überaus wohl fühlte.
Schließlich stieg er in den dritten Stock des Bürogebäudes und stieß die durchsichtig-dunkelblaue Türe zu den Räumlichkeiten der Kanzlei auf. „Mrs. Cruz?”, rief er, „Entschuldigen Sie, dass ich so spät komme, es ...”

Ein Schuss krachte und Ga'hil spürte den Ruck, der durch seinen Oberkörper ging und das Herz zerfetzte. Im nächsten Moment hatte auch das Stirnbein ein Loch und es wurde dunkel.

Es war eine blöde Idee gewesen, ohne Notwendigkeit vollmaterielle menschliche Gestalt anzunehmen. Es tat viel mehr weh, als wenn die Kugeln einfach glatt durch die Fassade durchgingen. Ga'hil konzentrierte sich, die Einschusslöcher offen zu lassen und nur die Innereien zu heilen.
Das war definitiv sicherer - hier lief jemand mit Waffe herum und konnte damit auch bestens umgehen.
Die energetische Wahrnehmung war durch die materielle Gestalt hindurch zu dumpf und vage, um irgendetwas zu erkennen. Ga'hil musste also die Augen öffnen - er tat es und blickte in ein runzliges, bärtiges, sehr überraschtes Gesicht, dessen Besitzer soeben den Mund öffnete, um einen Schrei loszulassen. Der Kimera hielt ihm eilig den Mund zu und entwand ihm bei der Gelegenheit auch die Waffe, dann sah er sich etwas genauer um - hinter dem Bärtigen lag eine echte Leiche: Naomi Cruz. Sonst war niemand hier.

„Was sollte das?”, fauchte Ga'hil leise. Der Bärtige schlug ihm den Ellbogen gegen das Kinn und sprang auf - der Kimera sprintete ihm hinterher und hatte ihn knapp vor der Türe im Schwitzkasten. „Nochmal: Was sollte das?”
„Warum leben Sie noch?”
„Kleine kimerianische Unterstützung. Warum haben Sie mich erschossen?”
„Sie können mich mal!”
Daraufhin legte Ga'hil dem Bärtigen eine Hand auf das verwaschene Karohemd und gönnte ihm eine kräftige Betäubungsladung. Nun, da er sich nicht mehr mit ihm herumschlagen musste, griff er nach Abys Global und suchte zunächst nach Kameras und Wanzen, bevor er Augur anrief: „Hi, keine Zeit, ich wurde gerade in der Kanzlei erschossen, die Sekretärin ist auch tot, den Schuft habe ich. Bitte einen Plan, wie ich hier unauffällig rauskomme!”
„Tarnung?”, fragte Augur, während er schon konzentriert seine Tastatur bearbeitete.
„Habe ich keine dabei, nein.”
„Es ging noch keine Meldung bei der Polizei ein, ich sage dir Bescheid, sobald das passiert”, erklärte der Hacker, „Ich schicke dir Zoriel, sie ist in der Nähe. Versteck dich solange.”
Ga'hil wollte protestieren, aber er konnte das Global nur mehr zuschieben und in die Handtasche stecken. Gut, er würde warten und sich verstecken, zunächst machte er allerdings zwecks Spurensicherung eine möglichst detaillierte Aufzeichnung von Naomi und dem ganzen Raum.
Dann rief Augur an: „Hi, die Polizei ist unterwegs, sieben Minuten. Zoriel sagt fünf Minuten, aber das ist ungenau, das Taxi hat kein Blaulicht.”
„Verdammt!” Und wieder hatte der Hacker gleich wieder ausgeschaltet, wieder konnte Ga'hil das Global nur augenrollend wegstecken.

Der Kimera könnte zwar ein Stockwerk höher laufen, aber er musste den Bärtigen mitnehmen, denn der würde bestimmt vom lebenden Opfer erzählen. Sowie dieser Beschluss gefällt war, fiel Ga'hils Blick allerdings auf einen roten Fleck an der Wand, der zweifellos genetisch eindeutig Aby zuzuordnen war - und Spuren von Hirn aufwies.
Das Jaulen der Polizeisirene kündigte das Ende der Bedenkzeit an - Ga'hil legte sich eilig wieder auf den Boden, schloss die Augen und stoppte seinen Herzschlag, indem er einfach seine inneren Organe in Energie auflöste.

„Ja, eine Schießerei gab es hier jedenfalls”, erklang die Stimme einer Frau von der Türe, „Irgendjemand oder irgendetwas hat den Schützen ausgeknockt. Danke.” Begleitet vom Rascheln des sterilen Anzuges kam sie herein und fühlte nach Ga'hils Puls. „Tot, sowieso klar. Ich kenne sie irgendwoher. Denny?”
Vom Ort des zweiten Raschelgeräusches kam zurück: „Abigail Kincaid, Fernsehreporterin und Generalswitwe. Du solltest öfter die Kiste anwerfen.”
„Ah.”
„Charles, messen Sie doch mal die Temperatur, bitte.” Danach raschelte Denny zu seiner Kollegin. „Ist ein bisschen wenig Blut hier”, stellte er fest, „Charles, hier dann auch messen!” Er griff nach Ga'hils Hand und schob den Ärmel hoch. „Hmm. Bin gleich wieder da.” Und weg war er.
„Was die drei wohl sonntags in der Kanzlei wollten?”, überlegte die Polizistin, „Das ist doch die, die die Anklage gegen Ga'hil macht, richtig?” Am anderen Ende des Raumes erklang ein Plumpsen. „Denny?” Noch ein Plumpsen - die Polizistin richtete sich auf und plumpste einen Moment später schließlich auch.

„Du lebst doch noch, oder?”, erklang Zoriels Stimme.
„Klar”, sagte Ga'hil und öffnete seine Augen.
Die Atavus grinste ihn aus einem weißen Ganzkörperanzug heraus breit an und steckte gerade die in Kunststoff eingepackte Waffe ein. „Ich schlage vor, wir klauen nicht nur deine Leiche, sondern die Sekretärin und den Schuft auch - sonst fällt es auf.”
„Sicher”, sagte Ga'hil, „Du hast aber schon die polizeilichen Aufzeichnungsgeräte ...”
„Sind alle aus, halt mich nicht für blöd.” Sie hievte sich den Bärtigen auf die Schulter und wartete, bis der Kimera Naomi bluttropftechnisch abgeklebt und auf die Arme genommen hatte, dann stellte sie ihre Tarnung ein und legte ihren freien Arm um ihn.
Ein kurzer Blick in die dunkelblaue Glastüre bestätigte: Sie waren alle vier unsichtbar.

Die Treppe hinunterzukommen (immer auf Zehenspitzen und zwecks Raschelvermeidung recht breit) war vergleichsweise einfach, aber dann versperrte ein gelbschwarzes Absperrband der Polizei den Weg. Verflixt aber auch! Und ein Polizist rannte die Unsichtbaren noch beinahe um, nur um Haaresbreite konnten sie ihm ausweichen.
Ga'hil spürte, dass Zoriel ihre Energiebahnen anheizte, und hielt sich sowohl an ihr als auch an Naomi noch besser fest, dann blieb ihm die Luft weg, als die Atavus mit drei Personen Last einfach über das Absperrband und ein Rudel Polizisten und Gaffer drübersprang - und noch dazu federleicht landete, ohne auch nur irgendein Geräusch zu machen.
Er hatte sie unterschätzt, definitiv.
Zurück zum Portal konnten sie kein Taxi nehmen, nicht mit einem Mörder, einem Mordopfer und einem sterilen Anzug. Also mussten sie zu Fuß gehen. Es dauerte! Und Straßenüberquerungen waren ein Kapitel für sich, wenn man unsichtbar war.
Aber sie kamen beim Portal an, ohne überfahren zu werden, und kehrten heil nach Clearwater zurück.

„Augur!”, rief Ga'hil energisch in sein Global und gleich, als der Hacker auf dem kleinen Bildschirm erschien, fragte er: „Was geht bei der Polizei um? Gibt es Anhaltspunkte?”
„Nein. Ihr seid tatsächlich unbemerkt raus”, erklärte Augur, „andererseits denken die Leute sich natürlich schon, dass da eine Tarnvorrichtung involviert war. Ich war übrigens so frei, Abys Global aus dem Ortungssystem ganz rauszunehmen - dito das Global aller Personen, die mit dir unterwegs sind: Naomi Cruz, Joanna Braxton und Robert Morovsky. Klingelt da was?”
Ga'hil machte große Augen und musterte den Bärtigen ganz genau. Und tatsächlich: Hinter den Runzeln und dem Bart versteckte sich ein deutlich gealterter Bob Morovsky, Williams alter Polizeikollege.
Begleitet von Fahrradklingeln kam Sheriff Kaylee angeradelt und stieg ab. „Leslie kommt gleich mit dem Wagen”, sagte sie, „Was haben wir da? Kopfschuss und Herzschuss? Ziemlich exakt.”
„Ich hatte auch Kopfschuss und Herzschuss”, fügte der Kimera hinzu.
„Test auf Schmauchspuren und ob es die Waffe war, dann dürften wir Klarheit haben.” Sie nahm die eingepackte Waffe von Zoriel entgegen. „Sieht aber ohnehin recht klar aus, denke ich. Ich meine, du warst ja dabei, Ga'hil.”
„Nicht dass ich etwas gesehen hätte”, relativierte er, „Ich sah den Kopfschuss jedenfalls nicht kommen und einige Augenblicke lang war ich ziemlich weg.”
„Tat es weh?”
„Oh ja - allerdings nur, bis das Schmerzzentrum an der Wand klebte.”

Leslie, das bleichste Bleichgesicht auf Erden, fuhr nun mit dem Wagen herbei und drückte einmal auffordernd auf die Hupe, dann stieg er aus und legte eine Trage samt Leichensack auf den Boden. Kaylee und Ga'hil hoben Naomi kurz an, Leslie zog dann den Reißverschluss zu und brachte die Tote hinten ins Auto.

„Ich habe noch eine Aufzeichnung vom Tatort gemacht”, sagte der Kimera, „Ich komme mit - und er auch.” Er hievte Morovsky auf den Rücksitz und setzte sich daneben, und schon trat Leslie aufs Gas, Zoriel hatte kaum die Gelegenheit, zum Abschied zu winken. „Augur hat mir einen Tipp gegeben”, sagte Ga'hil, „unser Täter hat einen Namen: Robert Morovsky.”
„Weiter?”
„War vor meiner Geburt mit Will bei der Polizei”, fügte er hinzu, „Vater schätzte ihn auch als absolut ehrenhaft ein.”
„Atavushybrid?”, fragte Leslie und bremste den Wagen in der Garage des Polizeigebäudes.
„Möglich.”
Sie stiegen aus und brachten Morovsky in eine Zelle und Naomi in den kühlen Keller. Während Ga'hil seine Aufzeichnung auf den Polizeicomputer übertrug, stöberte Kaylee gleich die Hosentaschen der Leiche durch und entfaltete einen Einkaufszettel, zwei Kassenzettel, einen Zahnarzttermin und ein halbes Fax.

„Ga'hil”, sagte sie alarmiert, „du hast ein Problem.” Sie klatschte den abgerissenen Zettel auf den Metalltisch. „Die Anklage weiß, dass der Angeklagte kein echter Hybrid ist. Und das ist nicht alles.”
Der Kimera beugte sich über den Tisch und entzifferte Namen auf einer Liste, jeweils drei Spalten. An zweiter Stelle stand General Carson Wood samt Tochter Carmela und Sohn Corin - und an vierter Stelle General Liam Kincaid samt Tochter Harmony und Sohn Farrell.
„Sie suchen meine Identität”, stellte er fest.
Kaylee nickte und fügte hinzu: „Und sie werden mit dem vierten Versuch einen Treffer landen.”
„Wir brauchen einen Plan!”, Ga'hil schlug mit der Faust auf den Tisch, „Ideen?”
Die Polizistin zuckte knapp mit den Schultern. „Ma'els Signalgeber?”
„Wir wissen nicht, ob und wie wir ihn verstärken können, ganz zu schweigen davon, dass die Anzahl Atavus immens sein dürfte ...”
„Nein!”, sagte sie energisch, „Nicht verstärken! Ihn einfach nach Washington bringen. Unsere Atavus hier halte ich schon unter Kontrolle, keine Sorge.”
Wieso hatte er daran nicht selbst gedacht? Aber immerhin hatte Augur auch nicht daran gedacht! „Dennoch, sie haben die Anhaltspunkte, sie werden meine Identität finden”, seufzte Ga'hil, „Ich weiß, dass mein anderes Ich mir zustimmt, in diesem Fall die Bombe selber platzen zu lassen, bevor die Anklage das tut, und von Farrell weiß ich es auch - aber Harmony?” Und sie fragen konnte er auch nicht ... „Es sei denn ...” Jetzt grinste er. „Kaylee, finde heraus, ob Morovsky ein Hybrid ist! Ich muss planen!” Damit rannte er los.

Punkt eins: Sichere Kommunikation mit Harmony. Street (aus diesem Universum) war zwar verdutzt, versicherte aber, etwas Multidimensionales zusammenzubasteln.
Punkt zwei: Wie viele Atavus waren in Washington? Laut Zoriel nicht so überaus viele, aber mehr als in Clearwater. Der Signalgeber wurde unter der Kirche untergebracht.
Punkt drei: Die Atavus in Clearwater. Kaylees Job.
Punkt vier: Aby musste eine unechte Hybridin werden, nur so konnte sie offiziell am Leben bleiben - Ga'hil brauchte also eine weitere Gestalt, auch um sich weiterhin frei bewegen zu können. Jay hob die Hand.

Bob Morovsky war ein Hybrid und wetzte zunächst die Krallen, doch innerhalb von knapp fünf Stunden wurde er zunehmend menschlicher (und depressiv) - und im Verlauf von einigen weiteren Stunden wieder ganz atavanisch. Der Signalgeber war jetzt ja unter der Kirche und damit Clearwater außer Reichweite. Die Atavus benahmen sich entsprechend einige Ecken rüder als sonst, aber sie hielten sich weiterhin an die Regeln.
Gähnend überreichte Street Ga'hil schließlich in den frühen Morgenstunden einen Holoprojektor und erklärte, dass er keineswegs kaputt war, auch wenn nichts zu sehen war - sie konnte etwas sehen, und das lag nicht an ihrer Müdigkeit. Allerdings war die Kommunikation natürlich auf eine Richtung beschränkt - Harmony würde gewöhnlich vierdimensional antworten müssen.

Trotzdem, besser als nichts. Also besuchte Jason Martínez seine Nichte im Gefängnis. Ronald unterdessen stellte sich seinem Haftbefehl.

* * *

„Jay!”, rief Harmony freudig und sprang vom Stuhl auf, als Ga'hil den Besuchsraum betrat, „Was für eine nette Überraschung, viel Besuch bekomme ich ja nicht gerade.”
„Hi”, sagte er, „Ich kann dich ja nicht im Knast versauern lassen, da bekommst du ja gar nichts von draußen mit.” Kurze Berührung am getarnten Holographiemodul - Harmony runzelte die Stirn und zog ein schiefes Grinsen. „Sind auch schlechte Nachrichten dabei, leider.”
„Ich habe mitbekommen, dass Ronny verhaftet wurde”, sagte sie, „Erzähl mir die guten Nachrichten, ich brauche Aufmunterung.”
Ga'hil tippte auf das Holographiemodul und erklärte: „Cedrik und Hannah sind mit dem Anwalt endlich durch und jetzt geschieden.”
„Dürfte eine recht ambivalente Erfahrung sein, vor allem für Claire.”
Ambivalente Erfahrung - die Antwort bezog sich definitiv auf die mehrdimensionale Nachricht, dass die Anklage nach den Identitäten suchte. „Ach”, Ga'hil zuckte mit den Schultern, „dem Anwalt war schnell klar, was es da für schmutzige Wäsche gibt.”
„Ja, schon ...”
Tipp auf das Modul. Sollten sie die Identitäten auspacken?
„Aber was hätte Hannah da machen können?” Harmony runzelte ihre Stirn zu Karos. „Egal, ich bin ja nicht Hannah, zum Glück.”
„Nur genauso in Anwaltsklauen.”
„Nicht genauso!”, widersprach sie. Nein, nicht genauso. Dreimal tippte der Kimera auf das Modul, dann wartete er auf Harmonys Reaktion - einen leichten Hauch von Erschrecken darüber, dass der Richter ein Hybrid war. „Nimmt Hannah wieder ihren Geburtsnamen an?”, fragte sie.
War das eine Antwort auf irgendetwas?
„Weiß nicht.”
„Hmm. Ich an ihrer Stelle täte es.” War das die Antwort? Er musterte sie und kam ob ihres entschlossenen Gesichtsausdrucks zum Schluss: Ja, sie war dafür, die Identitäten aufzudecken, bevor es die Anwälte täten. „Ich wurde übrigens als Zeugin geladen”, fügte sie hinzu, „zu Dads nächster Verhandlung. Ist heute noch.”
„Weiß ich. Vielleicht komme ich vorbei.”
„Ja”, sagte sie, „würde mich freuen.”
„Wir haben Gäste aus dem anderen Universum”, wechselte er das Thema, „Ariel, zum Beispiel, und eine gewisse Sayi'a - sehr nette junge Frau.”
„Ariel? Und das Universum beschließt nicht, dass sie und Zoriel einer zu viel sind?”
Er verzog das Gesicht. „Noch jedenfalls nicht”, seufzte er, „aber bei Renee hat es ja auch eine Woche gedauert.” Kurz zuckte er mit den Schultern. „Aber inzwischen müssen wir nach dem Rückweg nicht mehr suchen, das funktioniert zuverlässig.”
„Das ist gut, es ist ja ... ich meine, niemand weiß, was passieren könnte, wenn zwei Leute verschmelzen, die nur teilweise gleich sind.”

Das klang so bedeutsam. Harmony machte sich doch nicht wirklich so große Gedanken um Zoriel und Ariel ... sie wusste doch, dass die beiden definitiv nicht verschmelzen würden, weil Ariel einfach in ihr angestammtes Universum zurückkehren konnte.
Aber was meinte sie?
„Zudem - Energie und Materie”, ergänzte sie.
Ah, sie meinte ihn! „Wie gesagt, es gibt einen Rückweg”, sagte er, allerdings blieb er besorgt.
Er würde seine menschliche Identität nicht demonstrieren können.

Zurück in Clearwater meldete Ga'hil ein weiteres Mal Bedarf nach einem neuen Kokon-Opfer an - Jay musste ja schließlich die Verhandlung besuchen und der Kimera ebenfalls, und zwar neben ihm. Neville erklärte sich dazu bereit, auch wenn er als der letzte Nicht-Atavus-Bewohner des Martínez-Hauses zunächst einen Aufpasser benennen musste - er wählte Vorjak. Während der jüngste Ampel-Bruder also in einen braunen Kokon verpackt wurde, befreite sich der älteste Ampel-Bruder aus dem seinen und wankte völlig verklebt an Ga'hil vorbei in die Dusche.
Allerdings würde der Kimera nicht in Nevilles Gestalt den Gerichtssaal betreten, er wollte seine Fähigkeit, anderer Leute Gestalten anzunehmen, niemandem derart aufs Auge drücken. Als Ga'hil Augurs Zweitbastelstübchen in Clearwater betrat, kam ihm der Hacker missmutig entgegen und rieb sich die Wange.
„Ich brauche ...”
„Tarnung, ja”, grummelte der Schwarze, „Woher soll ich denn ahnen, dass das die falsche Street ist? Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben! Und meine dann auch gleich noch eine!” Er drückte dem Kimera eine Tarnvorrichtung in die Hand.
„Na dir scheint die Existenz zweier Traumfrauen ja nicht so sehr zu bekommen”, stellte Ga'hil grinsend fest, während er sich den Gurt um den linken Oberarm schlang, „Du solltest halt lernen, die beiden zu unterscheiden.”
„Liam! Die beiden legen es darauf an, genau gleich auszusehen!”, fauchte Augur, „Wenigstens haben sie eine Möglichkeit gefunden, mit Lil zu kommunizieren ... du errätst nicht, was da passiert ist.” Vermutlich nicht - Ga'hil verdrehte die Augen und schwieg ansonsten. „Lil ist im Milchstraßenzentrum!”, erklärte der Hacker, „Ein Strebenausfall hat sie erwischt, sie driftet und hat das Shuttle noch nicht wieder repariert.”
„Aber sie braucht nicht mehr lange”, erklang Street, „nur noch ein paar Stunden.”
„Warum im Milchstraßenzentrum?”, wunderte sich Ga'hil.

Ein Rotschopf erschien im Türrahmen. „Weil drüben dort Mutter ist - zu Lil fand das System der Gnevo keinen Doppelgänger, also blieb es bei den Raumkoordinaten.”
„Es bringt einen direkt zum Doppelgänger”, bestätigte Augur, „Genial, oder?”
„Schon”, gab der Kimera zu, „wenn man den Zweck des Systems bedenkt ... wie kommt Lil hierher?”

„Erst wieder ins andere Universum, dann gemeinsam mit jemandem mit Doppelgänger hierher”, erklärte Street, „und ich fliege dann mit demjenigen zurück. Drüben sind die Raumkoordinaten immer dieselben.” Sie strich Augur über die Schulter und drückte ihm einen Kuss auf die linke Wange.
„Mmmhhh ...”, machte Augur genussvoll, dann stutzte er. „Moment! Du bist die andere, nicht meine Street!”
Sie grinste ihn an. „Aha! Augur passt auf! Sehr gut.”
„Bravo!”, erklang die andere Street, „Ich bin stolz auf dich.”

Ga'hil musste lachen und fing dafür einen bösen Blick von Augur ein, allerdings stellte der Schwarze jetzt ein Tarnbild ein und wies auf den Spiegel: Durchschnittlicher Anzugträger, schwarz, kurzes Kraushaar. Der Kimera machte einige Schritte hin und her und verzog das Gesicht - Augur gönnte dem Tarnbild aber noch etwas Feintuning, dass es auch die Plateauschuhe der Fassadengestalt passabel maskierte.
So und mit einem gefälschten Ausweis konnte Ga'hil problemlos unerkannt die Verhandlung besuchen - noch allerdings waren es fast zwei Stunden bis dahin, also beschloss der Kimera, Nevilles Geschmacksknospen mit Franks Bratkartoffeln zu testen.

* * *

Die Kochmütze war recht leer. Ganz vorne beim Eingang saßen Ex-Bürgermeisterin Bess und Ex-Sheriff Mike und spielten Karten, Ga'hil grüßte freundlich und ging dann durch bis ins Hinterzimmer. Dort saßen Frank und Ariel mit zwei Schnapsgläsern und einer Flasche Williams.
„Oh”, machte der Kimera, „Kriegt man hier denn noch was zu essen?”
„Tagesmenü Bratkartoffeln”, sagte Frank, „Ohne Schnitzel. Soll ich dir einen Teller holen?”
„Na, darum bin ich ja hier.” Ga'hil setzte sich, während der Koch aufstand und in die Küche ging. „Es geht hier für die Mittagszeit ziemlich alkoholisch zu”, bemerkte der Kimera dann und wies auf den Schnaps.
„Wir können beide nicht davor wegrennen, dass wir ein Viertel des Genoms gemeinsam haben”, murmelte Ariel, „und ich werde ihn bestimmt nicht alleine einen Schnaps trinken lassen.” Sie griff nach der Flasche und goss in beide Schnapsgläser einen Finger hoch klare Flüssigkeit. „Ich war immerhin genauso baff wie er.” Kurz wedelte sie mit der Flasche in Ga'hils Richtung und fragte: „Auch ein Schluck?”, dann stellte sie sie ab und griff nach ihrem Glas.
„Nach dem Essen könnte ich schon einen vertragen”, sagte er, „Wie viele hattet ihr schon?”
„Jeder einen. Halb so wild.” Sie roch an ihrem Glas, zog einen Mundwinkel hoch und stellte das Glas wieder auf den Tisch. „Aber das ist ein guter Schnaps. Der wird hier in Clearwater gebrannt, richtig?”
Ga'hil nickte zu ihrer Schlussfolgerung, die zweifellos durch das handbeschriebene Etikett „Clearwater Williams” gut begründet war, und erklärte: „Lorne und Amy Sullis. Die Obstbäume hinter der Schule gehören ihnen.”
„Ich war in meinem Universum nie auf der Erde”, sagte Ariel, „also, als Kleinkind mal, klar, aber sonst nicht. Ich hatte immer nur künstliches Essen, zuerst auf Jaridia, danach auf dem Mutterschiff.” Sie drehte das Schnapsglas zwischen ihren Fingern. „Hier in Clearwater, das ist das erste Essen, das tatsächlich mal gewachsen ist und nicht Molekül für Molekül von einer Maschine zusammengesetzt wurde.”
Frank kam mit einem Teller aus der Küche zurück und stellte ihn vor Ga'hil ab. „So, Bratkartoffeln, und weil Bratkartoffeln alleine langweilig sind, habe ich dir ein Schnitzel dazugelegt.”
„Ach ... hab ich das nicht verboten?”
„Ich hab noch zehn Schnitzel im Kühlraum, die kann ich doch nicht einfach verfaulen lassen.”
„Ich mag das Essen hier”, bemerkte Ariel, „und wenn echte Schnitzel verboten sind, könnt ihr ja künstliche machen. Schmecken auch.”
„Ja, ist in Arbeit”, sagte Ga'hil, nahm Nevilles Gestalt vollständig an und stach die Gabel in eine knusprige Kartoffelscheibe. „Frank, Schnitzel sind in der Kochmütze verboten, das meine ich ernst. Iss die letzten Vorräte privat weg, kein Problem, aber nicht hier, wo es leicht ein Atavus sehen kann.” Er schob sich die Kartoffelscheibe in den Mund und kaute ausgiebig.
„Hm. Okay”, machte Frank und ließ sich auf die Sitzbank fallen. Gemächlich fingertappend wanderte seine Hand auf das Schnapsglas zu, schließlich umfasste er es und hob es hoch. „Und was mit deinem Schnitzel da?”
Ga'hil ließ die Gabel fallen, griff mit bloßen Fingern nach dem Schnitzel auf seinem Teller und biss davon ab - den Rest löste er einfach in Energie auf. „So, weg. Hat gut geschmeckt.”

„Tja ...” Frank prostete Ariel zu und nippte am Schnaps. „Ehrlich, Ron kommt auf Ideen ...”, seufzte er dann, „Also, der Sandoval-Eisklotz drüben.”
„Es war nötig. Als Halbjaridian hätte ich nicht überlebt.” Sie hob ihr Glas und leerte es auf Ex.
Er leerte sein Schnapsglas ebenfalls. „Auch wieder wahr.”
„Hier konnte er doch auch nicht wissen, dass ich überleben würde”, seufzte Ariel, „Es war ja überhaupt nicht vorauszusehen, dass Zo'or ihr hier auf Dauer Grundenergie spenden würde.” Kurz sah sie auf die Schnapsflasche, dann entschied sie sich dagegen. „Ohne den Kimera hätte Ariel hier nicht überlebt und Ronald wusste nicht, dass es einen Kimera gab, der auch helfen würde. Warum hat er es hier nicht gemacht?”
„Er war abgelenkt”, sagte Ga'hil, „Zu der Zeit hat er an nichts anderes als die Suche nach mir gedacht.”
„Das hat er gesagt, ja. Aber stimmt es? Er ist ja ein Implantant, er kann an tausend Dinge zugleich denken!”
„Kann er nicht”, widersprach der Kimera kopfschüttelnd, „Die Möglichkeiten eines CVI sind durchaus auch begrenzt, Ariel. Mein Vater war mit der Suche derart eingespannt, dass ich seine Arbeit in der Companionsicherheit fast vollständig mit übernommen hab - und er hat das nicht einmal bemerkt!”
„Und er ist seinen Kollegen fürchterlich auf den Senkel gegangen”, ergänzte Frank, „Das hat er zwar bemerkt, aber es war ihm egal.”
„Hm. Okay.” Ariel runzelte die Stirn zu leichten Karos. „Immerhin hat er hier definitiv nie versucht, mich in die Luft zu sprengen.”
„Nein”, bestätigte Ga'hil grinsend, „hier hat er für dich einem Taelon gewaltig eins ausgewischt.”

„Und mit diesem Taelon gemeinsam wurde Ariel hier viele Jahre später zu Zoriel”, wusste Ariel, „Ich hoffe, die Streets haben recht, dass sie es sehen, bevor das Universum uns so Verschwinde-Anfälle verpasst und mit Zoriel sonst was passiert.”
Der Kimera machte ein dummes Gesicht. „Dass sie es sehen?”
„Ja, die können das irgendwie sehen”, sagte Frank, „wie die Doppelgänger eine Art gemeinsame Schwingung oder weiß der Geier was haben.” Er zuckte mit den Schultern. „Und das nimmt nur ganz langsam zu und drum können sie rechtzeitig die Reißleine ziehen. Weil halt, frag mich nicht.”

Ga'hil fragte nicht und widmete sich vollständig den Bratkartoffeln. Frank konnte einfach kochen und der Kimera genoss es, menschliche Geschmacksknospen zur Verfügung zu haben, die die Kochkunst auch zu würdigen wussten. Ariel unterdessen bedachte ein weiteres Mal beide Schnapsgläser mit einer angemessenen Menge der hochprozentigen Flüssigkeit, sie und Frank stießen die Gläser aneinander und leerten sie dann.
Auf diese Weise leerten sich schließlich sowohl Ga'hils Teller als auch die Schnapsflasche. Der Kimera verabschiedete sich dann freundlich, er musste ja noch eine Gerichtsversammlung besuchen.

* * *

Der leichte Nieselregen verwandelte den mit neugierigen Leuten vollgestopften Vorplatz des Gerichtsgebäudes in ein Meer von Regenschirmen. Die Polizei half den Medienvertretern und den zugelassenen Besuchern, zu denen dank Augur auch Ga'hils Tarnbild gehörte, unbehelligt durch das Haupttor zu gelangen, drin mussten der Kimera und die anderen aus Clearwater nur mit der Menge schwimmen und kamen schlussendlich ohne Probleme im richtigen Gerichtssaal an.
Aby gesellte sich nun zu den anderen Medienvertretern, Jay, Ga'hil und Farrell nahmen hingegen recht wahllos Platz, allerdings so, dass der Kimera leicht wieder herauskonnte. Auch Zoriel, als Joanna Braxton, war da.
Nach nur wenigen Minuten Wartezeit betrat Richter Richard Carter den Gerichtssaal (alle aufstehen) und nahm am Richtertisch Platz (alle wieder hinsetzen).
Anwalt Brooke Donaldson rief gleich Jae'yal Beckett in den Zeugenstand. „Sie sind Jae'yal Beckett, korrekt?”
„Korrekt.”
Falsch!” Er zeigte energisch mit dem ausgestreckten Finger auf sie. „Bei Ihrer Geburt erhielten Sie einen menschlichen Namen, Ihr kimerianischer Name ist eine Lüge!”
„Eine Ergänzung”, korrigierte sie, „von allen Ämtern erlaubt und abgesegnet. Es war von Anfang an klar, dass ich zwei Leben lebe.”
„Mr. Donaldson, erläutern Sie den Zweck dieser Fragen”, warf der Richter ein, wofür er von der Anklägerschaft gesammelt verwunderte Blicke erntete.
Der Anwalt antwortete: „Ich beabsichtige, Vetternwirtschaft zwischen den jeweiligen Identitäten nachzuweisen.”

Ga'hil veränderte seine Ausstrahlung geringfügig, seine Tochter und jeder andere im Gerichtssaal, der zur energetischen Wahrnehmung fähig war, bemerkten es.

„Mr. Donaldson”, räusperte sich Harmony, „Es ist jemand unter den Zuschauern, der sich dazu äußern möchte.”
„Er soll sich äußern”, beschloss Carter, wofür ihn Donaldson einen Moment lang fassungslos anstarrte. Ga'hil erhob sich und trat nach vorne. „Name?”, fragte der Richter.
„Ga'hil Beckett, Euer Ehren.” Zugleich deaktivierte der Kimera die Tarnvorrichtung.
Die Zuschauer tobten und riefen durcheinander, Richter und Anwälte machten dumme Gesichter - Liam und Harmony grinsten breit. Liams Verteidigerin Annika Moranis griff sich an den Kopf und schüttelte selbigen auch kräftig, dass die roten Haare in alle Richtungen flogen.
Wie bitte?”, fragte der Richter mit mühsam erlangter Fassung nach, blickte zum Angeklagten und zurück zu dessen zweitem Ich und klopfte mit dem Hammer.
„Vor fast drei Monaten verschwand ich, Commander Marchese ebenfalls”, sagte Ga'hil, „Commander Marchese wurde gefangengenommen und ich auch - jedenfalls nachdem eine recht ungewöhnliche Waffe Energie und Materie voneinander trennte.”
„Sie entzweispaltete”, fasste Harmony zusammen, „Reiner Mensch - reiner Kimera.”
„Er ist kein reiner Mensch!”, platzte Donaldson dazwischen und wies auf Liam.
„Unechter Hybrid”, erklärte Ga'hil, „Wir wollten diese Spaltung nicht öffentlich kundtun, vielmehr hofften wir, dass uns eine Wiedervereinigung in absehbarer Zeit gelingt.” Er zuckte knapp mit den Schultern. „Da nun aber ein Angriff auf die menschlichen Identitäten versucht wird, werden wir der Geheimnisaufbauscherei sehr entschieden entgegentreten - und unsere Identitäten aufdecken. Hier und jetzt.”

Raunen, sehr lautes Raunen. Der Richter musste seinen Hammer bemühen.
„Ich bin Liam Kincaid.”
Raunen - und was für ein Raunen, und lauter offene Münder.
„Harmony Kincaid”, stellte sich seine Tochter vor und veränderte ihre Fassade auch gleich passend dazu.
Aus dem Zuschauerbereich kam Farrell und übte sich auch in Fassadenveränderung - es dauerte etwas länger, aber schließlich war er ebenfalls als der zu erkennen, der er vor der Autobombe gewesen war. „Farrell Kincaid.”

 

Ende von Kapitel 12

 

Zurück / Back

 

Zum Seitenanfang