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  „Phönix” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Juli 2017
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema: Die Atavus ziehen zunehmend die Fäden und lassen zwei Kimera verhaften.
Zeitpunkt: direkt anschließend
Charaktere: Liam, Aby, Zoriel, Zalyc, (Kaylee, Howlyn, Mabel, Frank, Harmony, Liam, [Marty, Hannah, Louise, Malley, Broyc, Draanim, Korys, Augur, Mitchell, Vorjak])
 

 

PHÖNIX

Kapitel 11 - Identität II

 

Ga'hil saß auf dem Rathausdach und dachte nach, Sheriff Kaylee Chapman starrte links neben ihm Löcher in den von Osten hell werdenden Himmel, Bürgermeister Marty Gonsalves rechts neben ihm jonglierte geistesabwesend mit fünf gelben Bällen. „Ob ich so hoch werfen kann, dass ich das virtuelle Glas treffe?”, fragte jener schließlich, fing sein Spielzeug auf und kratzte sich auf der Stirnglatze.
„Wenn du 140 Meter hoch werfen kannst ...”, sagte die Schwarze und blickte vorne am Kimera vorbei zum Bürgermeister. Ihre Finger spielten mit den schwarzen Dreads und verknoteten sie miteinander. „Was ist da in Washington bloß los?”, murmelte sie, „Ob der Präsident jetzt Krallen hat?”
„Vermutlich das ganze weiße Haus und die Polizei und die Staatsanwaltschaft”, sagte Ga'hil, „ganz zu schweigen vom FBI. Weiß jemand, wie es Patrichio geht?”
„Ich sitze hier die ganze Nacht, wie du. Vermutlich liegt er immer noch im Koma”, murmelte Marty und begann wieder zu jonglieren. „Ich bin ein verdammter Lokalpolitiker! Mit solchen weltbewegenden Dingen sollte ich nicht zu tun haben ...”
„Dein Pech, du bist nun mal in Clearwater.”

Der Kimera griff derweil nach seinem piepsenden Global und öffnete es: „Ja?”
„Schlechte Nachrichten, du wurdest soeben verhaftet”, meldete sich Aby, „Du solltest dich nicht blicken lassen, dein anderes Ich zieht vor, dass du frei bleibst.”
Verhaftet? „Bitte ... wofür denn verhaftet?”, fragte er perplex.
„Fluchthilfe, mein Lieber”, sagte sie, „Die Behörden waren nicht sehr davon angetan, zu erfahren, dass der Präsidentenmörder in einem anderen Universum ist. Und du weißt ja, Federov hatte ganz bestimmt keine Krallen, das beschwören die Wissenschaftler der rostoker Staatspathologie beim Leben ihrer Mütter.”
„Die armen Mütter ...”, mischte sich Kaylee ein, „Ich schlage vor, die nicht in Clearwater lebende Verwandtschaft einzuladen, es könnte draußen gefährlich werden.”
„Stimme zu”, sagte Marty und verhaspelte sich beim Jonglieren, einer der Bälle flog in hohem Bogen vom Dach, „Ach verflixt.”
„Ja. Aby, informiere bitte alle”, sagte Ga'hil, „die Boones, die Hoggertys, Street und Augur, ... Harmony ...”
Aby nickte. „Ja, ich weiß, wer alles gefährdet ist, keine Sorge, ich kümmere mich darum.” Der Bildschirm wurde schwarz und Ga'hil steckte das Global wieder weg.
„Schöne Scheiße ...”, seufzte Marty, „Hätte nie gedacht, dass ich mal einen Putsch erlebe.”

Putsch, ja, darauf lief es wohl hinaus.

„Funktioniert wenigstens der Hybridisierungs-Schutz?”, fragte Kaylee.
„Ja, der funktioniert”, sagte Ga'hil, „aber es ist nicht machbar, die ganze Welt mit Jae'yals Energie zu versorgen. Carlisle testet jetzt mit normalen gemischten Energien, vielleicht klappt das auch und wir können viel mehr Leute schützen.”
„Renee hatte Jae'yals Energie nicht”, warf Marty ein.
„Eben. Vermutlich hängt es vom Mischverhältnis ab.” Ga'hil pflückte einen der fliegenden gelben Bälle aus der Luft und knetete ihn kräftig durch. „Kaylee, kriegst du es hin, Sheriff zu sein, obwohl die Stadt dicht ist?”
„Werden wir sehen”, seufzte sie, „Bis Dienstag mal sicher, erst dann muss ich wieder überall im County nach dem Rechten sehen.” Sie zog den Knoten in ihren Dreads fest und lehnte sich nach vorne. „Da ist Frank ... und Bess ist auch da.”
„Leider wird die Pfanne nicht gegen die Atavus helfen”, sagte Marty.
Ga'hil verlor kurz amüsiert seine Fassade, dann erklärte er: „Die Pfanne nicht, nein. Der Verbundsignalgeber ist unser Trumpf - wenn wir den verstärken können, dass er das Atavus-Gemeinwesen komplett durch das Taelongemeinwesen überlagert, dann sind alle Atavus wie unsere zahmen Gäste hier.”
„Wenn ...” Der Bürgermeister nahm dem Kimera den Ball aus den Händen und jonglierte mit allen vieren weiter.
„Die Atavus sind viel mehr als die Taelons”, wandte Kaylee ein, „Werden nicht dann schlimmstenfalls die Taelons auch wieder so üble Monster wie damals?”
Ga'hil formte für einen Moment die Atavusgestalt, die er noch immer hatte, dann löste er seine Form in eine diffus menschenähnliche weißgrüne Lichtwolke auf und seufzte mit veränderter, hallender Stimme: „Ja, das ist eben das Problem. Wir wissen es nicht.”

Wenn Kaylee recht hatte, dann würden sämtliche Taelons, sämtliche Taelonhybriden und die drei Kimera gemeinsam nicht genügen, die Atavus im Gemeinwesen zu übertönen. Warum hatten die Atavus dieses verflixte Gemeinwesen überhaupt? Sie brauchten es nicht ... hatten sie es überhaupt von Natur aus oder waren dafür die anderen Verbundsignalgeber verantwortlich?

„He, Grübler”, Bess streckte ihren roten Kopf aus dem Fenster, „Trigal hat die Hologrammsteuerung eingerichtet, die Volksversammlung heute Abend geht klar.”
Neben ihr tauchte Frank auf. „Die schlechte Nachricht blieb an mir hängen. Wir haben einen piksenden Atavus in der Stadt - nicht tödlich, aber leider auch ohne Zeugen.”

* * *

Aua!”, begrüsste Malley Frank, Kaylee und Ga'hil aus dem Krankenbett, Louise verschränkte streng die Arme. „Pst!”, machte der Patient, „Sagt es ihr nicht, aber sie ist eine klasse Ärztin!”
„Wie schade, das hätte ich sehr gerne gehört.” Lou rollte mit den Augen und lehnte sich gegen die Wand. „Zwei Krallen haben die rechte Schulter von hinten durchlöchert, eine Schramme ist am Nacken, vom Festhalten offensichtlich. Und natürlich die verbeulte Front, armer Malley.” Im Gesicht sah er wirklich wie ein übles Prügelopfer aus, inklusive gebrochener Nase.
„Wie ist das passiert?”, fragte Sheriff Kaylee.
„Ich hab den Eiswagen in die Garage geschoben und prompt lag ich mit der Nase drauf und hatte zwei Löcher”, ärgerte sich Malley, „Bitte, was soll ich da noch groß sagen? Gesehen hab ich niemanden, gehört auch nichts, es war schon ziemlich dunkel, das Garagenlicht war aus, Lizzy in der Dusche, die Kinder im Bett ... ehrlich, ihr müsst schon selber rausfinden, wer das war.” Er zog eine Grimasse. „Sind ja nur 70 Atavus in der Stadt ... war wohl eine blöde Idee, die nicht hinter Gitter zu stecken, hmm?”
„Wenn sich nur einer von 70 danebenbenimmt, ist die Quote nicht so schlecht”, bemerkte Ga'hil, „Kaylee, ich schlage vor, Howlyn auf den Zahn zu fühlen.”
„Gute Idee”, sagte die Polizistin, „Frank, du darfst derweil dasselbe bei Gren tun.”
„Geht klar.” Der korpulente Koch marschierte aus dem Krankenzimmer.
„Gute Besserung, Malley”, sagte der Kimera, dann schob er Kaylee hinaus und legte den Kopf schief. „Was meinst du?”
„Man könnte vielleicht an den Energiespuren erkennen, welcher Atavus es war”, sagte sie.
„Schon, aber dafür müsste man dem fraglichen Atavus die komplette Energie entziehen und das hat üblicherweise den Tod zur Folge.”
„Hmm.” Sie stieg die Treppe hinunter, verließ das kleine Krankenhaus und stieg auf ihr Fahrrad. Ga'hil fuhr ihr mit einem Leihfahrrad hinterher bis zum Martínez-Haus. Kaylee klingelte energisch und strich sich über die Dreads. „Ich hoffe, ich wecke Mabel nicht ...”

„Du kannst mir den Buckel runterrutschen, du Zottelheini, und wenn du mir noch einmal einen Schmatz aufdrücken willst, dann reiße ich dir alle Finger ab, einzeln und mehrfach! Ist das klar? Und jetzt verzieh dich!” Nach dieser Tirade riss Mabel stinksauer die Haustüre auf und schnaufte mit sich blähenden Nasenflügeln Kaylee und Ga'hil an: „Was?”
„Wir wollen”, Kaylee wies an der Latina vorbei, „zu Zottelheini.”

„Na dann rein mit euch.” Mabel machte Platz in der Türe und führte ihre Gäste ins Wohnzimmer. Howlyn stapfte ärgerlich hin und her, während Juda sichtbar missmutig ihrer Tochter Caedra goldene Glitzersternchen in die Haare flocht.
„Guten Morgen, Howlyn”, räusperte sich Kaylee, „dürften wir kurz mit Ihnen reden.”
Der Atavus drehte sich um und musterte sie von Kopf bis Fuß und vor allem die Mitte, dann sagte er: „Sie dürfen gerne auch lange mit mir reden”, und zog einen Mundwinkel hoch.
„Wo waren Sie gestern Abend um 22:40?”, fragte Kaylee grinsend, „Und wer kann und wird Ihre Aussage bestätigen?”
Er blickte gelangweilt in die Luft. „Am See, vor der Leinwand. Es war doch Japan gegen Korea.”
Die Polizistin hob eine Augenbraue. „Die Aufmerksamkeit war allerdings naturgemäß auf die Leinwand fokussiert, nicht auf Sie, Howlyn”, sagte sie kühl, „oder hatten Sie etwa Gesellschaft?”
Er machte einen Halbkreis um sie und knurrte, dann sagte er: „Mrs. Hannah Marquette.”
Hannah! Gut, es war ihr zuzutrauen.
„Haben Sie Anhaltspunkte dafür, dass einer Ihrer Leute sich nicht an das Piksverbot hält?”, fragte Kaylee weiter, „Es hält sich nämlich einer nicht dran, müssen Sie wissen.”
Alle haben zugesagt, wie ich!”, fauchte er, „Sie erwarten gebrochene Versprechen von uns? Täuschung? Lüge? Fragen Sie diesbezüglich doch Mrs. MacDougal!” Er versuchte die Schwarze niederzustarren, was sie überhaupt nicht beeindruckte. „Nicht nur meine Leute haben Krallen”, grollte er, „bedenken Sie das, bevor Sie urteilen!”
„Zoriel war es nicht”, brachte sich Ga'hil ein, „ihre Taelon-Energie wäre schon durch die Routineuntersuchung nachgewiesen worden.”
„Sagst du!”, fauchte Howlyn, „Bist du sicher, dass du unvoreingenommen bist?”
Der Kimera grinste knapp. „Diesbezüglich ja.”
„Ich wünsche von allen Atavus zu wissen, wo sie gestern Abend um 22:40 waren”, sagte Kaylee fest, „Was ist mit Ihnen, Juda?”
„Sie war hier”, antwortete Mabel für jene, „Caedra baden - entsprechend war die Kleine natürlich auch da.”
„Schön”, sagte Ga'hil und musterte den Sheriff, „Gehen wir Hannah fragen?”
Die Polizistin nickte. „Klar. Schönen Tag noch, Mabel.” Sie ging voran aus dem Haus, der Kimera folgte ihr. Beide stiegen wieder auf die Fahrräder und radelten zwei Straßen weiter zu einem Wohnblock - Hannah wohnte nicht mehr im Marquette-Haus, Cedrik hatte sie inzwischen (endlich!) hochkant rausgeworfen und Tochter Claire behalten.

Der Krankenwagen stand schon da, Louise winkte energisch. „Ich wollte euch gerade anrufen. Noch ein Piks, wieder ohne Zeugen, wieder nicht tödlich.”
„Wen hat es erwischt?”
„Hannah.”
Ga'hil lehnte sein Leihfahrrad an die Hauswand und stieg in den Krankenwagen. „Hallo, Hannah”, sagte er, „Irgendwas gesehen?”
„Hölle, nein, verdammt”, seufzte sie, „Ein Ruck und ich klebte mit dem Gesicht an meiner Türe.”
„Naja, gut, dann etwas anderes: Du bist Howlyns gestriges Alibi. War er zwischenzeitlich mal weg?”
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, bestimmt nicht. Aber du kannst auch auf Carls Video nachschauen, er hat ständig auf Howlyn draufgehalten.”
Ga'hil nickte. „Danke, mache ich.” Er stieg wieder aus. „Kaylee? Hannah meint, Carls Videomanie wäre hilfreich.”
„Okay”, sagte diese und zückte ihr Global, „und Tatsache, er hat es schon ins Stadtnetz geladen. Ich bin dann mal ... 117 Minuten lang beschäftigt. Was wirst du tun?”
„Die Atavus-WG ausfragen, wenn ich schon mal hier bin”, erklärte er und drückte den mittleren der fünf Klingelknöpfe. „Ga'hil hier, lass mich ein.” Es summte und der Kimera eilte die Treppe hoch und betrat die Wohnung.

Broyc, der Schrank auf Anabolika, starrte ihn nieder, Draanim und Korys sahen nur wenig freundlicher drein. „Du verdächtigst uns”, sagte der Atavus-Heiler eisig, „Ich versichere dir, wir halten uns an die Regeln.”
„Nachbarn werden routinemäßig befragt, Draanim”, sagte Ga'hil, „und wie ich das sehe, habt ihr für die Attacke auf Hannah kein Alibi. Wie sieht es mit gestern aus? 22:40?”
„Supermarktkasse”, sagte Korys, „Miss Lizzie Williams ist äußerst gutaussehend.” Das Überwachungsvideo würde es bestätigen oder widerlegen, der Kimera sah die anderen beiden Atavus fragend an.
Draanim knirschte mit den Zähnen. „Wir haben kein Alibi”, sagte er, „Wir haben geschlafen.”
Der Kimera nickte knapp und griff nach dem piepsenden Global: „Ja?”
„Noch eine Attacke, hybridisierungsschutzbedingt fehlgeschlagen”, meldete sich Kaylee, „Aby hat den Angreifer zumindest von hinten gesehen - Atavus, männlich.”
Aby! Ga'hil murmelte ein Danke und schob das Global wieder zu, dann blickte er zu den drei Atavus. „Es hat sich erledigt, euer derzeitiges Alibi ist ausgezeichnet. Schönen Tag noch.” Damit verließ er die Wohnung und das Haus, schwang sich auf sein Leihfahrrad und strampelte zur Kochmütze.

„Hi, Ga'hil”, grüßte Frank wenig fröhlich, „Gren hat ein Alibi ... Laurie ... Ich könnte ihm ...!” Er machte eine würgende Geste. „Ich werfe ihn aus dem Haus”, beschloss er dann, „Der soll sich irgendeine Atavusfrau ausgucken, aber nicht meine Tochter.”
„Und weiter?”
„Ich war bei Licau und Zalyc drüben, die haben beide kein Alibi, weil sie im Bett waren”, sagte Frank, „Zalyc ist auch gerade weg. Einkaufen, meinte Licau.”
„Soll vorkommen”, sagte der Kimera, „Ich muss eh noch zum Supermarkt, das Überwachungsvideo holen, da kann ich gleich auch nach Zalyc suchen.”
„Mach das, Liam”, seufzte der Koch, „Ich werde derweil Laurie den Kopf waschen ...”

Der Kimera radelte weiter, allerdings kam er nicht weit, denn Aby winkte ihm vom Schoko-Laden her freundlich zu. Er bremste und stieg ab. „Ich hab einen heftigen Schrecken bekommen, Aby.”
„Dabei hat Kaylee doch extra das mit fehlgeschlagen als erstes gesagt ...”, seufzte sie, „Was jetzt? Auf eine Gegenüberstellung mit lauter Atavushintern habe ich keine Lust.”
„Wie groß ist er? Welche Frisur?”, fragte der Kimera.
„Ehrlich ... keine Ahnung und explodierter Föhn. Wie alle anderen Atavus auch! Einheitsanzug, Einheitshaarfarbe.”
„Es gibt auch blonde Atavus mit andersfarbigem Anzug - aber welche von dem Stamm haben wir noch nicht gefunden, ich weiß es nur durch Cress.” Kurz schimmerten dessen Gesichtszüge durch Ga'hils Fassade.
„Zeig mir den nicht!”, knurrte Aby, „Ich kann mir wirklich Schöneres vorstellen als den einen Mann in Atavusgestalt und den anderen im Gefängnis zu haben.”
Ga'hil seufzte leise und schüttelte langsam den Kopf. „Sieh dir das mal an, Schatz”, murmelte er, „bitte.” Er griff sanft nach ihrem Kinn und baute die materielle Gestalt komplett auf - allerdings verändert. „Die genetische Überlagerung ist immer noch da, Aby”, erklärte er, „Ist es so besser?”
Sie musterte ihn verdutzt, aber zweifelnd. „Tja, blonder Atavus, die undefinierbare Generalsaugenfarbe und eine sehr markante Nase”, sagte sie, „aber, Liam, das bist du nicht! Du bist ja auch nicht mehr Liam Kincaid!”
Er fand es schade, er war gern Liam Kincaid gewesen, er hatte seine Gestalt gemocht. Energisch löste er die Materie wieder auf und verzog sein kimerianisches Gesicht zu einer sehr unzufriedenen Miene. „Schon gut”, murmelte er, „Irgendwann ... irgendwann gibt es bestimmt wieder einen einzelnen Liam. Versprochen.”
„Ja, bestimmt, und jetzt komm weiter. Du hattest doch noch etwas vor, oder?”
„Ja, hatte ich.” Er schob das Fahrrad neben sich her und stellte es schließlich vor dem Supermarkt ab.

„Ga'hil, Aby!”, grüßte der Supermarktbetreiber von der Kasse, „Mejak, übernimmst du bitte kurz?” Der Jaridian löste ihn wie gebeten ab und der Mensch ging voraus durchs Lager und ins Büro. „Video, oder?”
„So ist es, Juan.”
„Angriff hab ich keinen drauf, das kann ich gleich sagen”, murmelte Juan, „Wonach suchst du?”
„Kasse, gestern Abend, 22:40.”
„Okay.” Juan tippte die Uhrzeit und die Kameranummer ein und grinste zufrieden. „Da, sieh mal, wie Liz den Atavus abserviert. Der rennt ihr schon ein paar Tage lang ständig nach. Gut, hat auch Vorteile: Es klaut keiner mehr, seit er hier rumhängt. Die Bengel trauen sich nicht. Wobei, doch, Julian hat trotzdem einen Kaugummi mitgehen lassen - ich hab ihm die Ohren langgezogen. Soll sich Mit'gai doch bei mir beschweren.”
„Damit hat Korys ein Alibi”, stellte der Kimera fest, „Danke. Was ist mit Zalyc?”
„War grad hier, soll ich dir die Zeit raussuchen?” Ga'hil nickte wieder und Juan tippte die Uhrzeit ein und spulte weiter. „Da ist er, geht raus um ... 7:44.”
Kein Alibi.

Aby nahm nun das Fahrrad, Ga'hil joggte neben ihr her wieder den Weg zurück zur Kochmütze und dort in eine Seitenstraße zu einem Wohnhaus mit vier allerliebsten winzigen Wohnungen - offiziell wohnte Aby in einer davon. Ex-Sheriff Mike hantierte mit Zange, Schraubenzieher und Hammer und machte offensichtlich die Namensschilder kaputt, wenngleich seine Absicht vermutlich eher gegensätzlich war.
„Hast du Zalyc und Licau gesehen?”, fragte Aby ihn.
„Gesehen nur Zalyc, der ist gerade mit zwei Bierkisten und einer Tonne Haarpflege rauf, aber Licau ist auch da, sie singt, hört mal.”
Sie sang gut, stellte der Kimera fest, und sie duschte offenbar. „Eine Duschsängerin”, sagte er, „nicht auf Menschen beschränkt.” Er nahm jeweils vier Treppenstufen auf einmal und klingelte dann bei den beiden jungen Atavus.
„Wer da?”, erklang Zalyc.
„Ga'hil”, antwortete der Kimera, worauf ihm sofort geöffnet wurde.
„Und ich auch”, schnaufte Aby nun die letzten Stufen hoch, „Können wir reinkommen?”
Zalyc musterte sie irritiert und wies dann auf die Sitzecke. „Klar. Was ist denn los?”
„Ich weiß nicht, ob Licau es dir erzählt hat, aber es gibt einen Atavus, der sich nicht an das Piksverbot hält”, sagte Ga'hil, als er saß, „Es ist eine mühsame Arbeit, alle Alibis zusammenzusammeln, aber es muss getan werden. Wo warst du gestern um 22:40, heute um 7:23 und um 7:48?”
„Im Bett würde ich sagen ... und vorhin war ich einkaufen. 7:23 ... im Bad, denke ich.”
„Das ist kein Alibi”, stellte der Kimera fest. Im Bad hörte das Wasserrauschen auf, einen Augenblick später pustete ein Föhn los.
„Tut mir leid. Soll ich bei dir einziehen oder was?”
„Keinesfalls”, sagte Ga'hil, „Halte dich an die Regeln, ich werde schon den richtigen Atavus erwischen.”
„Das hoffe ich”, Zalyc runzelte die Stirn, „Ich halte mich an die Regeln, und Licau tut es auch.”
„Licau war es nicht”, sagte Aby, „Ein Atavus-Mann pikst, soviel wissen wir schon.” Sie wandte sich um und musterte die junge Atavus, die barfuß in einem engen, gelben Minikleid und mit atavusuntypisch glatten Haaren begleitet von Dampfschwaden aus dem Bad kam und die Gäste freudig begrüsste.
„Ga'hil, ich bin die ganze Box durch!”, erklärte Licau, „Hast du noch mehr solche Science-Fiction?”
„Es gibt noch genug davon, Licau”, sagte er, „Aber im Moment muss ich mich um etwas kümmern. Komm mich gerne am Abend besuchen. Nach der Versammlung.”
„Versammlung?” Sie runzelte die Stirn.
„Die Einladungen sind noch nicht raus, kommen im Laufe des Tages. Wir müssen jetzt weiter. Oh, und, schöne Frisur!” Sie lächelte schüchtern und strich über die leichten Wellen ihrer Haare und Zalyc runzelte kritisch die Stirn, Ga'hil und Aby verließen derweil die Wohnung.

Viel mehr Erfolg hatten sie auch weiterhin nicht und Kaylee und Frank ging es genauso. 44 Atavus hatten ein Alibi für mindestens eine der Attacken, 12 hatten sogar eines für alle - und ausgerechnet zu denen zählte jener Atavus, dem Ga'hil die Attacken am ehesten zugetraut hätte: Howlyn.
Offensichtlich war es nicht Howlyn.
Die gesamte Stadt lückenlos zu überwachen kam nicht in Frage, die Atavus alle einzusperren auch nicht. Beim Mittagessen schlug Ga'hil seiner Tochter vor, wahllos Stadtbewohner mit einer Dosis Energie zu versehen und abzuwarten, bis jemand den Angreifer besser identifizieren konnte als Aby. Zudem wäre es so auch sicherer, falls der Angreifer doch noch zu tödlichen Attacken überginge.
Am Nachmittag erwischte es Laurie im Gemüsegarten - Frank war überzeugt, dass es sich um mehrere Angreifer handelte, um sich die Alibis aufzuteilen, und Gren einer davon war. Vielleicht hatte er recht, und Laurie war auch verunsichert.

„Warum jetzt?”, überlegte Zoriel, als sie Lauries Krankenzimmer verließ, „Die Atavus sind schon fast zwei Wochen hier, warum passiert das erst jetzt?”
„Ich habe keine Ahnung”, gab Ga'hil zu, „Vielleicht erst auskundschaften?”
„Stimmt. Sie haben sich ja auch zwei Jahre lang versteckt.” Die vereinigte Atavus kramte in ihrer Hosentasche und fütterte den Getränkeautomaten mit Münzen.
„Zoriel, darf ich dich um etwas bitten?”
„Klar”, sagte sie, „Worum geht es?”
„Geh zu Zalycs Wohnung und stoppe die Zeit, die du zum Supermarkt brauchst, ohne dich auf der Straße sehen zu lassen, Balkone und Dächer ausdrücklich erlaubt, Tarnung nicht”, sagte er, „und dann stoppst du noch, wie lange du von der Stelle, an der Aby attackiert wurde, zurück zu Zalycs Wohnung brauchst.”
„Du verdächtigst ihn?”, war die Atavus verdutzt und zog die Flasche Mezachak aus dem Automaten, „Würde ich nicht. Ich würde mir eher Broyc ansehen ... oder Jakrys.”
„Glaub mir, Aby hätte einen Schrank erwähnt, wenn es einer gewesen wäre”, widersprach Ga'hil kopfschüttelnd, „Nein, der Angreifer hat eine normale Statur und Zalyc war als bisher einziger erwiesenermaßen in der Nähe einer Attacke.”
„Okay”, sagte Zoriel, „Ich mache dir deinen Sprint. Sonst noch was?”
„Nein. Ich weiß zwar noch viel zu erzählen, aber dafür gibt es ja die Versammlung.”
„Na dann bis dann.” Sie grinste und sprang aus dem nächstbesten Fenster.
„Angeberin”, kommentierte Louise, „aber du, Ga'hil bist auch nicht besser.”

Er sprang jedenfalls nicht einfach aus dem Fenster, er benutzte die Türe. Es war ohnehin nicht mehr sehr lange hin bis zur Versammlung und Ga'hil wollte sicher gehen, dass technisch alles bestens funktionierte. Er betrat die Rathaushalle und stellte sich neben Trigal auf, „Klappt es?”
„Aber sicher”, bestätigte der Jaridian, „Sieh mal.” Er legte einen Hebel um und die Luft flimmerte.
„Ga'hil, hier herüben!” Bess winkte aus der Turnhalle der Grundschule, die eigentlich 700 Meter entfernt war.
Auf der anderen Seite winkte die jugendliche Jaridian Jiannar aus dem Theater. „Huhuuu!” Sie war über zwei Kilometer weit weg.
„Absolut genial”, stellte der Kimera fest und ging auf die Jugendliche zu, vorsichtig legte er seine Hand auf die unsichtbare Wand. „Beeindruckend.”
Sie nickte. „Sogar Augur hat das gesagt. Paps sagt, das kommt sonst nie vor.”
„Augur ist da?”, war Ga'hil verblüfft.

„Oh ja.” Damit kam der Hacker mit einer Tasse Kaffee aus dem Vorbereitungsraum. „Aby hat doch alle, die draußen sind, gewarnt, dass es gefährlich werden könnte. Mich natürlich auch.”
„Ich hätte nicht gedacht, dass du und Street ein Versteck braucht.”
„Natürlich brauchen wir keines, wir haben ja selber genug, aber der Solidarität wegen ... sind wir eben doch hergekommen.” Er grinste, nippte am Kaffee und fuchtelte mit der freien Hand. „Ehrlich gesagt will ich doch vor allem in der Nähe sein, wenn Lil zurückkommt”, seufzte er dann, „Sie ist schon lange weg. Zu lange, finde ich. Findet Street auch.”
„Ja, da bin ich ganz deiner Meinung ... sie sollten doch schon lange wieder zurück sein.” Ga'hil seufzte leise und griff nach seinem Global. „Ja?”

„Tut mir leid, schlechte Nachrichten”, meldete sich Mitch, „Mir wurde ein Haftbefehl für Jae'yal Beckett zugespielt. Noch ist er nicht unterzeichnet, aber ich fürchte, das wird passieren.”
„Mit welcher Begründung will denn jemand sie verhaften?”, fragte Ga'hil entsetzt, „Ihr kann man doch nicht einmal um drei Ecken Fluchthilfe anlasten ...”
„Mord, Ga'hil”, sagte Mitch, „Fünf Menschen beziehungsweise unbewiesene unechte Atavushybriden in der Atavus-Kammer. Das ist nicht gut, es zieht nämlich leider, wenn man ignoriert, dass sie im Prinzip Soldatin in einer Kampfsituation war.”
„Ich werde sie nicht zwingen, sich zu stellen”, sagte Ga'hil fest, „und ich werde die Abriegelung von Clearwater nicht aufheben.”
„Ich fürchte, mein Freund”, seufzte Mitch, „dass die bösen Buben genau darauf spekulieren. Sie werden sagen, dass ihr euch als über den Gesetzen stehend anseht.”
Das war natürlich etwas unpraktisch. „Rede mit ihr”, sagte der Kimera, „und vielleicht haben wir genug Zeit und treten den Atavus zuvor in den Hintern.” Auch wenn er es langsam nicht mehr glaubte. Inzwischen hatte er zunehmend das Gefühl, dass die Atavus hinter ihren Marionetten schlicht nicht greifbar waren.

* * *

Es war die erste vollständige Volksversammlung von Clearwater. Wirklich alle waren dennoch nicht anwesend, denn einige hüteten die Kinder der Stadt. Rathaushalle, Turnhalle und Theater waren zum Bersten voll und nicht nur einmal knallte jemand mit der Nase gegen die getarnte Wand.
Bürgermeister Marty Gonsalves, Sheriff Kaylee Chapman und Ga'hil standen auf dem Podest in der Rathaushalle und kämpften um gleichzeitiges Schweigen aller knapp über viertausend Anwesenden - Maeva grinste ein paar Minuten lang hämisch, dann kletterte sie auf das Podest und zeterte los, es möge sich bitte in Zukunft kein Elternteil mehr damit rausreden, dass Schulkinder eben wild waren und es noch lernen mussten (aber bitte von den Lehrern, nicht von den Eltern).
Wer eine pubertierende Schulklasse zum Schweigen brachte, schaffte es auch bei viertausend Stadtbewohnern. Maeva übergab stolz das Wort an Marty.

„Liebe Bürger, es dürfte inzwischen zu jedem durchgedrungen sein, dass wir ein Problem haben. Wir, die USA, um genau zu sein, zumindest vorerst. Unser Präsident hat mit hoher Wahrscheinlichkeit inzwischen Krallen, der FBI-Chef liegt im Koma, Homeland Security verhaftet willkürlich - laut vager Aussage eines inzwischen nicht mehr erreichbaren Insiders werden die Verhafteten gepikst und die paar wieder Freigelassenen hybridisiert.”
„Die paar wieder Freigelassenen äußern sich allesamt zwar ärgerlich, aber erstaunlich verständnisvoll, was die Verhaftungen angeht”, fügte Kaylee hinzu, „Ehrlich, normal ist das nicht.”
„Ich bin der Meinung, dass wir das überprüfen müssen”, sagte Ga'hil, „Ich habe vor, einen Hybriden in die Stadt zu holen - Ma'els Signalgeber sollte ihn ins andere Gemeinwesen umkoppeln.”
„Ins andere Gemeinwesen?”, platzte Howlyn heraus, „Du brachtest uns hierher, um uns deinem Gemeinwesen auszusetzen?”
Der Kimera beugte sich etwas nach vorne. „Dem Taelongemeinwesen, nicht meinem. Sag mir, Howlyn, hat es dich sehr geändert? Fühlst du dich sehr anders als vorher?” Der Atavus grollte etwas, schwieg dann aber doch. „Für Hybriden ändert sich möglicherweise sehr viel”, erklärte Ga'hil, „Louise nimmt an, dass quasi der Motivationsimperativ wegfällt, wenn der Hybrid das Gemeinwesen wechselt. Das Taelongemeinwesen zwingt nämlich niemanden mehr zu etwas.”
„Wie hast du vor, den Hybriden in die Stadt zu bringen?”, fragte Frank, „Du kannst dich nicht blicken lassen.”
„Nein. Jemand anderes muss das tun.” Der Kimera legte die Hände auf den Rücken und sagte: „Zoriel, der Auftrag geht an dich - und am liebsten wäre mir, du schnappst dir einen Hybriden in einer eher hohen Position. Das Beste, was deren Sicherheitsvorkehrungen eben hergeben.”
„Geht klar”, sagte die Atavus, „Noch was?”
„Nicht aufzufliegen hat höchste Priorität - sonst wirst du auch noch verhaftet”, sagte er, „Ich habe erfahren, dass Jae'yal meinem anderen Ich Gesellschaft leisten soll.”
„Ich drücke mich nicht”, kam von Harmony.

„Ga'hil!”, rief Aby und winkte mit ihrem Headset, „Noch mehr Neuigkeiten!”
„Gute oder Schlechte?”, fragte Ga'hil.
„Kommt drauf an. Erkläre erst die Politik, dann erzähle ich.”
Er straffte sich und spazierte einen Kreis auf dem Podest. „Wie gesagt ist es ein Problem der USA. Rostok hängt zwar auch fest an Marionettenfäden und das gilt für noch einige andere Länder, Brasilien, Neuseeland, Australien - aber gerade EU und AU haben schnell genug auf die Atavus-Infiltration reagiert und protestieren heftigst, öffentlich und politisch”, sagte er, „Es ist noch kein Weltproblem. Wie es in Asien aussieht wissen wir nicht - oder sind die Neuigkeiten dazu, Aby?”
„Nein”, sie schüttelte den Kopf und kletterte aufs Podest, „Es sei denn, Rom liegt neuerdings in Asien.”
„Rom?”
„Vatikan, konkret. Ga'hil - sagt dir der Begriff Parusie etwas?”
Er verlor einen Augenblick seine Fassade. „Natürlich, ich erinnere mich an eine komplette Klosterschullaufbahn ...” Er wollte den Gedanken gar nicht denken ... aber sein Gedächtnis briet ihm die bebrillte Ordensschwester mit dem Stück Kreide in der einen und dem Zeigestock in der anderen Hand (und das, was auf der Tafel stand) zu deutlich über. „Bitte, sag nicht ...”
„Doch!”, nickte Aby energisch, „Du bist hiermit per päpstlichem Dogma die Wiederkunft Christi.”
Dazu wusste er nur eines zu sagen: „Die spinnen, die Römer.”
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe das mit dem jüngsten Gericht auch nie so verstanden, dass der Messias angeklagt wird ... ich muss da irgendetwas in der Bibel falsch ausgelegt haben.” Er rollte mit den Augen. „Jedenfalls hast du jetzt aber ein paar Fans mehr als vorher - strenggläubige Katholiken waren ja seit Auffliegen der Taelons nicht mehr sehr alienfreundlich eingestellt, das hat sich jetzt definitiv geändert.”
Er festigte seine Fassade und ballte die Hände zu Fäusten. „Ich werde den Katholiken definitiv kein jüngstes Gericht und kein Reich Gottes liefern können!”, sagte er fest, „Der Papst irrt - und das ausgerechnet bei einem Dogma. Das Weltbild wird gründlich zerstört.”
„Ich darf fortfahren?”
„Noch mehr Dogmen?”
„Schisma. Die Jae'yalisten sind der Meinung, dass der Papst sich in der Person geirrt hat - und dann gibt es natürlich auch noch Leute, die behaupten, dass es noch ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende hin ist bis zum jüngsten Gericht.”
Ga'hil seufzte und blickte kurz zu seiner Tochter, die seinen Blick mit tellergroßen Augen und offenem Mund erwiderte. „Noch etwas?”, fragte er dann.
„Nein, der Religionsunterricht ist hiermit beendet.” Aby kletterte vom Podest und verdrückte sich in die Menge.
„Du könntest deine neuen Fans einspannen, Ga'hil”, schlug Marty vor, „und Jae'yal ihre Fans genauso.”
„Würde funktionieren - ist aber eine äußerst blöde Idee, mein Lieber”, schüttelte Kaylee den Kopf, „Religion ist ein äußerst heißes Pflaster, man sollte die Finger davon lassen.”

„Ich werde nicht den Messias mimen!”, erklärte Ga'hil energisch, „Und Jae'yal genauso wenig. Wir sind Kimera, keine göttlichen Wesen. Können wir wieder zu nicht mythisch verklärten Fakten zurückkommen?” Der Bürgermeister zog eine Grimasse, nickte aber nach einem Moment doch. „Schön”, sagte der Kimera, „Ich brauche Leute für den direkten Kontakt mit europäischen und afrikanischen Regierungen. Freiwillige? Mabel? Spanien?”
Die Latina nickte. „Mache ich.”
„Mike, du kannst Deutsch, richtig?”
„Etwas eingerostet, aber ich bin dabei”, bestätigte der Ex-Sheriff.
26 Personen teilte Ga'hil ein, wenngleich er sich gewünscht hätte, wirklich in jedem Staat jemanden zu haben - aber dafür waren schlicht nicht genügend Sprachkenntnisse herum. Wer in Clearwater konnte schon Finnisch oder Amharisch? Und zudem konnte man natürlich nicht irgendjemanden schicken, sondern es musste jemand sein, der diese Aufgabe auch bewältigen konnte.

„Ga'hil, was ist mit General Tsvangirai?”, fragte Vorjak.
„Lettice weicht ihm nicht von der Seite”, sagte der Kimera, „und Major Blanchet ist bei Mitch.” Er blickte in die Runde und seufzte. „Mehr habe ich nicht zu sagen”, gab er nun bekannt, „Bitte Ruhe bewahren. In der Stadt sind alle sicher.” Jedenfalls sofern der piksende Atavus nichts Schlimmeres anstellte und endlich gefunden wurde.

Sie suchten weiter, diesen Abend, den nächsten Tag, zwei weitere Tage, ohne Erfolg. Allerdings hielt sich der Atavus zurück, nur mehr vier Attacken gab es, danach war Ruhe. Kaylee schob es auf den energetischen Schutz, der den Atavus am Energiekontakt hinderte. Ga'hil zweifelte daran, denn auch die vier späteren Attacken waren ohne Zeugen und ohne zu schwere Verletzungen verlaufen.
Lili war kurzfristig ins Martínez-Haus umgezogen, da Mabel ja in Spanien war und nicht auf ihre drei Atavus-Gäste achten konnte. Zoriel drückte sich als Joanna Braxton in Washington herum und suchte nach einem nicht zu schwer zu entführenden und dennoch hochstehenden Atavushybriden, was alles andere als leicht war.

Aby war und blieb die einzige aus Clearwater, die Mensch-Liam besuchen durfte - natürlich nicht als Ehefrau, das wusste ja keiner, sondern als Medienvertreterin. „Du kennst dich mit den Medien auch aus”, sagte sie beim Abendessen, „Wenn du willst, kannst du meine Gestalt annehmen.”
„Und dich in einen Kokon packen? Nein, das tue ich dir nicht wieder an ...”
„Schatz ... es ist nicht so schlimm”, sie legte ihm eine Hand auf den Arm und schmunzelte, „sofern man nicht im Winter in einem Müllcontainer wieder erwacht.”
Ga'hil runzelte die Stirn und musterte seine Frau kritisch. „Aby ..., Cress wird seine Gestalt nicht freiwillig wieder hergeben”, seufzte er, „Wenn ich ihn jetzt aus seinem Kokon lasse, ich meine ... Aby ...”
„Du kannst die materielle Gestalt auch ohne Cress wieder aufgeben”, sagte sie, „Du weißt noch nicht wie, aber es geht. Ich vertraue dir, Liam!”
„Aby ...”
„Komm schon, es ist besser, wenn du dich frei bewegen kannst. Weder als Kimera noch als Atavus kannst du das - aber als ich kannst du es! Also?”
Ga'hil biss sich auf die Zunge, um nicht mit einem fürchterlichen Fluch herauszuplatzen. „Ich brauche dich, Aby!”, protestierte er dennoch, „In einem Kokon bist du ... weg.”
Sie strich mit zwei Fingern über seine Wange: „Nein. Ich bin bei dir. Wir haben doch dann eine mentale Verbindung!”
Er verzog das Gesicht. „Ja, haben wir.”
„Na also”, sie lächelte, „Morgen früh?”
„Du bestehst also darauf”, seufzte er, „Also gut, morgen früh.” Er folgte mit seinem Blick dem letzten Stück Kartoffel, das soeben auf eine Gabel gespießt in Abys Mund verschwand. „Hat es geschmeckt?”, fragte er.
„Sehr gut”, nickte sie, „und ganz besonders gut, wenn man bedenkt, dass dein Geschmackssinn im Moment ja sehr verquer ist. Das Abschmecken ist sicher sehr schwierig auf die Art.”
„Das kannst du laut sagen.”

Er griff nach ihrer Hand und leitete ein Sharing ein. Wenn er die Gestalt des Atavus von sich werfen könnte, er würde es tun ... aber er wusste nicht wie. Sie lächelte ihn zuversichtlich an - solange sie ihn vor sich hatte und nicht Cress, war es ihr gleich, ob tief in ihm ein energetischer Abdruck von Cress' Genen steckte.
Aby legte ihre Gabel ab und streckte ihre zweite Hand über den Tisch, sie verschränkte ihre Finger mit denen des Kimera. Paizhat war derweil so freundlich, den aus seinem Körper gebildeten Tisch zwischen ihnen verschwinden zu lassen. Liam stand auf und zog seine Frau zu sich - oder vielmehr in den flackernden Energiewirbel, der er nun war.
Er war eins mit ihr! Jede Faser ihres Körpers von seiner Energie umwoben, jeder Gedanke ein Feuerwerk. Aby streckte ihre Arme wohlig durch, die letzte Zehenspitze verlor soeben die Bodenhaftung. In diesem Moment war Liam nicht mehr klar, wo sein Verstand aufhörte und Abys begann. Oder war es Aby, die nicht mehr wusste, wo ihr Verstand aufhörte und Liams begann?
Es gab nur diesen ewigen Augenblick aus purer Ekstase.

Ga'hil legte seine müde Frau auf dem Sofa ab und nahm neben ihr seine eigene feste Gestalt wieder an. „Gute Nacht”, flüsterte er.

Kimera schliefen nicht, Kimera regenerierten wie die Taelons und ordneten dabei ihre Energie. Als Hybrid hatte Ga'hil sich nie regeneriert, es war noch immer neu für ihn und forderte ihm immense Konzentration ab.
Ohne Da'ans Hilfe zur Meditation müsste er in Cress' Gestalt schlafen, allerdings wirkte im Schlaf das Gemeinwesen stärker auf seine atavanischen Mitglieder ein - auch auf den Kimera in Atavus-Gestalt. Einmal war das geschehen - was für ein Albtraum war das gewesen, Taelons und Atavus flüsterten durcheinander, Howlyn schrie etwas Unverständliches, übertönt von all den Taelons.
Da'an war gekommen, Ga'hil zu wecken, weil das Gemeinwesen seine starke, dennoch vollständig unbewusste Stimme als sehr störend empfand. Der Kimera hatte sich gedemütigt gefühlt - jeder im Gemeinwesen hatte sein Inneres wahrgenommen, zum Glück allerdings nur recht vage.

Es würde nicht wieder geschehen.

* * *

Die ersten Sonnenstrahlen drangen zwischen den glitzerweißen Vorhängen durch und Ga'hil bewegte eine Hand, worauf sich die Vorhänge auflösten. Aby blinzelte und streckte sich. „Ist schon Morgen?”, gähnte sie.
„Das schon - aber es hat noch Zeit.”
Sie blickte auf ihre Uhr und seufzte laut auf. „Liam! Du hast es übertrieben - die Uhr ist stehengeblieben!” Sie setzte sich auf, löste das Gerät von ihrem Handgelenk und drückte es dem Kimera in die Hand. „Los, reparieren.”
„Seit wann bin ich Uhrmacher?”, war er verdutzt, „Ich bringe sie zu Nella, die macht sie wieder ganz. Ist ja nicht das erste Mal ...” Er legte einen Arm um Aby und schlug vor: „Vielleicht sollten wir in Zukunft auch einfach besser darauf achten, empfindliche Geräte zuerst abzulegen.”
„Hmm.” Sie lehnte sich an ihn. „Vielleicht solltest du dich einfach möglichst bald wieder mit deinem anderen Ich vereinigen”, sagte sie, „Früher ging meine Uhr nie kaputt.”
„Ich bemühe mich.”
„Möchtest du jetzt meine Gestalt annehmen?”, fragte sie, „Duschen lohnt jetzt nämlich nicht, ich bin danach sowieso völlig klebrig.” Ga'hil fühlte sich nicht gerade wohl dabei, aber er nickte. „Dann gehen wir”, sagte Aby, „und lassen Cress aus dem Schrank.” Sie zog ihn hinter sich her die Treppe hoch ins Schlafzimmer und öffnete mit einer Handbewegung die filigrane weiße Schranktürmembrane - der braune Kokon fiel ihr entgegen und sie legte ihn auf den Boden.
Ga'hil griff nach Abys Handgelenken. „Bereit?”
„Ja.” Sie atmete tief durch. „Bereit.”
Der Kimera hob seine Hände und berührte ihr Gesicht. „Ich liebe dich.” Dann ließ er die Energie strömen und formte seine Gestalt neu. Kristallkeime bedeckten Abys Körper, die mentale Verbindung zu Cress zerbrach in diesem Moment ...

Aby starrte auf den braunen Kokon vor ihr - und den braunen Kokon neben dem Bett, in dessen Innerem sich der Atavus zu regen begann. Eilig änderte Ga'hil seine Form zur rein kimerianischen und packte Aby in den Schrank, dann hockte er sich nieder und wartete, bis Cress sich befreit hatte.

„Du!”, fauchte der Atavus und richtete sich auf.
„Du warst über einen Monat außer Gefecht”, erklärte der Kimera, „Du und die Deinen werden durch meine Energie ernährt, ihr dürft die Stadt nicht verlassen und selbstverständlich auch niemanden piksen.” Er flackerte kurz amüsiert. „Du wirst bei Mit'gai und seiner Familie wohnen. Gehen wir!”

Ga'hil lieferte Cress trotz versuchter Weigerung beim Taelonheiler ab und flog in Abys Gestalt nach Washington, um sein anderes Ich zu besuchen, allerdings waren die Wachen sehr wachsam, wie sie es in ihrem Beruf natürlich sein mussten. Es gab keine Gelegenheit zu einem winzigen Sharing, ganz zu schweigen einem längeren Austausch.
Vielleicht würde es Jae'yal gelingen, sie belegte nun die Zelle neben Liam.
Abys Gedächtnis wurde oft gebraucht. All die Anwälte und Medienvertreter hatten Namen und Ga'hil musste jeden einzelnen davon (ganz zu schweigen von allen anderen Informationen) über die mentale Verbindung holen. Aby schlief, kein Gedanke war in ihr, sie war fort, nur ihr Wissen war da.
Es fühlte sich überhaupt nicht tröstlich an. Warum hatte er sich nur dazu überreden lassen?
Liams Hauptanwältin hieß Annika Moranis und war eine aufgetakelte rothaarige unechte Taelonhybridin, was bedeutete, dass sie nicht an den Marionettenfäden der Atavus hängen konnte. Für Harmonys Hauptanwalt Cliffard MacDuff galt das nicht - außerdem erinnerte sein dunkler Schnurrbart unangenehm an Präsident Federov. Aber auch er arbeitete verbissen an der Verteidigung seiner Mandantin.

Zwei Tage nach seiner Erweckung aus dem Kokon versuchte Cress eine Revolution und fand sich von Mit'gais zweijähriger Tochter Lonnie angeschossen im Krankenbett wieder, gemeinsam mit Broyc und Korys und zwei weiteren Atavus. Noch einen Tag später zog ein katholischer Protestmarsch vor dem Gefängnis hin und her und wurde gewaltsam aufgelöst. Zoriel meldete einen Misserfolg - sie war zwar ungesehen davongekommen, aber definitiv wurden die Sicherheitsvorkehrungen der Atavus nun verschärft.
Neun Tage nach Liams Verhaftung versuchten die gegnerischen Anwälte ihn in einem Verhör auseinanderzupflücken - und Ga'hil stellte erleichtert fest, dass er die Worte seines anderen Ichs trotz der langen Trennung mit beeindruckender Präzision voraussagen konnte.

Aber man musste nicht die andere getrennte Hälfte sein, um voraussagen zu können, dass Liam auf die Frage nach seiner menschlichen Identität nicht antwortete, auch wenn die Anwälte ihm geballt an den Kopf warfen, dass er unter Eid stand - und der Richter ihn anwies, die Frage zu beantworten.
„Es tut mir leid, aber ich werde diese Frage nicht beantworten”, sagte Liam, „Ich habe die schriftliche Zusage von sämtlichen Präsidenten seit meiner Geburt, dass einzig ich entscheide, meine Identitäten zusammenzuführen.”
„Ich ziehe die Frage zurück”, sagte der Anwalt Brooke Donaldson, „Sie ist unnötig. Wir haben genügend Hinweise auf Mr. Becketts zweite Identität zusammengetragen und werden sie bei Gelegenheit aufzählen.”
Vom Richtertisch erklang der Hammer - vertagt, auf Montag, denn das Wochenende ließ sich der Richter nicht nehmen.

Auch am Montag flog die Kincaid-Identität nicht auf. Ga'hil vermutete, dass die Anwälte exakt überhaupt nichts wussten und nur versuchten, Liam aus der Reserve zu locken. Am Dienstag versuchten andere Anwälte dieselbe Masche bei Jae'yal, doch auch sie verwies auf die Sondererlaubnis - und zeigte den werten Herren energetisch den Vogel. Der taelonische Beobachter Se'eb stimmte ihr auf dieselbe Weise zu - außer ihnen beiden und Ga'hil konnte das aber im Gerichtssaal niemand wahrnehmen.
Die Anwälte ließen die Frage der Identität nun beiseite und kamen zum eigentlichen Thema der Anklage: Mord an fünf Menschen - Betonung auf Menschen. Harmony erläuterte ihre Sicht der Dinge mehrfach mit verschiedenen Schwerpunkten, aber absolut konsistent und glaubwürdig (und natürlich wahr).
Insbesondere erhob sie Einspruch gegen die Bezeichnung Mord - nicht nur war sie als Soldatin unterwegs gewesen, die Opfer waren alle noch am Leben. MacDuff erbat einen Ausflug in die Atavus-Kammer und wurde abgeschmettert.

Am Abend meldete sich Zoriel: „Ga'hil, ich kann dir einen Hybriden bringen, einen reichlich hochrangigen sogar.”
„Dann tu es”, sagte er.
„Es gibt Bedenken”, widersprach sie, „Es handelt sich um Richter Edwards. Sein Verschwinden dürfte Probleme bereiten.”
Ga'hil seufzte laut auf. „Harmonys Richter ist ein Hybrid, meiner also vermutlich auch ... das erklärt einiges. Frag Kural, ob er eine Attrappe von ihm machen kann, die ohne taelonische Hilfe nicht als Attrappe erkennbar ist.” Sie nickte kurz. „Wenn es geht, lass Licau die Attrappe aufspießen und entführe den Richter. Sollen sich die Atavus doch über einen der eigenen Leute ärgern.”
„Ich frage nach”, bestätigte sie und verschwand.

Der Kimera steckte das Global in Abys Handtasche und schaltete das Störfeld aus, dann kehrte er zu den tratschenden Anwältinnen und der Runde Erdbeerlikör zurück - das Thema: Haarfärbemittel. Er war sich nur nicht ganz sicher, ob es angemessen war, Abys Erfahrungen mit Grauabdeckung anzusprechen.
Er ließ es, er redete lieber über Strähnchen und Spitzen. Glücklicherweise musste er nicht lange reden, Annika Moranis riss das Thema an sich und erklärte, was man alles falsch machen konnte - gute zehn Minuten lang. Wenn sie Liams Verteidigung genauso flammend führen konnte, dann war er bald wieder frei.

Allerdings ging nichts vorwärts. Laut Kural wäre die Attrappe auch ohne taelonische Hilfe erkennbar, der Richter wurde nicht entführt. Die Verhandlungen gingen schleppend, die Anklage verlegte sich auf unzählige Zeugenbefragungen, die Verteidigung bekam Steine in den Weg gelegt.
Und Europa und Afrika kämpften gegen atavanische Versuche, hohe Ämter zu hybridisieren - das britische Unterhaus hatte eine nicht hybridisierte, geschützte Mehrheit, Polen hatte gar ungeschützte Mitglieder in der Regierung verboten und durch Scans vier Hybriden entdeckt und ausgeschlossen.

Und dennoch ... es schien, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Atavus die Macht erlangten.

* * *

Es war Sonntag Vormittag und Ga'hil drückte sich an der Menge vorbei, wobei er möglichst versuchte, nicht zu böse dreinzublicken - das wäre während der Sonntagsmesse in einer zum Bersten vollen Kirche etwas daneben. Alle Blicke waren auf den salbungsvoll vortragenden Priester gerichtet - der Kimera knirschte mit den Zähnen, als sein Name mit dem Attribut heilig versehen wurde, und huschte zum Eingang ins Versteck. Der Genscanner erkannte Aby und öffnete die Wand, ein jaridianisches Hologramm verbarg die Öffnung.
„Augur!”, schrie Ga'hil den Hacker an, sowie er aus dem Lift kam, „Was fällt dir ein, eine Merchandising-Abteilung zu eröffnen?”
„Hmm?” Augur blickte vom Computer auf und nahm die Kopfhörer ab.
Die ganze Lautstärke vergebens ...
„Augur”, knurrte Ga'hil, „Könnte es eventuell sein, dass du jemandem verraten hast, dass ich genau in dieser Kirche gezeugt wurde? Dass du vielleicht an der Kimera-Medaillen-Stiftung beteiligt bist? Oder an dieser unsäglichen Reliquien-Lüge mit den Haarlocken meiner Mutter?”

Natürlich nicht!”
„Nicht? Ganz sicher nicht?”

„Vielleicht ... eine ganz kleine finanzielle Beteiligung ... nur eine ganz klitzekleine. Das meiste geht ans Rote Kreuz!”
„Aber nicht alles - Augur, beende das auf der Stelle!”
„Ach, komm schon ... die Pfaffen benutzen die Schäfchen auch nur!”
„Ich sagte: Beende es!”, fauchte der Kimera, „Keine Diskussion!”
„Liam ...”, Augur verdrehte die Augen, „Wie soll ich denn sonst etwas verdienen?” Das kommentierte Ga'hil jetzt aber wirklich nicht, Augur war schließlich so was von steinreich, dass er der einzigen Cousine des verstorbenen Joshua Doors heftig Konkurrenz machte - was allerdings nicht gar so schwer war, weil sie ihr Vermögen zum Fenster hinauswarf und bereits beachtlich dezimiert hatte. „Sieh mich nicht so an!”, knurrte der Schwarze, „Segne das mal lieber.” Er griff nach der Blumenvase und hielt sie dem Kimera unter die Nase.
„Bitte was?”
„Naja, Weihwasser, oder?”
Ga'hil entriss ihm die Vase und knallte sie zurück auf den Tisch. „Der Teufel hätte seine helle Freude mit dir. Lass! Es!” Augur zog eine überaus arme, geprügelte Miene, aber das hatte gegen diesen kimerianischen Ärger keinen Effekt. „Du bist ein absolut ungläubiger Taufscheinchrist, und noch nicht mal Katholik”, wurde Ga'hil sehr laut, „Du glaubst nicht, was der Papst da behauptet. Du glaubst nicht, dass ich Wasser zu Weihwasser machen kann ... nicht dass ich zwischen Wasser und Weihwasser einen Unterschied sähe. Du glaubst nicht an heilwirkende Medaillen, anbetungswürdige Haarlocken oder gar die Heiligkeit eines Ortes, an dem ein Alien und ein Mensch nur Sex hatten!” Er starrte Augur nieder, der mit reichlich entgleistem, fast furchtsamem Gesichtsausdruck an der Computeranlage stand und sich an zwei schweißfeuchten Stellen festklammerte.

Verdammt! Ga'hil stellte peinlich berührt fest, dass er eine blitzende grünweiße Energiewolke war und seinen Freund mehrstimmig hallend anschrie. Er formte wieder die humanoide Gestalt und schlich davon. „Entschuldige ... ich war gerade nur ziemlich sauer ...”

Augur wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab und ging dem Kimera nach. „Das war ... beeindruckend”, sagte er, „gelinde gesagt.”
Ga'hil festigte seine Form, bildete Knochen, Blutgefäße, Fleisch und Haut und riss in Abys Gestalt den Kühlschrank auf. „Es tut mir leid, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen”, seufzte er und verdampfte per Shaqarava den Deckel einer Saftflasche.
„Liam ... du bist absolut dagegen, also ... also lasse ich es”, sagte Augur hörbar widerstrebend, „Ich verkaufe die Anteile, werfe die Hautzellen weg ...”
Hautzellen?”, wandte sich Ga'hil energisch um, „Du züchtest die Haarlocken? Du bist unverbesserlich, ich dachte, Street hätte dich etwas legaler gemacht.”
„Hat sie doch!”
„Hmm.” Der Kimera musterte seinen Freund kritisch und nahm einen großen Schluck. In diesem Moment zweifelte er sehr an Augurs absolut legalem Leben. „Wenn du dich zusätzlich zu den Gesetzen auch noch an ein bisschen Anstand hältst und auch nicht alle Grauzonen ausnützt, das wäre doch was.” Noch ein Schluck - und die Flasche war leer.
„Na gut ...”, seufzte Augur und schloss den Kühlschrank, „Strom sparen! Ich bin dank dir ja bald eine arme Kirchenmaus!”
Kirchenmaus! Ga'hil rollte mit den Augen und griff in die Handtasche nach Abys Global. „Ja?”
Kaylee meldete sich: „Wir haben den Pikser!”
„Bin gleich da”, sagte er und schob das Gerät zu, dann blickte er zu Augur, drückte diesem die Flasche in die Hände und beschloss: „Ich nehme dein Portal. Und wenn du heute Abend noch aus meiner Heiligkeit Profit schlägst, werde ich etwas dagegen unternehmen müssen!”
„Schon gut”, brummte Augur und stapfte von dannen.

Ga'hil selbst marschierte zum Portal und stellte Clearwater als Ziel ein, dann trat er zwischen die Streben und fand sich in der Stadt wieder. Er nahm sich ein Leihfahrrad und strampelte zum Polizeirevier.

Kaylee, die im Hauptbüro Tetris spielte, sprang auf und wies auf die Türe zum Verhörzimmer. „Zalyc war es, er hat sich gestellt. Du darfst ihn gerne demontieren.”
Zalyc? Zwar hatten etliche Indizien auf ihn gewiesen, aber tatsächlich geglaubt hatte Ga'hil es keinesfalls.
Der Kimera trat ein, schloss die Türe und setzte sich dem Atavus gegenüber. „Warum?”, fragte er.
Zalyc funkelte ihn mit verhaltener Wut an. „Du willst uns vernichten!”, knirschte er, „Deinesgleichen haben immer vernichtet, was sie nicht sein konnten!”
„Das ist Unsinn, Zalyc!”
Unsinn?”, der Atavus sprang auf, „Ihr konntet nicht die Einstigen sein, eure Hybriden haben sich verändert, weg von euch - also habt ihr sie vernichtet! Zerschmettert, auseinandergebrochen! Sie wurden krank - und ihr wart verantwortlich!”
„Wir?”, fauchte Ga'hil, „Nein! Ich kann mich nicht daran erinnern - und ich würde es!” Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Warum zum Henker ernähre ich euch denn? Nattern ...”
Du lügst!”
Du lebst!”, der Kimera schnellte hoch und funkelte den Atavus wütend an, „Und die anderen Atavus auch! Oh, wenn ich euch vernichten wollte ... nur ein bisschen Grundenergie!”
„Nein, du tötest nicht”, knurrte Zalyc, „du wartest nur ab, bis wir ausgestorben sind. Aber da machen wir nicht mit! Ich habe es allen gesagt, deine Energie wird uns nicht alle unfruchtbar machen!”

Unfruchtbar?

Ga'hil schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte fest: „Ich frage Kural. Das ist nicht meine Absicht.”
„Wer soll dir das glauben?”, fauchte Zalyc, „Diese Welt fällt gerade in fremde Hände und du bist ihre einzige Waffe dagegen - auch wenn es eine Generation dauert.”
Der Kimera stutzte deutlich - so klar hatte sich noch kein Atavus in der Stadt zur derzeitigen Weltpolitik geäußert. „Es ist nicht meine Absicht!”, wiederholte Ga'hil dann fest, „Wir finden eine andere Möglichkeit, euch zu ernähren - und eine Möglichkeit, eure Artgenossen in ihre Schranken zu weisen!”
„Wir haben eine andere Möglichkeit, uns zu ernähren!”, rief Zalyc und fuhr demonstrativ seine Klauen aus, „Alles andere ist unnatürlich!”
„Ihr habt die Wahl!”, fauchte Ga'hil.

„Die Menschen auch!”, gab der Atavus zurück, „Was ist der Unterschied? Ein saftiges Steak - ein energiestrotzender Mensch? Menschen jagen nur nicht mehr, sie züchten ihre Beute!” Er grollte ganz hinten im Hals und fragte eisig: „Was würden Menschen sagen, wenn wir ihresgleichen züchten würden, wie Schweine gezüchtet werden?”
„Sie würden es abscheulich finden.”
„Was würden die Schweine sagen, wenn sie wüssten, was die Menschen tun?”
„Sie würden es abscheulich finden.”
„Worin liegt dann der Unterschied, Ga'hil?”
„Viele Menschen pochen genauso auf die Nahrungskette und die Überlegenheit wie ihr”, sagte der Kimera, „Der Unterschied liegt darin, dass ihr euch für das Richtige entscheiden könnt, ohne bestehende Infrastrukturen abbauen und gegen finanzielle Interessen kämpfen zu müssen.”
„Und du, Kimera im Menschenkörper? Was isst du?”, fauchte Zalyc.
„Ich gebe zu, die Parallele war mir bisher nicht ganz bewusst - vielleicht hilft es dir, wenn ich meine Ernährungsgewohnheiten ebenso ändern muss wie du.”
Der Atavus musterte den Kimera irritiert. „Wenn du eine Möglichkeit findest, uns ohne Nebenwirkungen zu ernähren - gut. Aber ich erwarte dasselbe von den Menschen!”, knurrte er, „Lass mich raus, dann erzähle ich den anderen von unserem Kompromiss.”

Ga'hil ließ ihn tatsächlich gehen, trotz Protest von Kaylee. Aber es brauchte jede Geste des guten Willens, denn weltweit verordneter Vegetarismus war schlicht nicht machbar - das würde nicht einmal in Clearwater funktionieren. Vielleicht würde sich da aber auch eine Lösung finden. Immerhin war die Technologie auf der Höhe, Biosurrogate und Attrappen herzustellen, da musste Kunstfleisch doch auch irgendwie drin sein.

Der Auftrag, sich für die menschliche Ernährung etwas auszudenken, wurde von Vorjak an eine große europäische Lebensmittelfirma übermittelt, deren Öffentlichkeitsbeauftragter ihm nur deswegen nicht den Vogel zeigte, weil die Firma zum größten Teil der jaridianischen Meszalikura-Vereinigung gehörte. Die atavanische Ernährung legte Ga'hil derweil in Kurals fähige Hände, der Jaridian-Arzt zitierte auch gleich einige Atavus herbei, um sie auf die von Zalyc erwähnten Nebenwirkungen zu untersuchen. Auf einen Geistesblitz hin brachte der Kimera dann auch Licau zur Untersuchung - und wie erwartet: Sie war schwanger.
Nur: Warum? Sie hatte schließlich von Ga'hil direkt Energie erhalten. Betraf die behauptete Unfruchtbarkeit nur Männer oder hatte Zalyc schlicht anfängliche Erfolglosigkeit auf ein Feindbild projiziert?
Kural würde es herausfinden. Der Kimera fragte derweil Zoriel nach ihren Fortschritten.

„Ja, ich komme voran”, antwortete die Atavus leise und mit einem anderen Gesicht als Street ihr gemacht hatte, „Ich habe eine recht unbedeutende Hybridin ersetzt und mache mich jetzt an Agent Jameson vom Secret Service heran. Dass er ein Hybrid ist, weiß ich schon mit absoluter Sicherheit.”
„Sehr gut. Wie lange wirst du noch ...?” Er runzelte die Stirn, er spürte eine Präsenz mehr als zuvor.
„Wenn alles glatt geht, habe ich ihn morgen oder übermorgen”, sagte Zoriel, „Ist alles in Ordnung? Hast du ein Gespenst gesehen?”
„Nein ...” Er fühlte genauer hin und zog die Mundwinkel hoch. „Ich spüre Farrell! Sie sind zurück!”
„Ja? Sag ihnen einen schönen Gruß von mir. Ich muss wieder los, sonst fällt meine Abwesenheit zu sehr auf.”
„Viel Erfolg, Zoriel”, sagte er und schob sein Global zu, dann lief er hinaus auf die Straße und wollte sich zum Rathaus begeben, um die Shuttleinsaßen in der Höhle zu erwarten.

Dazu kam es nicht. Das Shuttle flog im Normalraum an, das virtuelle Glas um die Stadt flackerte kurz, dann landete das Fluggerät auf dem Basketballplatz. Ga'hil wandte sich um und rannte dorthin, während Farrell, T'than und Street schon ausstiegen.
Street?
„Hallo, Aby”, grüßte Ron, während auch er ausstieg.
„Fehlanzeige”, sagte Ga'hil und nahm seine rein kimerianische Form an, „Willkommen zurück, Vater, Sohn.” Er schloss ihn und Farrell in die Arme und musterte dann die restlichen Passagiere. „Ariel?”, murmelte er erstaunt - aber sie sah ihr nur sehr ähnlich, sie war höchstens ein Viertel Jaridian.
Und dann war da eine erweckte Atavus - mit grellblauen Augen. T'than stellte sie vor: „Das ist meine Enkelin, Sayi'a.”
„Das ging aber schnell”, stellte Ga'hil fest und zwinkerte der Atavus freundlich zu.
„Sie ist ein Spross von Ra'jels Taelon-Atavus”, erklärte der Taelon, „Der einzige Spross, um genau zu sein - sie kann im Gegensatz zu ihren Eltern Materie und Energie nicht trennen.”

Als letzte stieg nun auch Deram aus und sie brachte eine Bernsteinmelone mit.
Ga'hil straffte sich besorgt. „Wo ist Lil?”
Ron musterte ihn erschrocken. „Sie ist nicht hier?”
Der Kimera wich einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist nicht hier ...”

 

Ende von Kapitel 11

 

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