Startseite Aktuelles Update Geschichten Kategorien Bilder Forum - Der Baum Links Hilfe Kontakt
  „Licht” von Veria,   März 2018
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Harmony versucht, Nahema aufzuspüren, es kommt zu Komplikationen.
Zeitpunkt:  direkt anschließend
Charaktere:  Liam, Street, Marcia, Jake, Terry, Emily, Ha'gel, (Harmony, Polizisten, Aby, Farrell, Bewohner von Clearwater, Street)
 
 

 

LICHT

Kapitel 4: Widerschein I

 

Liam erwachte von Waffelduft, langsam setzte er sich auf, dann stellte er verdutzt fest, dass Aby noch tief und fest schlafend neben ihm lag. Vorsichtig schob er sich unter der Decke hervor, formte Hemd und Hose aus seiner Energie und suchte auch Kleidung für Aby aus dem Schrank.
Inzwischen war seine Frau wach. „Guten Morgen”, sagte sie lächelnd, „Du hast schon Frühstück gemacht?”
„Ich nicht, nein. Guten Morgen, Aby.”
Sie stand auf und nahm ein Kleidungsstück nach dem anderen von ihm entgegen, er beobachtete sie ausgiebig dabei, sich anzuziehen (auch wenn ihm das Ausziehen eigentlich lieber war). „Du also nicht”, sagte sie, „Ich bin gespannt.”
„Ich auch.” Liam wischte durch die Türmembrane, ging ins Treppenhaus und stieg die Treppe hinunter, Aby folgte ihm.

Unten wurden sie von einem sehr breit grinsenden Farrell erwartet - und von einem gedeckten Tisch mit Tischtuch, Duftkerzen, Waffeln und Früchten, Schokoladesauce und Ahornsirup. „Paizhat hat mir geholfen”, gab der Jugendliche aber sofort zu, „sonst hätten wir hier Waffelkohle.”
Liam schmunzelte. „Danke, Farrell und Paizhat.” Er trat an den Tisch und setzte sich, Paizhat bildete rechtzeitig einen Stuhl aus, auch wenige Sekunden später, als Aby sich setzte. „Es riecht sehr gut”, stellte Liam fest, „Von wem ist das Rezept?”
„Das ist von Grandmas Mum. Grandma hat mal das Kochbuch durchgeblättert.”
„Oh.” Liam sah seinen Sohn verblüfft an - ein so exakter Zugriff auf eine so unbedeutende und nicht gerade frische Erinnerung war ungewöhnlich, gerade auch für Farrells eher spärliche Erfahrung in solchen Belangen. „Setz dich und nimm dir, dem Koch gebührt die erste Waffel.”
„Dann kriegt Paizhat die erste Waffel - ich habe nur den Teig gerührt.” Farrell setzte sich (Paizhat formte einen Stuhl für ihn), griff nach einer Waffel und legte sie auf seine Stuhllehne, die sich daraufhin begeistert um die Waffel schloss.
„Die zweite Waffel dem Rührmeister.”
„Eigentlich sind die Waffeln für die Frischverheirateten gedacht, Dad!”
Aby grinste bis über beide Ohren, während Liam verlegen seine Gabel nahm und eine Waffel auf seinen Teller beförderte. „So wirklich richtig frischverheiratet sind wir ja gar nicht”, nuschelte er, „Nur auffrischverheiratet.”
„Egal. Für euch sind die Waffeln jedenfalls. Keine Widerrede, Dad!”
Liam goss Ahornsirup über seine Waffel und streute eine Handvoll Mandelblättchen drauf, dann begann er zu essen. Aby bereitete sich eine Waffel mit Himbeeren und Schokoladesauce, Farrell bedachte seine Waffel ausschließlich mit Unmengen Puderzucker.
„Morgen!”, erklang Harmonys Stimme von der Eingangstüre, „Tut mir leid, ich bin spät.”
„Wer zu spät kommt, der kriegt keine Waffeln!”, rief Farrell.

Mist.”

Liam musste lachen und darauf folgend auch husten. Zur Linderung löste er kurz seine Atemwege in Energie auf, dann bugsierte er eine Waffel auf den Teller, den Paizhat gerade mittels eines weißen Tentakels auf den Tisch stellte. Harmony setzte sich auf den sich dann aus dem Tentakel bildenden Stuhl.
„Was hast du die ganze Nacht gemacht, Nyny?”, fragte Farrell.
„Geschlafen. Lili war völlig verzweifelt, weil Claire nur rumgebrüllt hat, aber bei mir hat die Kleine dann gepennt wie ein Weltmeister.”
„Hannah?”
„Ausgegangen. Rabenmutter.”
„Die hat sich sicher gewünscht, Claire würde genauso schnell wachsen wie Henry”, stellte er fest, „Ich weiß noch, ich war gerade eingeschult, da durfte ich Baby gucken kommen, ein Jahr später war er im Kindergarten und grad vor der Autobombe war er mein Klassenkamerad.” Er runzelte die Stirn. „Wusste er eigentlich, dass ich Kimera bin?”
„Nicht bewusst”, sagte Liam, „Er hat ja noch immer keinen richtigen Zugriff auf sein genetisches Gedächtnis.”
„Und ich habe es in den paar Monaten gelernt? Warum er nicht?”
Harmony grinste. „Er ist kein Kimera.”
„Richtig”, bestätigte Liam, „und dazu kommt, dass du offenbar ein Ausnahmetalent bist, Farrell.”
Der Jugendliche sah verdutzt auf. „Wieso?”
„Ein Rezept, das meine Mutter einmal im Kochbuch gesehen hat”, sagte Liam, „daran könnte ich mich nicht erinnern.”
„Ich auch nicht”, ergänzte Harmony waffelkauend, „Wie machst du es?”
Farrell runzelte die Stirn. „Naja ... ich wollte Waffeln machen und hatte kein Rezept. Da dachte ich nach und es fiel mir ein - da ist doch nichts Besonderes dabei!” Er legte sich mit der linken Hand eine Waffel auf den Teller und griff mit der rechten nach dem Zuckerstreuer. „Glückstreffer, schätze ich.”
„Hm, ja”, machte Liam. Vielleicht war es ja wirklich ein Glückstreffer, er hatte ja auch schon etliche erlebt.

„Anderer Glückstreffer”, warf Harmony ein, „Dad, wie viele Variablen hat eine Interdimensionsgleichung?” Liam blinzelte und starrte sie an. Was war daran denn ein Glückstreffer? „Sechzehn”, sagte sie breit grinsend, „ und das ist mehr als elf.”
„Ja?”
„Das bedeutet, dass die Portale im Prinzip in der Lage sind, uns in andere Universen zu bringen. Theoretisch - und die Streets meinen, praktisch auch, weil die Nahema von drüben das so gemacht hat.” Sie biss sichtlich zufrieden von ihrer vor Ahornsirup triefenden Waffel ab und schloss dann: „Sie fitzeln den Vortexvektor aus der Bernsteinmelone raus und geben ihn dem Portal ein, und berechnen auch einen Rückkehrvortex. In einer Stunde oder so sind sie fertig, dann kann ich los.”
„Mit Familienleben hast du es nicht so, hm?”, neckte Liam sie.
Aby rollte mit den Augen. „Das ist erblich bedingt. Du weißt genau, was uns alles in unseren Flitterwochen damals dazwischengekommen ist ...”
„Das ist doch nicht meine Schuld, dass genau dann jemand Le'or und Di'nan entführen musste!”, protestierte er.
„Dad”, seufzte Harmony, „die bösen Schurken haben immer genau dann was angestellt, wenn General Kincaid gerade private Termine hatte.”
Liam starrte einen Moment lang düster seine Waffel an. „Stimmt wohl, ja.” Dann griff er nach der Waffel und biss ab - die Mandelblättchen machten sich ausgezeichnet. „Besonders gemein war es aber immer dann, wenn der Kimera gebraucht wurde. Ich weiß noch, wie Trigal mal mit Aby in der Karibik am Strand liegen durfte.”
„Wenigstens war das nicht in den Flitterwochen”, warf Aby ein, „Das hätte mich dann wirklich geärgert.”
Mich auch!”

Diesmal, Dad”, sagte Harmony fest, „kümmere ich mich um die Dinge, für die ein Kimera gebraucht wird.”

Und das bald. Natürlich wurde das Frühstück ausgiebig zelebriert, aber nach einer Stunde war es vorbei und die Familie begab sich zum Portal nahe dem Rathaus. Street und Street standen da (eine hielt die Bernsteinmelone in den Händen), der Kimera-Freak Dominic war da, die Rudelführerinnen Kaylee und Licau waren da.
Corinna, Louise und Zorita waren samt ihrer Ehemänner auch da, um Harmony zu verabschieden.
Und natürlich Ronny und Mabel.

Die Verabschiedung fiel nur recht kurz aus, dann stellte sich Harmony (für den Rückweg mit einem tragbaren Portal ausgestattet) ins Portal, während die Street mit der Kugel gebührenden Abstand suchte. „Zu nah beieinander könnten sich die Kugel und das Portal stören”, erklärte sie Liam auf dessen verdutzte Frage.

Und fünf Meter genügten da?

Sowie sich das Portal aktivierte, war klar, dass dem nicht so war. Blitze zuckten vom Portal zur Kugel, schossen mitten durch die Verabschiedungsgruppe und trafen Corinna - Jay und Louise versuchten, sie aus dem Weg zu schubsen und wurden ebenfalls mitgerissen.
Dominic war ebenso im Weg - Licau warf sich auf ihn.
Und als die Blitze die Kugel trafen, trafen sie auch Street und Liam ... und dann brach die Hölle los.

Dissonantes Surren drang durch die Interdimension, deren übliche blaue Farbgebung von wütend roten Schlieren durchzogen wurde, selbst die Gravitation hielt sich an keinerlei Regeln und wechselte aufs Geratewohl immer wieder die Richtung - der Kimera hielt Street gut fest, dass sie nicht zu übel herum purzelte.

Und dann, sehr plötzlich, zerplatzte die Interdimensionsblase und ließ ihre beiden Gäste in einem kahlen Laubwald frei.
Portal war keines in Sicht.

Liam half Street auf die Beine und spürte unterdessen sehr sehr vorsichtig ins Gemeinwesen. Er nahm wenige Taelons wahr - und ganz schwach, versteckt, auch seine Tochter. Weder sie noch er waren den Taelons aufgefallen, ansonsten wäre das Gemeinwesen nicht so ruhig, sondern deutlich in Aufruhr.
„Street!”, rief er und schüttelte die Mathematikerin leicht, „Alles in Ordnung?”
„Ja ... ja, ich glaube, es ist noch alles dran.” Noch immer hielt sie die Bernsteinmelone fest umklammert. „Das war wohl zu nah”, sagte sie, „Scheiße. Wir sind nicht im Zieluniversum, sondern haben einen Erstkontakt verursacht.”
„Harmony ist auch da - und die Leute, die zwischen ihr und uns standen, wohl auch, aber die kann ich nicht spüren.”
„Es müssen alle zu ihr”, sagte Street, „Sie hat das Rückkehrportal.” Sie sah auf die Kugel und strich mit einem Finger in merkwürdigen Mustern darüber. „Wir sind zeitlich verschoben, knapp nach dem Aufspaltungszeitpunkt - also für alle praktischen Belange in der Vergangenheit, auch wenn ich nicht weiß, wie weit genau”, sagte sie, „In unserer Vergangenheit, denn die Aufspaltung unserer beiden Universen ist später.”

Liam blinzelte verdutzt. „Du bist aus Renees Universum?” Sie nickte fröhlich. Er kratzte sich am Kopf. „Ihr unterscheidet euch wirklich fast gar nicht”, seufzte er.
„Stimmt”, gab sie zu, dann musterte sie ihn und bestimmte: „Zieh dich mal weniger kimerianisch an. Und die grünen Augen fallen auch auf.”
Er betrachtete sein weißglänzendes Hemd mit blassgrünen Linien und einer Textur nach Art der Fassadenanzüge und wandelte es in ein gewöhnliches weißes Hemd um. Dazu ergänzte er eine braune Jacke. Und wo er sich gerade in Fassadenänderung übte, zeigte er kurzerhand auch mal wieder sein Generalsgesicht, und zwar junggeblieben.

Street hakte ihr Global vom Gürtel und ließ es aufschnappen. „Tot. Die Aktion scheint was gegrillt zu haben. Hast du ...?”
„Keines mit, nein. Was würde uns ein zweites totes Global bringen?”
„Ersatzteile.”
„Ah, ja.”
„Naja, ich hab auch keinen Schraubenzieher, also spielt es keine Rolle.”

Liam stapfte voran zwischen den Bäumen hindurch, einfach in irgendeine Richtung, Anhaltspunkte hatte er überhaupt keine. Nichtsdestotrotz erreichten sie nach knapp einer halben Stunde einen Forstweg.
„Links oder rechts?”, fragte der Kimera.
Street seufzte leise. „Gehen wir rechts, da geht es etwas abwärts.” Diesmal ging sie voraus. „Ich schätze, früher oder später finden wir eine richtige Straße”, bemerkte sie, „Was dann?”
„Das weiß ich noch nicht. Kommt darauf an, wo wir sind, und da hilft uns vielleicht ein Straßenschild.” Er rollte mit den Augen. „Ich habe mir die Flitterwochen anders vorgestellt, als ohne meine Frau in ein anderes Universum geschleudert zu werden ...”
„Und ich mach hier einen auf Slider”, kam von Street.
Liam sah matt grinsend zu ihr und stellte fest, dass sie deutlich zugenommen hatte. „Gehst du neuerdings mit einer Bernsteinmelone schwanger?”
„Hat sich angeboten, hat gerade die richtige Größe und der Gürtel hält es aus. Wenn wir jemandem begegnen, gibt das deutlich weniger Anlass zu Fragen als eine riesige Bernsteinkugel.”

Das stimmte natürlich.

Sie folgten dem Forstweg weiter und erreichten eine Senke, ab der der Weg wieder aufwärts führte. Nach wie vor war nicht zu erkennen, in welcher Richtung die Zivilisation lag, also gingen sie einfach weiter. Im schlimmsten Fall würden sie das Ende erreichen und umkehren müssen.
Fast zwei Stunden lang folgten sie dem Weg, dann ging dieser von Schotter in rissigen Beton über - sie gingen in die richtige Richtung. Nur wenige Minuten später fanden sie eine Ansammlung Wegweiser und eine an zwei Pflöcke geschlagene Wanderkarte aus Blech.
„Großartig ... Allegheny Mountains.”
„Ach, das sind nur knapp 200 Kilometer bis Washington”, sagte Street, „Ich kann mir schon vorstellen, dass wir das per Anhalter schaffen. Der Freeway ist ja da gleich.”
Per Anhalter also - das war machbar. Geld für einen Bus hatte Liam keines mit. „Wie ist das bei dir so mit Geld?”, fragte er.
„Komplett neue Scheine seit 2032”, sagte sie, „außerdem trage ich keine mit mir rum, weil die schon in deinem Universum nichts wert sind.”
„Wer ist drauf?”
„Doors unter anderem.”
„Wir haben einen Schein mit Ma'el drauf - und ich musste mich sehr dagegen wehren, selber gedruckt zu werden.”
Sie lachte leise. „Aliens auf Dollarscheinen - in meinem Universum hochgradig unvorstellbar.” Nun, als sie den Freeway erreichten, blieben sie stehen. „Wie ist das in Clearwater mit dem Geld? Ihr habt einen Supermarkt, aber in der Kochmütze hab ich noch nie Geld gesehen.”
„Das erledigt Yadrui, der kriegt jede Bestellung in der Kochmütze mit.”
„Yadrui.”
„Das Hauswesen.”
„Ah. Wie viele solche Wesen wachsen denn durch die Stadt?”
„Fast dreißig - Paizhat ist der älteste, dann kam Serkui, dann Yadrui, dann Lighai, ...”
„Hm”, machte Street, „und wenn ich in der Kochmütze was bestelle?”
Er grinste. „Feierkasse. Clearwater ist da pragmatisch und auf alles vorbereitet.” Beide streckten den Daumen Richtung Straße, als ein schwarzes Auto vorbeibrauste. „Es schadet der irdischen Finanzwelt ja auch überhaupt nicht, dass die jaridianische Wirtschaft deutlich anders funktioniert - und das sieht man in Clearwater doch recht gut.”
„Inwiefern?”
„Arme leben ihr Potenzial nicht aus und nützen somit der Gemeinschaft nicht”, erklärte Liam, „und das ist die Schuld der Reichen.” Wieder streckte er einen Daumen aus, ein rotes Auto fuhr unbeeindruckt vorbei. „Überraschend, dass Jahrmillionen Krieg gegen die Taelons gerade durch den Zwang, alles Potenzial auszuschöpfen, so nützliche Wirtschaftsregeln hervorgebracht haben.”
„Wirkt es sich auf die irdische Wirtschaft aus?”
„Dürfte gerne deutlicher sein, aber, ja, tut es.” Er sah verdutzt auf seinen Daumen, als ein grünes Auto sofort bremste und schließlich am Straßenrand hielt.
Ein Schwarzer mit immenser Krausfrisur kurbelte das Beifahrerfenster hinunter. „Hey. Wohin wollt ihr denn?”
„Washington”, sagte Liam.
„Wir fahren zwar nach Baltimore, aber hüpft rein, näher ist es allemal.”
Die Fahrerin, ebenso schwarz, aber mit glatten, langen Haaren, grinste die beiden Anhalter fröhlich an. „Hi. Ich bin Marcia, das ist mein Mann Jake.” Sie trat aufs Gas und fädelte sich hinter einem deutlich zu schnell fahrenden Cabrio ein.
„Juliet”, sagte Street, „und das ist Liam.”
„Mann? Bruder? Sohn?”
Sie kicherte leise. „Nichts davon. Freund.”
„Wartet ihr schon lange?”, fragte Jake.
„Geht so, zehn Minuten vielleicht”, sagte Liam, „Seid ihr schon lange unterwegs?”
Jake sah kurz auf die Uhr. „Fünf Stunden ungefähr - wir sind aus Columbus.”
Street seufzte. „Das ist eine ziemliche Strecke.”
„Schon”, gab er zu, „und noch dazu, wo mir mein Schwager ein Portalticket geschenkt hätte. Aber die Portale sind mir noch zu neu.”

Öffentliche Portale gab es also schon. Das, gemeinsam mit dem Fehlen der schwachen kimerianischen Präsenz eines sehr jungen hiesigen Liams, schränkte das Zeitfenster auf wenige Monate ein.

„Verstehe ich”, sagte Liam, „In ein paar Jahren dann sind die sicher auch für Menschen ausgereift, aber bis dahin ...”
„Genau!”, stimmte Jake energisch zu, „Sie verstehen es, Mann.”
„Wo kommt ihr her?”, fragte Marcia.
Woher kamen sie denn? Liam war ratlos - war hier überhaupt irgendein Kaff in der Nähe?
„Vom Arsch der Welt”, sagte Street. Ja, so konnte man es auch ausdrücken.

Sie fuhren an einem Polizeiauto und dem gestoppten Cabrio vorbei - Geschwindigkeitsübertretung lohnte sich eben nicht.

„Besucht ihr jemanden in Washington?”, fragte Jake, „Wir besuchen Marcias Verwandtschaft.”
„Wir besuchen Freunde”, sagte Liam, „außerdem will ich die Botschaft mal sehen.”
Der Schwarze lachte auf. „Sieht schon toll aus, ja.”
„Habt ihr sie mal gesehen?”
„Nein. Aber vielleicht schaffen wir ja von der Familie einen Abstecher ... Marcia? Schatz?”
Die Fahrerin seufzte laut auf. „Du willst einen Umweg fahren?”
„Wir hätten den beiden dann ja auch noch einen Gefallen getan. Sind ja nur vierzig Meilen ...”
„Du willst die Botschaft sehen und die beiden sind dir eine willkommene Ausrede. So sieht es aus!” Für eine Sekunde funkelte sie ihn an, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Straße. „Du weißt schon, was wir uns dann anhören dürfen, wenn wir erst Stunden später ankommen ...”
Jake zuckte mit den Schultern. „Sag, wir waren im Stau.”
„Da kann ich eher noch behaupten, ich hätte beim Tanken Diesel erwischt und wir hätten die Pannenhilfe rufen müssen.”
„Dann sag doch das.”
Sie knurrte ärgerlich.

Liam verfolgte den weiteren Schlagabtausch nur mit halbem Ohr - er spürte mit einem Mal seine Tochter nicht mehr. Wenige Momente später war sie wieder da, ruhig und entspannt, keinerlei Aufruhr oder Aufregung war wahrzunehmen.
Und dann war sie wieder weg - und blieb weg.
Mit Sicherheit nicht grundlos, also dämpfte Liam seine ohnehin verschwindend geringe Anwesenheit im Gemeinwesen völlig.

„Wir könnten auch sagen, bei unserer Anhalterin hätten plötzlich die Wehen eingesetzt ...”, schlug Marcia nun vor.
Street brach in Gelächter aus. „Dann wollen sie aber sicher ein Babyfoto sehen”, wandte sie mit Tränen in den Augen ein.
„Rechts!”, rief Jake, „Du musst die rechte Spur nehmen!”
„Jaja ... soll ich mich unter den Laster schieben oder was?” Marcia ließ das Riesengefährt vorbei und wechselte hinter ihm auf die gewünschte Spur. „Da kommt dann eh gleich mal die Tankstelle, richtig?”
„Ja.”
„Gut, wir sind schon auf Reserve.”
„Und was ist jetzt?”, fragte Jake, „Fahren wir nach Washington?”
„Tja, ich schätze, das tun wir”, sagte Marcia, „Ich glaube, wir sagen am besten, wir sind falsch abgebogen und zwei Stunden auf dem falschen Highway gefahren. Aber ich schiebe es auf dich!”
„Schon gut. Ich bin falsch abgebogen.”

Marcia bog unterdessen richtig ab und hielt an einer Zapfsäule. Jake nahm die Gelegenheit wahr, ein Örtchen zu besuchen, und auch Street hielt das für eine großartige Idee. Liam hingegen sparte sich diese körperliche Notwendigkeit und vertrat sich nur kurz die (auch körperlichen) Beine.
Es gab keinerlei Grund für Eile, außer Marcias und Jakes grünem Auto und einem rostigen Pickup war die Tankstelle leer, keiner stand an und hupte, wenn man nicht schleunigst die Zapfsäule freimachte.
Street kam nach kurzer Zeit sichtlich erleichtert wieder ins Freie. Außerdem saß ihr Babybauch jetzt stabiler als vorher, sie musste die Kugel nicht mehr ständig festhalten.

Knapp hinter der Mathematikerin kam der Tankstellenbetreiber aus seinem Shop gelaufen, gefolgt von einem Mann mit Skimaske und Pistole.
„Was soll denn das werden?”, rief Liam.
„Schnauze! Auf den Boden, alle!”, blaffte der Bewaffnete, „Und du da, raus aus der Karre!” Das galt Marcia, die der Aufforderung auch sofort hektisch Folge leistete.
Wo war denn Jake?
„Hey, lass sie in Ruhe!”, fauchte der Kimera und machte einige Schritte auf den Bewaffneten zu - erwartungsgemäß schwenkte der Waffenarm in seine Richtung.

Nah genug.

Liam griff zu, verdrehte die Hand mit der Pistole, zog den nun Entwaffneten zu sich und verfrachtete ihn mit einem gekonnten Pa'dar-Manöver auf den Boden. Danach sah er sich schnell um und konnte Jake im Tankstellengebäude sehen, geöffnetes Global in der Hand und zweifellos die Polizei am anderen Ende.
Der Tankstellenbetreiber hatte schnell ein paar Kabelbinder bei der Hand, die als Fesseln taugten, dann hieß es, auf die Polizei zu warten.

An sich war eine gute Polizei wichtig und nützlich - nur für Street und Liam gerade überhaupt nicht. Sie hatten keine Ausweise, kein Geld, es gab sie nicht (ihn gar nicht und Street nur viel jünger) und nicht einmal der Babybauch war echt.
Street hielt ihm die Packung Gummitiere hin, die der Tankstellenbetreiber zum Dank spendiert hatte, und Liam griff zu. „Hier ist wohl Schluss”, murmelte sie.
„Bin noch am überlegen.”
„Worüber?”
„Autodiebstahl.”
„Du Schurke.”
Er seufzte. „Willst du laufen? Das sind immer noch 150 Kilometer.”
„Willst du Marcia und Jake den Tag noch mehr versauen?”
„Nein, natürlich nicht”, sagte er, „ich würde natürlich den Pickup klauen - der Schuft hat es nicht anders verdient.”
Street runzelte die Stirn und nickte knapp. „Du solltest die Entscheidung aber treffen, bevor die Polizei da ist - und das sind sicher keine fünf Minuten mehr.”

„Dann ist die Entscheidung getroffen.” Liam trat zum Pickup und stellte zufrieden fest, dass der Schlüssel steckte. „Entschuldigt bitte”, rief er, „Juliet und ich sind derzeit unter dem Radar unterwegs und es träfe sich schlecht, würde die Polizei unseren ... Identitätsmangel feststellen. Daher müssen wir jetzt leider abfahren. Tut mir leid. Schönen Tag noch!”
Mit diesen Worten klemmte er sich hinter das Lenkrad des Pickups, startete und legte den Gang ein. Einen Moment später, als Street neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, gab er Gas.

Arschloch!”, schallte ihnen hinterher - ausgerechnet vom verhinderten Tankstellenräuber.

„Verdächtig ist unser Verhalten schon”, überlegte Street, während sie sich anschnallte, „das heißt, dass wir auf der Fahndungsliste landen, und der Pickup sowieso. Aus verbrecherischer Sicht wäre es wohl ratsam, das Fahrzeug zu wechseln.”
Liam zerrte mit einer Hand ebenfalls am Gurt. „Wenn wir wirklich angehalten werden, lösche ich das Gedächtnis der Polizisten”, sagte er, schließlich hatte er die Gurtschnalle geschlossen.
Street blinzelte überrascht. „Das kannst du?”
„Nicht die leichteste Übung, aber ich habe es schon ein paar Mal gemacht. Das erste Mal bei meinem eigenen Vater.” Er schmunzelte versonnen. „Der Imperativ hat regeneriert und Vater wollte mir tatsächlich den Hals umdrehen. Fünf Wochen später dann nicht mehr.”
„Ah, ja. Ich dachte, ihr habt dafür sein CVI neu verdrahtet.”
„Nein. Kimera-Ding.”
Einige Momente war es still, dann sagte Street: „Wenn du es schaffst, bevor sie losballern.”
„Ich bin derzeit ohne vollmaterielle Innereien unterwegs, die Kugeln würden einfach durchgehen.”
„Ich bin da allerdings etwas empfindlicher”, gab sie zu bedenken.
„Gut, dann schieße ich eben einfach zuerst”, beschloss er, „und dann klauen wir das Polizeiauto, weil der Kiste hier der Sprit ausgeht. Der Räuber hatte offensichtlich noch nicht getankt.”

Sie fuhren an einer Ausfahrt vorbei, in der Ferne war schon blaues Blinken zu sehen.

„Ich glaube, die Polizei ist da, bevor der Sprit ausgeht”, stellte Liam fest - er fuhr allerdings stur mit der maximal erlaubten Geschwindigkeit weiter. Die Polizei war ja auch zunächst zur Tankstelle unterwegs und erfuhr erst dort vom Autodiebstahl, daher dauerte es doch noch etliche Minuten, bis ein Streifenwagen den rostigen Pickup überholte und ein Polizist mit einer roten Kelle winkte.
Jetzt bremste Liam brav ab und hielt auf dem Standstreifen.
Zwei Polizisten stiegen aus, einer hielt etwas Abstand, der andere trat zur Fahrertür, deren Fenster Liam gerade öffnete. „War ich etwa zu schnell, Officer?”, fragte der Kimera.
Der Polizist spähte kurz zu Street und deren Babybauch, dann sagte er: „Steigen Sie bitte aus.”
Liam schnallte sich ab, öffnete die Tür und zwängte sich ins Freie. „Sicher. Was ist denn?”
„Ist Ihr Name Liam und der Ihrer Beifahrerin Juliet?”
„Äh, ja ...” Liam machte ein möglichst verwirrtes Gesicht - und ein blasses noch dazu, als ein 15-Tonner recht nah an ihm vorbeibrauste. Damit war aber der Highway wieder leer, kein Fahrzeug mehr zu sehen.
„Ihren Ausweis bitte”, verlangte der Polizist, dann sackte er von Shaqarava getroffen zusammen - sein Kollege ebenso, denn Liam hatte praktischerweise zwei Hände.
„Schaff den anderen in Sicherheit”, rief er Street zu, sie stieg aus und zerrte den zweiten Polizisten von der Fahrbahn, auf die er gefallen war. Liam unterdessen trug seinen Polizisten zum Polizeiauto und setzte ihn auf die Rückbank.
Global, Funkgerät und Dienstwaffe nahm er ihm ab, schaltete die beiden Geräte aus und nahm die Munition aus der Waffe, dann schnallte er den Bewusstlosen an. Dasselbe wiederholte der Kimera beim zweiten Polizisten, dann setzten er und Street sich nach vorne.
Die Mathematikerin legte die Packung saure Gummitiere auf die Ablage und stellte auf der Mittelkonsole etwas ein, dann grinste sie breit. „So, GPS ist aus, Funk ist aus, Blaulicht auch. Fahr los.”

Der Tank war recht voll und der Wagen fuhr sich auch definitiv angenehmer als die Schrottkiste von Pickup. Liam überschritt jetzt allerdings die Maximalgeschwindigkeit etwas - erstens wurde das bei der Polizei von Normalbürgern nur schulterzuckend (bestenfalls hämisch) zur Kenntnis genommen und zweitens hatte die Polizei einen Streifenwagen verloren und würde mit Sicherheit danach suchen.
Inzwischen setzte gemächlich die Dämmerung ein, wenig später erwachte auch einer der Polizisten, derjenige, der noch nicht mit Liam gesprochen hatte. Er griff nach Waffe und Funkgerät und fand nichts davon an seinem Gürtel vor.
„Tut uns leid”, sagte Street, „aber wir müssen nun mal nach Washington.”
„Was haben Sie gemacht?”, fragte er, „Wer sind Sie?”
„Ich bin Juliet, das ist Liam. Wie geht es ihrem Kopf? Sie sind auf den Asphalt gefallen, Liam hat es leider nicht geschafft, Sie aufzufangen.”
Er griff sich an den Kopf und schien seinem Gesichtsausdruck nach tatsächlich eine Beule zu finden.
Liam, was haben Sie gemacht?”, fragte er dann.
„K. o. in der ersten Runde.” Einen Moment lang war es still. Liam sah dem Polizisten über den Rückspiegel in die Augen. „Das ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung, Officer.”
„Sie sind der, der den Tankstellenüberfall vereitelt hat.”
„Richtig.”
„Ihre Kampffertigkeit wurde von den Zeugen und dem Täter also nicht übertrieben.”
„Nein.”
Wer sind Sie?”
Liam grinste schief. „Liam genügt völlig. Wir sind derzeit nun mal ohne jegliche Identität, ohne Papiere, ohne Geld, ohne alles unterwegs - und müssen trotzdem nach Washington.” Er bremste hinter einer Kolonne ab. „Ich weiß, das macht es nicht weniger illegal. Wie heißen Sie?”
„Terry, das ist Nathan.”
„Liam”, murmelte Street, „ich glaube, da vorne blüht die nächste Kontrolle.”
Er runzelte die Stirn. „So schnell schon? Ideen?”
„Wiederholung der letzten Aktion?”
„Vermute, diesmal sind da einige Polizisten mehr.”
Sie warf sich ein saures Gummitier in den Mund und kaute ausgiebig. „Du könntest dich als Polizisten ausgeben, Meister Chamäleon”, schlug sie dann vor.
„Ja klar ... und dann sehen sie dich. Du passt nie und nimmer in so eine Uniform.”
„Stimmt.” Sie strich über die durch die Bernsteinmelone verursachte Ausbeulung ihrer Kleidung.
„Außerdem wissen die ja das Kennzeichen - wer immer hier drin sitzt, ist verdächtig.” Er griff nach rechts und holte sich eines der sauren Gummitiere. Die Kolonne verdichtete sich inzwischen deutlich, bald rührte sich so gut wie gar nichts mehr. „Tja, dann ... das Flugauto wurde noch nicht erfunden.” Liam scherte auf die Standspur aus, schaltete das Blaulicht ein und fuhr am Stau vorbei.

Und dann hielt er an einer Straßensperre neben drei weiteren Streifenwagen und schaltete das Blaulicht wieder aus. Sofort kamen drei Polizisten und eine Polizistin herbei, Liam stieg aus und hob seine Hände. „Ich nehme an, Sie suchen nach uns.”
„Umdrehen, Hände aufs Auto!”, fauchte ein Polizist mit schussbereiter Dienstwaffe.
Liam gehorchte sofort und wurde von Kopf bis Fuß abgetastet.
„Miss, steigen Sie bitte aus”, wurde unterdessen Street aufgefordert - und auch Terry und Nathan auf dem Rücksitz konnten aussteigen, inzwischen waren sie beide wach.

Liam bekam derweil Handschellen angelegt - nicht, dass die ihn stören würden, er schmolz das dünne Metall sofort per Shaqarava soweit durch, dass es auf einen kurzen Ruck reißen würde.

Street wurde ebenfalls betastet - aber die Polizistin tastete nicht über den Babybauch, die Kugel war also unentdeckt.

Liam ließ seinen Blick schweifen. Er zählte acht Polizisten, inklusive Terry und Nathan, die er ja bereits entwaffnet hatte und die ihre Ausrüstung noch nicht wieder zurück hatten. Zwei winkten die Kolonne vorbei und standen mit dem Rücken zum Kimera, die Polizistin war bei Street, noch zwei Polizisten standen unmittelbar bei Liam, ein weiterer hielt etwas Abstand.
Ohne die Kolonne wäre Shaqarava eine Lösung, aber vor so vielen Leuten wollte Liam das nicht demonstrieren.

Blieb die fast klassische Nahkampf-Variante.

Liam riss die Hände auseinander, verpasste einem der Polizisten bei ihm einen Schlag vor die Brust (mit leichter Shaqarava-Entladung), schlug dem anderen den Ellbogen gegen das Kinn und dann ebenfalls die flache Hand gegen die Brust (wieder ergänzt durch Shaqarava) - dann hatte er die Dienstwaffe und zielte auf den dritten Polizisten.
Der auf Liam zielte.
Auch die Polizistin bei Street zielte auf ihn - Street selbst kauerte am Boden.
„Legen Sie die Waffe hin!”, rief der Polizist energisch.
„Langsam nervt es ...”, seufzte Liam, „Wir kommen immer nur so zwanzig Kilometer weiter, so kommen wir ja nie an! Könnten Sie nicht endlich aufhören, uns ständig aufzuhalten?”
Legen ... Sie ... die ... Waffe ... hin!”
„Jaja, schon gut.” Liam bückte sich kurz, legte die Waffe hin und kickte sie dann auch ein Stück von sich weg. Der Polizist trat näher, sah kurz auf die auseinandergerissenen Handschellen und hielt seine Waffe deutlich straffer - es half ihm nicht, Liam war zu schnell und entwand sie ihm gekonnt.
Im selben Moment schoss die Polizistin, der Kimera spürte den Treffer, die kurze Störung seiner Energie und den Ruck, der durch den Polizisten hinter ihm ging.
Liam hielt den Verletzten fest und legte ihn vorsichtig auf den Boden. „Verbandskasten!”, rief er der Schützin zu.
„Ach du Scheiße!”
„Sie sagen es. Verbandskasten!” Er öffnete die Uniform und sah auf eine stark blutende Bauchwunde. Die Polizistin brachte ihm tatsächlich wie gefordert den Verbandskasten. „Danke”, murmelte Liam und drückte eine Mullbinde mitten auf die Schusswunde, „Die Kugel steckt irgendwo, sie ist nicht durchgegangen.”

Einer der beiden Polizisten, die bisher die Kolonne durchgewinkt hatten, kam schussbereit herbei, die Polizistin funkte nach einem Notarzt. Terry und Nathan brachten eine Decke, einen weiteren Verbandskasten und eine in der inzwischen herrschenden Dämmerung sehr nützliche Taschenlampe. Street lehnte hockend am Auto und starrte den Verletzten mit riesigen Augen an.
„Officer, sehen Sie mich an!”, sagte Liam laut und schlug dem Verletzten auf die Wange. Die Augenlider des Polizisten flackerten, aber er war noch bei Bewusstsein.
Jetzt kniete Street sich neben ihm hin. „Die Kugel müsste hinten im Hüftknochen stecken”, sagte sie, „Der Darm ist verletzt, das ist gefährlich.” Sie vermutete nicht, das wusste Liam, sie konnte genau sehen, wo die Kugel steckte und was alles verletzt war.
War die Verletzung so schwer, dass der Polizist daran sterben könnte? Das wollte Liam nicht zulassen, er drückte seine Hand fester auf die Schusswunde und ließ seine Energie strömen.
„Hände weg von ihm!”, befahl der bewaffnete Polizist.
„Er hilft ihm!”, sagte Street energisch.
„Handauflegen, jaja. Weg von ihm!” Er packte Liam an der Schulter und zerrte ihn weg - was ihm nur einen Schlag gegen den Oberkörper und folgende Shaqarava-induzierte Ohnmacht einbrachte.

Terry, Nathan und die Polizistin starrten den Kimera an, der seine Handfläche jetzt wieder auf den Bauch des Verletzten legte.

„Ich schlage vor, es zielt keiner mehr auf irgendjemanden”, sagte Liam, „einverstanden?”
Die Polizistin nickte langsam. „Einverstanden. Der Notarzt ist in fünf Minuten spätestens da.”
„Eine Sache noch: Wir sind auf dem Weg nach Washington und anderes steht nicht zur Debatte. Wenn der Notarzt da ist, sind wir weg.”
„Liam, das sind immer noch über hundert Kilometer!”, seufzte Street, „Zu Fuß dauert das ewig!”
„Darum tendiere ich eher dazu, wieder ein Polizeiauto auszuborgen.”
„Kommt nicht in Frage!”, protestierte die Polizistin, „Nach all dem hier sperren wir Sie erst mal ein - und dann sehen wir weiter.”
Er zuckte mit den Schultern. „Sie dürfen es versuchen - Chancen sehe ich keine.”

Gut, vielleicht trug er etwas dick auf - aber seine demonstrierte Kampffertigkeit sprach eigentlich für sich, auch wenn hier keiner wusste, dass er Kimera war.

„Was wollen Sie eigentlich in Washington?”, fragte Nathan.
Liam schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht sagen, tut mir leid.”
„Unter der Voraussetzung”, ergriff Terry das Wort, „dass Sie sich danach umgehend stellen, bringen wir Sie nach Washington.”
„Und wenn Sie uns erst mal im Auto haben, fahren Sie uns stattdessen zum Revier”, gab Liam zurück, „Wir lehnen dankend ab.”
Terry straffte sich. „Was, wenn nur ich Sie fahre?”
Der Kimera sah ihn kurz verdutzt an, dann wechselte er einen Blick mit Street, die dieser Idee sichtlich einiges abgewinnen konnte. „Also gut”, sagte er, „Sie fahren, ich sitze neben Ihnen.” Er überprüfte kurz den Zustand des Verletzten - wach und in deutlich besserer Verfassung als zuvor.

Inzwischen war in der Ferne ein Blaulicht zu sehen - wenig später war der Krankenwagen da und die Profis übernahmen es, sich um den verletzten Polizisten zu kümmern und ihn auf einer Trage in das Fahrzeug zu bringen. Außerdem sahen die Sanitäter auch nach den drei Bewusstlosen, stellten aber schnell fest, dass diese völlig unverletzt waren. Danach fuhr der Krankenwagen mit dem Verletzten ab.
„Terry, steht Ihr Vorschlag noch?”, fragte Liam dann.
„Allerdings.” Terry klopfte seinem Kollegen Nathan und der Polizistin jeweils kurz auf die Schulter, dann setzte er sich auf den Fahrersitz seines Autos. Street nahm auf der Rückbank Platz und Liam auf dem Beifahrersitz.
Dann ließen sie Nathan, die Polizistin und den Verkehrspolizisten mit den drei noch immer bewusstlosen Kollegen zurück.

„Washington”, sagte Terry, „irgendein spezielles Ziel?”
„Ja - ich gebe dann Bescheid.”
„GPS und Funk?”, fragte er und wies auf die Mittelkonsole.
Liam nickte knapp. „Meinetwegen.”
Terry drückte zwei Knöpfe und drehte einen Regler. „Sie sind definitiv die nettesten Entführer und Autodiebe, die ich je getroffen habe.” Der Kimera schmunzelte. „Ich könnte mich Ihnen durchaus verbunden fühlen, wenn Sie mir sagen, was Sie in Washington vorhaben. Es ist doch nicht illegal, oder?”
„Nein.”
„Was haben Sie vor?”
„Kann ich nicht sagen, tut mir leid.” Liam nahm sich ein saures Gummitier und biss ihm den Kopf ab. „Mir ist klar, dass Sie uns angeboten haben, uns nach Washington zu bringen, um uns unter Aufsicht zu haben - durchaus verständlich. Ich nehme an, ich gelte als gefährlich.”
Terry sah kurz zu ihm. „Richtig.”

Und mich nimmt vermutlich keiner ernst”, erklang von der Rückbank.

Liam rollte nur mit den Augen. „Oh, du bist gefährlich genug”, sagte er, „Ich sage nur Bernsteinmelone.”
„Das war absolut nicht vorhersehbar”, widersprach sie, „Deine werte Tochter hat es ja auch nicht erwartet.”
„Stimmt auch wieder.”

Und wo gerade seine Tochter erwähnt wurde, spürte er nun wieder eine kimerianische Präsenz - aber nicht Harmony! Stärker, viel stärker. Suchend, rufend, und dann einsam schreiend - Ha'gel ... und dann zog sich der Kimera wieder zurück und ließ das Gemeinwesen in blankem Chaos und panischem Aufruhr zurück.
Deshalb versteckte sich Harmony so völlig, deshalb hatte sie Liam vermittelt, er solle dasselbe tun.

„Liam?”, fragte Street, „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.”
Langsam wandte er sich halb um und schluckte. „Kommt hin, ja.”
Sie runzelte die Stirn. „Was ist los?”
Er straffte sich und atmete tief durch. „Terry, geben Sie Gas, wir haben nicht viel Zeit.”
„Liam!”, sagte sie, „Was hast du vor?”
„Ich kann nicht einfach ignorieren, wie er Leute umbringt! In Notwehr und Unkenntnis, ja, aber er bringt Leute um!”
Jetzt ging ihr sichtlich ein Licht auf. „Oh!”

Liam schlug mit der Faust auf seinen Oberschenkel und knurrte: „Ich weiß, wo er ist, und ich halte ihn auf!”

Street überlegte einen Moment, dann sagte sie: „Harmony weiß es auch und kann schneller hin.”
„Richtig ... wenn sie hin geht.” Aber ginge Harmony hin? Womöglich gab es noch andere Dinge, um die sie sich kümmern musste. Liam konnte sich definitiv nicht darauf verlassen, dass seine Tochter sich um Ha'gel kümmerte, auch wenn es nicht unwahrscheinlich war.
Aber gleich ob Harmony das täte, Liam musste zu Ha'gel - um ihn aufzuhalten oder um Harmony zu finden.

Liam schaltete GPS und Funk aus und sagte: „Das Flat Planet Café ist unser Ziel.”
„Sollten wir nicht eine Streife zum Flat Planet schicken?”, fragte Terry.
„Nein”, sagte Liam, „Eine Streife dort heißt nur, dass es tote Polizisten gibt.”

Terry starrte ihn einen Moment lang an. „Wer sind Sie? Geheimer Supersoldat oder was?”
Der Kimera überlegte kurz. „Hm, ja, könnte man so sagen.”

Darauf wusste Terry nichts zu sagen, und auch Street und Liam schwiegen den restlichen Weg. Der Kimera aß die sauren Gummitiere auf, alleine, denn zu Streets Leidwesen war eine Plexiglasscheibe zwischen ihr und den Süßigkeiten.
In Washington wies Liam Terry den Weg zum Flat Planet - und schon bevor sie auf den Parkplatz einbogen, konnte Liam Ha'gels unmittelbare Nähe nicht nur spüren, sondern ihn auch sehen: Randy begleitete seine rotgelockte Eroberung nach Hause.

Emily. Das war ihr Name.

„Bleiben Sie stehen!”, sagte Liam und schnallte sich ab, „Juliet, du bleibst hier.” Er sprang aus dem Wagen und wetzte los - Ha'gel hatte einen guten Vorsprung und musste nicht weit, Emily wohnte ganz in der Nähe.
Liam lief über die Straße, was ein Hupkonzert verursachte und auch bewirkte, dass Ha'gel sich nach ihm umdrehte, einem scheinbar gewöhnlichen Menschen aber offenbar keine weitere Bedeutung beimaß und mit Emily in einem Hauseingang verschwand.
Als Liam das Haus betrat war der Lift auf dem Weg nach oben (in den zweiten Stock, wusste er) und es blieb dem Kimera nichts anderes übrig, als unter Aufbietung von reichlich Energie in tatsächlicher Weltrekordzeit die Treppen hoch zu laufen - wäre er reiner Kimera könnte er problemlos noch schneller in der Mitte hoch schweben.
Oben angekommen schoss er kurzerhand Emilys Wohnungstüre aus den Angeln.

Ha'gel stand ihm mit grell glühenden Handflächen gegenüber, schien aber mit sich zu ringen - Liam war unbewaffnet! Die Frage war ihm anzusehen: Was hatte Liam mit der Tür gemacht?

„Sie hält solche Unmengen an Energie nicht aus”, sagte Liam, „Du würdest sie umbringen.”
Ha'gel trat verdutzt einen Schritt näher und musterte ihn.
„Ich weiß, wer du bist. Und die Polizei findet bald heraus, wer dein gegenwärtiges Vorbild ist.” Liam trat seinerseits einen Schritt näher. „Du solltest dir ein gutes Versteck suchen - ich kenne eines.”
Shaqarava glühte heller. „Vertrauen auf einer Welt der Taelons?”
„Auf einer Welt der Menschen.”
„Erobert!”
„Nicht widerstandslos”, sagte Liam, „Ich kann dich zu Jonathan Doors bringen.”
Ha'gel dachte einige Momente lang nach, dann senkte er langsam seine Hände. „Du zählst zu dieser Gruppe?”
„Nicht in dem Sinne, dass Jonathan Doors davon weiß”, gab Liam zu, „aber ich habe eine starke Abneigung gegen die Machenschaften der Taelons.” Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung die Treppe herauf - Ha'gel ebenfalls und er richtete Shaqarava auf den inzwischen wieder bewaffneten Terry.
Liam drängte sich zwischen seinen Kimeravater und das Geländer. „Terry, Waffe runter!”
Ha'gel richtete wütend beide Hände auf Liam und schoss.

So fühlte es sich also an ... die Wucht, der Schmerz, die zerrissenen Energiebahnen, der ... Fall? Liam fiel! Er hörte Terry erschrocken seinen Namen rufen, während der zweite Stock an ihm vorbeizog.
Hoffentlich machte der Polizist nichts Dummes ...
Der erste Stock zog vorbei, dann prallte Liam schmerzhaft im Erdgeschoss auf den Boden. Ein Teil seiner Energie verflüchtigte sich, als er sich auf seine Energiebahnen konzentrierte - und darauf, selbige trotz des immensen Schmerzes weiter zu versorgen. Es war nötig, und sie verbanden sich wieder.
Liam gestattete sich keine Verschnaufpause, er rappelte sich auf und eilte die Treppe wieder hoch. Oben erwartete ihn Terrys verdutztes Gesicht - allerdings war es derzeit nicht Terrys Gesicht, sondern Ha'gels, und ein brauner Kokon lehnte in einer Ecke des Treppenhauses.

„Du hast mein Erwachen gespürt! Wie?”
„Ich habe einen kleinen Finger im Gemeinwesen.”
„Ich spüre dich nicht! Wer bist du? Was bist du?”

Liam straffte sich etwas und verstärkte seine Präsenz im Gemeinwesen etwas, aber er blieb unter der Wahrnehmungsschwelle der Taelons. Nur einen winzigen Moment später war, ebenso gedämpft, auch seine Tochter zu spüren, durchaus nicht weit weg, aber auch nicht in unmittelbarer Nähe.
Kimera!”, stellte Ha'gel erstaunt fest, „Ihr seid von meiner Art!”
„Richtig. Hol Emily, wir gehen. Eine Wohnung mit kaputter Türe ist kein Versteck.” Liam ließ den Kokon einfach stehen und ging die Treppe hinunter, wenig später hörte er die Schritte von zwei Personen hinter sich - Ha'gel und Emily, letztere starrte irgendwie ins Leere.

Vom Flat Planet her blinkte es blau, Liam wandte sich daher, gefolgt von Ha'gel und Emily, in die andere Richtung, bog zur Vermeidung einer Straßenüberquerung schon bei der nächsten Querstraße rechts ab und huschte durch einen weiteren Hauseingang - und dann weiter in den Fahrradkeller. „Also gut, hier ist kein zu schlechtes Versteck, jedenfalls für ein paar Stunden”, sagte er, „Ich werde versuchen, herauszufinden, was die Polizei beim Flat Planet macht.”
„Er hat Verstärkung gerufen, bevor er dir gefolgt ist”, sagte Ha'gel.
Liam rollte mit den Augen. „Großartig ... dann kann ich Juliet nachher im Knast abholen.”
„Ich werde ...”
„Nein.” Er straffte sich und veränderte seine Fassade, tauschte das Generalsgesicht unter staunenden Blicken durch sein wahres Erbe aus. „Ich werde gehen und Kontakt zum Widerstand suchen.” Er gönnte Ha'gel einen strengen Blick. „Tu nichts Unüberlegtes! Tu am besten gar nichts!”

Wieder draußen auf der Straße machte Liam sich auf den Weg zum Flat Planet. Dort hatte er durchaus Chancen auf Widerstandsmitglieder (speziell auf eines), und wenn er dort doch niemanden fand, stand auf dem Parkplatz Randys Auto - und Ha'gel hatte den Schlüssel stecken lassen.
Liam ging am Polizeiaufgebot vorbei und betätigte sich beiläufig als Gaffer. Street trug nun Handschellen, aber die Bernsteinmelone war nach wie vor unentdeckt.
Im Flat Planet war alles normal, es lief Musik, Lucy mixte Getränke, einige Gäste waren mehr alkoholisiert, andere weniger. Lucy war wie immer nüchtern, sie trank nie, sie mixte nur. Liam trat an die Bar.
„Was darf es für Sie sein?”, fragte Lucy.
„Könnten Sie für mich eine Nachricht überbringen?”
Sie griff nach einem Notizzettel und einem Stift. „An wen?”
„Augur.”
Sie sah auf. „Wenn ich frage: An wen?, erwarte ich, dass Sie auf eine hübsche Dame an einem Tisch zeigen.”
Er schmunzelte. „Mag sein, Augur sitzt hier aber nirgendwo und eine hübsche Dame ist er auch nicht.” Er lehnte sich näher zu ihr und fuhr leiser fort: „Sagen Sie Augur, dass Ha'gel den Kontakt zum Widerstand sucht und morgen in die Kirche geht.”
„Ich weiß nicht, wem ich das ...”
„Sagen Sie es ihm einfach - einen schönen Abend noch.” Er lächelte knapp und machte sich von dannen. Sie würde die Nachricht überbringen, das war sicher.

 

Ende Kapitel 4

 

Zurück / Back

 

Zum Seitenanfang