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  „Licht” von Veria,   Februar 2018
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Das Leben findet zur Normalität zurück.
Zeitpunkt:  direkt anschließend
Charaktere:  Mabel, Pedro, Liam, Ga'hil, Zorita, Ron, Harmony, Aby, (Street, Frank, William, Dominic, [Farrell, Ariel, Bess, Richter Magnussen]
 
 

 

LICHT

Kapitel 3: Licht III

 

Mabel ließ ihren Blick über das Meer schweifen und lehnte sich gegen den Hafenpoller hinter ihr. Früher, vor vielen Jahrzehnten, war das ihr Platz gewesen, an dem sie auf ihren Vater gewartet hatte, jetzt legten hier keine großen Schiffe mehr an. Nur mehr kleine, wie das Fischerboot, das sich jetzt gerade dem Pier näherte. Der uralte Fischer mit sonnengegerbten Runzeln stand auf und warf Mabel die Festmacherleinen zu, sie legte sie hilfsbereit um diesen und drei weitere Poller.
„Guten Tag, Señorita”, grüßte er.
„Guten Tag, Pedro.”
Er sah sie genau an, dann strahlte er. „Isabelita!” Mit einem für sein Alter unglaublichen Satz sprang er neben Mabel und drückte sie kräftig. „Lange her, kleines Mädchen. Was machst du hier, so fern von all den wichtigen Dingen?”
„Die wichtigen Dinge werden auch ein paar Stunden ohne mich auskommen”, sagte sie, „außerdem übertreibst du.”
Er grinste und sein Gebiss verlor kurz die Haftung. „Nur ein bisschen, Isabelita.”
„Wie geht es dir, Pedro?”
„Ich fange Fische und verkaufe sie - ist ein schönes Leben”, sagte er, „Zugegeben ist es schwierig, in meinem Alter alleine mit dem Schiff klarzukommen, aber meine Söhne arbeiten lieber in Banken und einem Krankenhaus.”
„Ja? Du hast einen Arzt herangezogen?”
„Aber nein ... Miguel ist Rezeptionist.”
„Das ist auch gute Arbeit, Pedro.”
Pedro lachte leise auf und nickte dann. „Schon, ja, aber er könnte auch seinem armen Vater auf dem Meer helfen, anstatt ihm Almosen zu bringen. Da hat man drei Söhne und dann wollen die alle ihr eigenes Leben!”
„Ja ...”, seufzte Mabel, „Jetzt zieht auch der jüngste aus.”
„Ah?”
„Drei Söhne, Jay, Pepe und Neville.”
„Mädchen, so alt siehst du aber wirklich nicht aus”, Pedro musterte sie ungläubig, „Kleinkinder hätte ich dir zugetraut.”
Mabel schmunzelte. „Pedro, du weißt, wie alt ich bin. Du bist ein Schmeichler.”
Jetzt stutzte er und es war ihm anzusehen, dass er rechnete. Schließlich tat er energisch kund: „Mädchen, niemals bist du über sechzig! Vierzig, bestenfalls!”
„Über sechzig”, bestätigte sie, „Oh ja. Komm, Pedro, trinken wir einen Kaffee.” Sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn mit sich den Pier entlang und in die ehemalige Hafenkneipe, jetzt modernes Café mit Glasfront. Pedro war hier offensichtlich seit der Neueröffnung noch nie gewesen, es beäugten ihn auch die Kellnerinnen (nur im Bikini, zur Tourismusförderung) recht kritisch.
„Uuhh, Pílar bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich mit dir jungem Ding in diesem Lokal war ...”, nuschelte der alte Fischer nervös.
„Ach, wir können auch wieder gehen ...”
„Oh, nein, nein, das wird sie schon nicht erfahren.” Er blickte auf das braungebrannte Heck einer Kellnerin und zog einen Mundwinkel hoch. „Sonst ... war es das wohl einfach wert.”

Mabel suchte einen netten kleinen Tisch und winkte auch gleich nach einer Kellnerin, die Bestellung war schnell erledigt: Kaffee, ganz normal, kein Schaum, kein Glitzer, kein grün leuchtendes Zeug (das kam ja überall rein!).
„Ich finde den Kimera ja auch toll, aber das Zeug schmeckt nicht”, erklärte Pedro mit verzogenem Gesicht, „und jetzt hat Pílar auch noch so ein grünes Symbol um den Hals ... ein Segen oder so. Er ist ja jetzt heilig.”
„Er hält davon nichts.”
„Ich weiß nicht weiter, was das angeht. Pílar ist brav immer in der Kirche, aber ich bin wohl ein Ketzer. Also, ich gehe schon mit, aber so richtig stimmt das alles nicht.” Pedro raufte sich die spärlichen Haare und seufzte lautstark. „Es ergibt auch überhaupt keinen Sinn! Was er macht sind doch keine Wunder!”
„Damals wären sie es gewesen”, warf Mabel ein.
„Hmm.” Einige Augenblicke dachte der alte Fischer noch scharf nach, dann schob er das Thema beiseite und griff ein anderes auf: „Hast du deine Cousins gesehen? Es ist auch vier Jahre her, dass ich Juan gesehen habe, Enrique ... zehn Jahre oder so.”
„Beide, ja”, bestätigte Mabel, „aber viel habe ich nicht erfahren - sie haben mich die ganze Zeit nur ausgefragt. Wie immer.” Sie nahm ihren Kaffee von der Kellnerin entgegen und ergänzte: „Und als ich sagte, dass ich mal Shaqarava hatte ... uhh, da war die Hölle los vor lauter Fragen.”

Die Kellnerin verzog sich eilig und sehr verdutzt, nachdem sie noch schnell Pedro seinen Kaffee hingestellt hatte.

„Haben ja einige ...”, bemerkte Pedro.
„Aber nicht grün!”
„Oh.”
„Naja ...”, seufzte Mabel, „Das passiert, wenn man Stiefmutter des Kimera ist ...” Sie schlürfte am Kaffee. „Aber manchmal nervt es wirklich.”
„Wie wird man Stiefmutter des Kimera?”
Sie grinste breit. „Wieso? Willst du mir das nachmachen?” Er lachte und richtete eilig sein Gebiss wieder ein. „Liebe auf den ersten Blick, garniert mit etwas CVI-bedingtem Misstrauen. Aber sobald der Imperativ raus war ...” Sie blickte versonnen durch die Glasfront aufs Meer, bis ein Bikinioberteil samt zweifellos silikongefülltem (oder was immer man da heutzutage eben als Füllung nahm) Inhalt ihren Blick störte.

Zugegeben war es mit Ron nicht so schnell gegangen, wie sie es jetzt andeutete - ihr Misstrauen hatte den Imperativ über einen Monat überdauert. Aber so lange war ein Monat auch wieder nicht ... Mabel nahm einen Schluck Kaffee und lächelte Pedro an, der wie sie auch irgendwelchen angenehmen Erinnerungen nachhing.

„Weißt du”, sagte er schließlich, „so sehr hat sich die Welt gar nicht verändert. Nur weniger Fische und mehr Aliens.”
„So gesehen ...” Mabel neigte den Kopf. „Geht noch genug ins Netz?”
„Naja, reicht für die Steuern und die Miete - das Essen schenkt mir ja Miguel.”
„Schreib doch deine Memoiren, gehen bestimmt weg wie warme Semmeln: Wie ich Isabel Martínez' Ersatzvater war, während ihr richtiger auf See oder bei seiner anderen Familie war.”
„Andere Familie?”, war Pedro verdutzt.
„Mhm.” Mabel nickte und nippte kurz am Kaffee, der danach leider leer war. „Er hatte in Washington Frau und Kinder - von Lili Marquette hast du doch bestimmt gehört, ist meine Halbschwester.”
„Ah”, murmelte er, „dann ist diese graue Halb-Taelon deine Nichte. Irgendwann wollte ich ihr Buch mal lesen, man will ja schließlich auf neuestem Stand sein.” Mabel grinste und schnippte nach der Rechnung. „Aber erzähl mal, was deine drei Söhne so machen. Doch bestimmt nicht auch in Banken und einem Krankenhaus arbeiten, oder?”
„Jay ist Interspeziesmediator und ihm wird wohl so schnell nicht die Arbeit ausgehen”, sagte Mabel, „Pepe baut Shuttles und Neville studiert. Irgendwas mit Nano. In Prag.”
„Nano! Prag! Das weiß sogar ich, dass das ein Garant für Karriere ist!”
„Echt? Ich weiß das nicht, ich bin nur die Spanierin vom Lande mit der unfertigen Doktorarbeit in Ethnologie.” Und Elitesoldatin aus einem anderen Universum - aber von dort wusste sie erst recht nichts über Prag.
„Mach die doch mal fertig! So ein Doktor macht sich gut vor dem Namen”, schlug Pedro vor.

Mabel drehte die Kaffeetasse und schob sie etwas zur Seite. Natürlich hatte er recht. Die Doktorarbeit war Isabels Baby gewesen, aber mit der Verschmelzung hatte sie sie aufgegeben ... nicht mehr gebraucht, Maiya hatte nicht zu knapp Qualifikation eingebracht ...
Und dann war sie Hausfrau und Mutter geworden, wie altmodisch. Nein, natürlich bereute sie es nicht, sie hatte ja auch genug Actioneinlagen in ihrem Leben als Hausfrau und Mutter gehabt. Actioneinlagen, für Maiya, die Soldatin. Und intellektuell? Für Isabel?

Der Beschluss war gefasst. „Okay, mache ich. Danke, Pedro.”
„So wie ich dich kenne, Isabelita”, sagte Pedro grinsend, „Niemals aufgeben.”

Niemals aufgeben.

Noch auf dem Weg zum Parkplatz dachte sie daran. Maiya gab niemals auf, Isabel hatte es getan. Natürlich war Mabel beide, aber tatsächlich waren ihre Prioritäten eher Maiyas als Isabels - oder hätte auch Isabel diese Prioritäten, wenn sie in die entsprechende Umgebung geraten wäre?
Für die Menschheit kämpfen hätte können?
Familie haben hätte können?
Möglicherweise. Schwer zu sagen. Aber Mabel war definitiv auch Isabel, und auch diese Hälfte war nicht unzufrieden.

Ihr Chauffeur lehnte am Auto und paffte eine Zigarette, er straffte sich, als Mabel unter der Schranke durchtauchte und zu ihm trat. „Señora Martínez, wohin möchten Sie fahren?”
„Zum Portal bitte.” Er hielt ihr die Tür auf und sie stieg ein. Schnell bezahlte er dann noch die Parkzeit und drückte die Zigarette aus, dann klemmte er sich hinters Lenkrad und fuhr los.
„Kehren Sie nach Amerika zurück?”
„Es ist die Verhandlung meines Mannes.”
„Oh, ja richtig.” Er stieg auf die Bremse und schlug auf die Hupe, als ein überholendes Motorrad ihn schnitt. „Das gestern war ja der Wahnsinn”, sagte er dann, „Ich bin nach hinten von meinem Fernsehstuhl gekippt, als der Anwalt plötzlich einer von denen war ...”

Mabel grinste. Die Presse hatte einen beachtlichen Erfolg gelandet und die gerichtseigenen Videoaufzeichnungen erhalten: Die ganze Welt hatte den falschen Anwalt sehen können.
Die ganze Welt hatte hören können, wer der Kimera als Mensch gewesen war.

„Und davor schon, dass der Kincaid Ga'hil war”, fuhr der Chauffeur fort, „Die ganze Zeit war es der. Sie wussten das, oder?”
„Natürlich. Ich bin seine Stiefmutter.”
„Ja ... ja, natürlich.” Er nahm eine Ampel bei gelb mit und ordnete sich in die Haltespur an der Portalstation ein. Er stieg aus, ging um das Auto und öffnete die Tür für Mabel. „Gute Reise, Señora Martínez.”
„Danke.” Mabel stieg aus, nickte ihm knapp zu, dann betrat sie die Portalstation durch eine der breiten Schiebetüren und trat an eines der Meldeterminals.
Die Station war zu stark frequentiert, um einfach jeden Reisenden sein Ziel einstellen zu lassen, also brauchte es eine Warteschlange. Mabel identifizierte sich, tippte ihr Ziel (Washington Hauptportalstation) ein und bekam mitgeteilt, dass bereits 67 weitere Personen dieses Ziel hatten und die Reise in vier Minuten in der Portalhalle 1 stattfinden würde - wahrscheinlich wäre der Transport dann sogar ausgelastet, ein stetiger Strom Reisewilliger drang von draußen in die Eingangshalle und davon wollten mit Sicherheit etliche auch nach Washington.

Die Portalhalle 1 war die einzige Halle hier, in der nur ein Portal stand - hundert Plätze bot es, es konnte aber auch nur andere ebenso so große Portale ansteuern. Gerade noch stellten sich die Reisenden nach Madrid auf ihre Plätze, ein Mann mit Kleinkind rannte als letzter an seine Position und setzte das Kind auf die Markierung neben sich, dann erfasste die Interdimension alle hundert.
„Portaltransport nach Barcelona, bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein”, erklang eine Lautsprecherdurchsage. Sofort kam wieder Bewegung in die wartenden Leute. Hundert von ihnen stellten sich ins Portal, wenig später waren sie verschwunden.
„Portaltransport nach Washington, D.C., in den Vereinigten Staaten von Amerika, bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein.” Mabel setzte sich in Bewegung und stellte sich auf eine Markierung.
„Direktverbindung nach Washington”, sagte der Mann links neben ihr, „Das ist eine Ausnahmesituation, das gibt es hier sonst nie. Sonst muss ich immer erst nach Madrid, und kann von dort erst nach Washington.”
„Ausnahmesituation, Sie sagen es”, stimmte Mabel zu, „Die Station in Washington wird gesteckt voll sein, vermutlich werden wir Ewigkeiten in der Schlange stehen ...”
„Ja ...”
Die Interdimension riss Mabel, ihren Nachbarn und 98 weitere Personen mit und setzte sie in einem Portal in Washington ab. „Willkommen in Washington, D.C., bitte verlassen Sie das Portal und begeben sich in die Abfertigungszone”, erklang eine Durchsage.

Mabel sortierte sich in die lange Schlange für Ausländer, ihr Nachbar ebenfalls. Vielleicht hätte sie doch ein kleineres Portal und einen Sondercode benutzen sollen ... aber es ging doch überraschend schnell, da mehr Abfertigungsbeamte als üblich hier waren.
Wie gefordert zeigte Mabel ihren Ausweis, zusätzlich auch das Zertifikat, dass sie vor Atavus-Hybridisierung geschützt war, dann wurde sie durchgelassen.

Mittels einiger Ellbogenarbeit schaffte sie es zügig durch die Ankunftshalle und hinaus auf die Straße, wo sie in der Haltespur ein kleines blaues Auto fand. Sie öffnete die Beifahrertür und setzte sich. „Danke fürs Abholen, William.”
„Immer doch”, sagte der Implantant und fuhr los.
„Hi”, grüßte Dominic von hinten, „Wie war es in Spanien?”
„Spanische Politiker sind genauso bekloppt wie die hier”, sagte Mabel, „Wie war es hier? Ich habe ja den großen Knaller verpasst!”
„Das war total grüncool! Voll!”
Sie schmunzelte - Dominics Reaktion war so vorhersehbar gewesen. „Und sonst? Gar nichts?”
„Doch, klar”, sagte William, „Ga'hil hat das Atavus-Gemeinwesen zerbrochen, und Zoriel ist in ihre beiden Hälften aufgespalten, ähnlich wie er. Es geht Zoriela und Zorita gut, keine Sorge.”
Mabel runzelte die Stirn.
„Zoriela ist der materielle, Zorita der energetische Teil.” William blieb hinter einer Kolonne stehen und seufzte. „Mit Pech ist die Tiefgarage voll.”
„Dad”, erklang von hinten, „Links abbiegen, die Bellhill-Garage hat noch 144 Plätze.”
„Danke”, sagte William und folgte der Anweisung - tatsächlich war in der Bellhill-Garage sofort ein Platz zu finden und sie war auch nur geringfügig teurer.

Rennen mussten die drei dann allerdings, denn die Bellhill-Garage war auch weiter vom Gerichtsgebäude weg.

Im Gerichtssaal gesellten sie sich dann zu weiteren Besuchern aus Clearwater, wenig später war es schlagartig leise, als Richter Magnussen eintrat. Er sah in die Menge der Zuschauer, suchend, und schließlich traf sein Blick Ga'hil.
Es wurden Zeugen aufgerufen und Beweise vorgelegt, doch das Ergebnis stand schon fest - das Atavusgemeinwesen wirkte nicht mehr auf den Richter, also hielt er sich an Recht und Gesetz, aber eben auch an die Regeln des Gerichts, die einen völlig unbegründeten Freispruch nicht zuließen.
Lange dauerte es dennoch nicht. Das Gericht verfügte über die Autopsieberichte des Ehepaares Federov und die Aussagen mehrerer Befreiter, sowie auch von Will, der den fast tödlich verletzten Ron ja ins Portal geschleppt hatte. Damit war klar, dass es Notwehr und sehr knapp gewesen war - also Freispruch für Ron.

Mabel war sehr erleichtert. Sie hatte ihren Mann endlich wieder zurück.

* * *

Jetzt, wo keine Atavus-Weltherrschaft und auch keine Gefängnis- oder sonstige Strafen mehr drohten, war endlich die Gelegenheit, sich um andere Probleme zu kümmern. Harmony wusste, wie Liam und Ga'hil wieder eins werden konnten - der tiefe Blick in die Interdimension in der Atavuskammer hatte sie geradezu mit der Nase auf die Lösung gestoßen.
Ga'hil steuerte das Shuttle aus der Garage des Gerichtsgebäudes und brachte es in die Interdimension. Hinter ihm saßen sein Vater, seine Stiefmutter, seine Brüder, seine Frau und seine Kinder - sein anderes Ich stand neben ihm. Er fragte sich, wie es dann wohl wäre ... bisher hatten sie gelegentlich ihre Erinnerungen per Sharing ausgetauscht, aber das war nie so direkt wie eigenes Erinnern. Er würde sich dann daran erinnern, neben sich gestanden zu sein.
Vermutlich fragte sich Liam dasselbe. Vermutlich vermutete Liam auch, Ga'hil würde sich das fragen. Nach der Vereinigung würde er dann wissen, ob er recht gehabt hatte.

Kurz sah Ga'hil nach hinten und erwischte seinen Vater und seine Stiefmutter beim Knutschen. Ein Schmunzeln huschte über Liams Gesicht - unzweifelhaft dachten die beiden Liam-Hälften gerade dasselbe: Nach einem Monat anderes Universum, Gefängnis und Spanien war das verständlich.

Der Kimera verließ die Interdimension und senkte dann sachte seine Hand in der holographischen Kontrolle, das Shuttle gehorchte und setzte auf dem Schnee vor dem Eingang zur Atavuskammer auf. Alle Insassen stiegen aus, die echten und unechten Hybriden heizten ihre Energiebahnen an, die Menschen froren und Ga'hil störte sich an der Kälte gar nicht erst.
Harmony stapfte voraus, zwei Soldaten salutierten knapp und einer begleitete die Familie den Tunnel entlang in die Kammer, wo die Elfdimensionale sofort eine der Kapseln öffnete.
Ga'hil trat in die Kapsel und lehnte sich in eine der Hälften, Liam stellte sich ihm gegenüber. „Bis gleich”, sagte er - und sein anderes Ich sagte zugleich dasselbe.

Seine Tochter stellte sich auf den Energiepool und schloss die Augen, dann taten die Kapselhälften einen Ruck und fuhren aufeinander zu.

Ga'hils Fassade und Struktur löste sich auf und seine Energie durchdrang Liam, verdutzt stellten die beiden fest, dass die mentale Verbindung zu Gren gerade zerbrach, dafür war jene zwischen Kimera und Mensch jetzt so stark wie sonst nur ... ja, wie sonst nur in einem Joining. In gewisser Weise war es ja auch eines.
Sie waren eins! Bei einem Joining würde sich diese Verbindung wieder lösen - aber hier blieben Kimera und Mensch eins, auch als sich die Kapsel wieder öffnete.
Liam festigte seine Fassade, seine menschliche Gestalt und trat ins Freie.

Verdutzt runzelte er die Stirn, als Aby vor ihm niederkniete.
„Liam, willst du mich heiraten?”
Perplex starrte er sie an. „Äh ... wir sind doch schon verheiratet!”
„Weißt du, es klingt irgendwie unsinnig, dass du mit der eigenen Witwe zusammenlebst”, sagte sie, „oder findest du nicht?”
Verhaltenes Gelächter erklang von seiner Familie, auch der Soldat konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. „Sie hat Recht, Sohn”, sagte Ron.
„Hat sie”, stimmte Harmony vom Energiepool zu, „aber ihr kriegt mich nicht dazu, nochmal Blumen zu streuen! Kann Farrell machen.”
„Blumen streuen?”, war Farrell entsetzt, „Ich?”

Liam grinste breit. „Dann eben ohne Blumen.” Er kniete ebenfalls nieder und griff nach Abys Händen. „Ja, Aby, ich will dich heiraten.”

Kaum später war die gesamte Familie wieder unterwegs nach Clearwater - diesmal flog allerdings Harmony, denn Liam wollte auch mal hinten knutschen. Er, wirklich er, der echte Kimerahybrid, hatte das schließlich auch eine ganze Weile nicht mehr gemacht - seine Hälften, ja, aber nicht er.
Also knutschte er mit seiner Verlobten. Genussvoll.

„Ron”, sagte Mabel unterdessen, „Ist bei dir wirklich alles in Ordnung? Noch alles ganz richtig rum im Kopf?”
„Wieder”, gab Ron zu, „Kurzzeitig war ich drüben ziemlich blank, aber dank T'than hat sich mein Gedächtnis wieder stabilisiert.” Bevor sie zur sorgenvollen Rede ansetzen konnte, ergänzte er noch schnell: „Das war aber nicht aus heiterem Himmel! Ra'jel hat mich schließlich verprügelt und mir eine Kralle an den Kopf gesetzt!”

Mabel richtete sich auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Umso schlimmer! Du verlierst also auch mal mitten im Gefecht dein Gedächtnis ... ja, klar, und das nächste Mal wechselst du dann noch versehentlich die Seiten, weil du plötzlich glaubst, du wärst dieser Eisklotz!” Sie rollte mit den Augen. „Los, Kural muss eine Lösung finden, geh ihm auf die Nerven ...”

Liam löste sich ungern von Aby, aber das musste er sagen: „Er hat eine! Das nächste CVI bekommt die wichtigsten Erinnerungen schon von Anfang an eingebaut und zudem eine Sonderprogrammierung für akute Orientierungslosigkeit.”
Mabel blinzelte verdutzt. „Ah?”
„Ja, und dann schafft Vater die Neuverknüpfung der Erinnerungen auch allein, ohne Hilfe per Sharing.”
„Siehst du?” Ron lächelte zufrieden seine Frau an. „Kein Grund mehr zur Sorge.”
„Doch!” Sie tippte ihm mit einem Finger auf die Brust und sagte energisch: „Das nächste CVI ist erst in zwei Jahren dran.” Kurz kratzte sich Ron verlegen am Kopf. „Okay, es wurde also arg beansprucht”, verstand Mabel besorgt, „Wie lange hält es noch?”
„Zwei, drei ... Wochen, etwa ...”
Wieder tippte sie mit ihrem Finger. „Hausarrest! Sonst ruinierst du noch versehentlich dein Hirn völlig!”
„Mabel ...”

Natürlich hatte der Implantant keine Chance, es gelang ihm nur, den Hausarrest abzuschwächen, so dass er sich immerhin in Clearwater frei bewegen würde dürfen. Liam schwor sich, seinem Vater jegliches Risiko umgehend wieder auszureden - schon die Idee mit dem anderen Universum war eine äußerst schlechte gewesen.
Noch aus dem Shuttle trug der Kimera Augur auf, alles für die Hochzeit vorzubereiten. Es war ja ohnehin nur eine Auffrischung, keine große Fete wie damals.
Wenig später landete Harmony das Shuttle vor dem Rathaus, nicht darunter. Etliche Hochzeitsgäste aus diesem und auch zwei aus dem anderen Universum (Street und Ariel - Yulyn war dafür mit Lil, Zoriela und Cedrik drüben) standen bereit, Corinna hatte ein Bündel Stoff unter den Armen - sie begleitete Aby kurz in ein leeres Büro (Umkleideraum in diesem Fall), aus dem die Braut dann in ein wunderschönes, blassgrünes Kleid gehüllt wieder heraus kam - es war dasselbe wie damals, nur gefärbt - damals war es ganz weiß gewesen.
Liam machte es sich einfach - er polierte seine Fassade auf, mit farblich zu Abys Kleid passender Fliege.

Augur hatte natürlich nicht irgendeinen Standesbeamten aufgetrieben, nein, Ex-Bürgermeisterin Bess schloss diese Ehe (im Grunde zum zweiten Mal) und fuchtelte zur Bekräftigung mit einer Pfanne. Mit einer großen Pfanne. Danach erzählte sie, dass es genau diese Pfanne war, mit der sie Ron einst eins übergebraten hatte.
Liam stellte schmunzelnd fest, dass sein Vater sich mit verzogenem Gesicht über die Stirn rieb.

„Was ist eigentlich mit dieser Pfanne?”, fragte Ariel.
„Eine wichtige Pfanne, sehr wichtig”, erklärte Ron, „Damit hat sie mich aus dem Küchenfenster außer Gefecht gesetzt, nachdem ich Liam angeschossen hatte. Erwacht bin ich ohne Imperativ, und als Liam und Julianne bei mir im Zimmer waren, fanden wir Harmony in ihrem Körbchen.”
„Und deshalb hat Bess den schwarzen Gürtel im Pfannenfechten”, warf Frank ein, „Bessie ist die beste, ehrlich. Wenn ich meine Holde nicht hätte und Bess ihren Schatz nicht, dann würde ich sie heiraten.”
Bess rollte mit den Augen. „Ja, klar.”

Liam grinste breit. „Frank, ich habe gehört, es soll eine Party geben, weil Vater aus dem Gefängnis ist. Richtig?”
„Klar”, sagte Frank, „Soll ich auf eine der Torten ein Brautpaar stellen?”
„Das war der Gedanke dahinter.” Liam sah zu seinem Vater und fragte: „Oder hast du etwas dagegen, dass ich dir ein bisschen Aufmerksamkeit abziehe?”
„Unsinn. Und jetzt stell dich doch mal mit Aby da hin”, Ron wies auf einen Fliederbusch, „und lass dich fotografieren.” Er zückte sein Global. „Das andere Hochzeitsfoto ist ja mit Generalsgesicht, also veraltet.”

Liam und Aby posierten brav, erst alleine, dann mit Harmony und Farrell, dann mit den Ampel-Brüdern und schließlich mit Ron und Mabel - Ariel war so freundlich, dieses Foto zu machen.
Danach wanderte die Menge in die Kochmütze, wo schon gewaltig aufgetischt war. Das Brautpaar schnitt noch schnell eine Mandelcremetorte mit Plastikbrautpaar an, dann wurde zum Sturm aufs Büfett geblasen.

Der Kimera genoss es, bei so guten Dingen einfach zulangen zu können. Andere Leute hätten danach möglicherweise ein schlechtes Gewissen und einen eingebauten Schwimmreifen und bekämen eventuell sogar von Kural eine Diät aufgebrummt (Frank ärgerte sich noch immer sehr darüber), aber nicht Liam als Kimera. Und seine Kinder aßen ebenso eifrig - Farrell baute sein noch niedriges Energielevel auf und Harmony ... nun, ihr Energielevel war ebenso immens wie Liams.
Knapp nach Liams Zeugung war Ha'gel von einem Skrillschuss so schwer verletzt worden, dass sich sein energetischer Körper einfach aufgelöst hatte - für Liam und Harmony wären Skrills keinesfalls eine Gefahr.
Natürlich, Ha'gel hatte all die Zeit in seiner Kapsel (und das waren Millionen Jahre gewesen) nur von Reserven gezehrt. Im Grunde war er am Verhungern gewesen, als ein neugieriger Mensch ihn befreit hatte.

Wie war Ha'gels Energielevel gewesen, bevor er in der Kapsel gewesen war?
Liam wusste es nicht. Er wusste es tatsächlich nicht, Ha'gel hatte an das Energielevel offenbar keinen Gedanken verschwendet, somit war auch kein Anhaltspunkt im Gedächtnis.

„Liam, du denkst schon über Nahema nach, richtig?” Street (welche von beiden?) wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht.
Der Kimera blinzelte. „Nein, habe ich nicht. Könnte ich aber.” Er grinste breit, als um den Tisch eifrig mit den Augen gerollt wurde.
„Du kannst so oder so nicht gehen”, kam von Harmony, „Du musst die Energie für die Atavus umwandeln, Farrell packt das noch nicht.”
„Stimmt. Magst du gehen?”
„Jetzt macht der die Party echt zu einer Besprechung!”, stöhnte Frank auf, „Ernsthaft?”

„Typisch”, sagte Harmony grinsend.

„Das war ja nur eine kurze Frage!”, protestierte Liam, „Und ganz allgemein habt ihr davon angefangen!”
Seine Tochter zuckte mit den Schultern. „Ich kann Atavus-Eunoia und Nahema dürfte schnell Respekt vor mir haben, also, ja, klar will ich gehen.”

„Und du bist seine Tochter, auch im Geiste”, seufzte Frank, „Ihr besprecht das ja wirklich jetzt!” Er barg das Gesicht in den Händen und brachte ein überaus gequältes Geräusch hervor.

Liam grinste breit. „Wenn du ohnehin schon leidest, Frank ...” Er musterte Harmony. „Wie wirst du sie finden?”
„Das weiß ich noch nicht. Wir haben insofern Pech, dass Nahemas Portal wohl vom Kollaps einer instabilen Interdimensionsanomalie zerstört wurde, die Augur mal verursacht hat.”
„Oh, das. Dort hat Vater erfahren, wer ich bin.”
Harmony schmunzelte, natürlich kannte sie die Geschichte sehr gut. „Jedenfalls war da drunter das Portal - und den Kollaps kann es nicht überstanden haben. Ich meine, wir können nachsehen gehen, aber ich bezweifle sehr, dass da was zu machen ist.”
„Und ihr meint wirklich, Nahema kann auch andere Portale benützen?”, wandte Ron ein, „Wenn sie nicht kann, können wir sie auch einfach ignorieren.”
„Laut Street kann sie.”
„Dann können wir sie nicht ignorieren”, beschloss Liam.
„Richtig”, bestätigte Harmony, „also finde ich einen Weg, sie zu suchen - aber erst nach dem Essen.” Sie wies auf ihr Stück Bananen-Schoko-Torte. „Das ist viel zu gut!”

Aby trug ein großes Stück Himbeertorte an den Tisch und räusperte sich. „Dürfte ich mich neben meinen nochmal frischangetrauten Ehegatten setzen?”
Ron schob sich von der Sitzbank und stand auf. „Aber selbstverständlich, Mrs. Beckett.”
„Danke.” Aby setzte sich. „Beckett, daran muss ich mich gewöhnen. Mit demselben Mann verheiratet wie vorher, aber trotzdem ein anderer Nachname.”
Liam grinste breit und legte einen Arm um sie. „Du gewöhnst dich dran, hat damals doch auch schnell geklappt.”
„Wenigstens bin ich diesmal nicht alleine, Mr. Beckett!”
So schwer konnte so eine Namensumgewöhnung doch nicht sein - Liam hatte immerhin etliche Jahre lang zwei komplette Identitäten nicht durcheinander gebracht.

„Ich hab mich vorhin, als ich Yulyn aus seiner Kapsel geholt hab, als Harmony Jae'yal Beckett Kincaid vorgestellt”, warf Harmony ein, „und ich gedenke das als meinen vollen Namen zu führen.”

Liam runzelte die Stirn. Liam Ga'hil Beckett Kincaid wäre durchaus eine Möglichkeit, zumal seine Kimera-Identität ja den liebgewonnenen Vornamen Liam nicht führte.
Andererseits sähe Aby dann vermutlich die Notwendigkeit, mit dem Namen auch nachzuziehen, und noch ein Namenswechsel musste doch wirklich nicht sein. Besser fügte er amtlich nur den Vornamen hinzu und beließ den Nachnamen bei Beckett, ohne Kincaid.
Kurz sah er zu seinem Vater, schmunzelte und beschloss, nicht (auch nicht scherzhaft) anzubieten, zukünftig Martínez (oder gar Sandoval - das würde Ron keinesfalls wollen) zu heißen.

„Also, die Himbeertorte müsst ihr probieren!”, sagte Aby, „Da hat sich Laurie selbst übertroffen.”
„Sie übertrifft sich ständig”, stellte Ron fest, „Das ist in der Familie gut aufgeteilt: Frank kann pikant, Laurie kann süß.”
„Also, nein.” Aby schüttelte den Kopf und wedelte mit der Gabel. „Die können beide beides.” Sie nahm einen Bissen und kaute sichtlich genussvoll - da konnte Liam nicht widerstehen: Er stibitzte einen Bissen und genoss ihn ebenso.
„Also ich steh auf die Bananen-Schoko-Torte”, erklärte Harmony mit vollem Mund.
„Und das zurecht!”, erklang Zoritas Stimme vom Nebentisch, „Absolut!”
Liam grinste schief. Zorita kam mit ihrem Dasein als energetische Zoriel-Hälfte recht gut zurecht, solange sie das menschliche Zeta-Tarnbild trug und Damien sie an körperlichen Erfahrungen per Sharing teilhaben ließ - fast ständig klebten ihre Handflächen aneinander. Und Sorgen musste Zorita sich ja auch nicht machen, denn sowie Zoriela zurück wäre und Ariel abgereist, wäre eine Verschmelzung ohne jegliche Probleme machbar.
Ariel ... Liam spähte an einen der kleineren Tische, wo die junge Frau mit Frank saß. Dass sie mit ihm verwandt war, hatte offensichtlich einige Wirkung auf sie gehabt - es schien, als betrachtete sie ihn nun als eine Art Vater. Sie wollte auch den Frank aus ihrem Universum kennenlernen - es war zu hoffen, dass er sich nicht zu sehr vom hiesigen Frank unterschied.

„Also, ich finde ja den Kirschkuchen am besten”, sagte Ron, „und das ganz besonders im Vergleich zu dem Zeug, was es im Gefängnis gab.”
„Das Knastfutter ist wirklich übel, ja”, stimmte Harmony zu, „Dad?”
Liam stimmte zu: „War übel, ja. Und Vater und ich konnten auch nicht einfach zu essen aufhören.” Er versuchte, noch einmal einen Bissen von Abys Teller zu ergattern, scheiterte allerdings. „Aber, Harmony, du hättest ja auch auf die kimerianische Art der Nahrungsaufnahme umsteigen können.”
Seine Tochter sah ihn perplex an. „Die was?”
„Das.” Er hielt sein Glas hoch und löste es in Energiefetzen auf.
„Ah.” Harmony runzelte die Stirn zu Karos und grinste dann breit. „So gesehen fressen wir unsere materiellen Körper immer wieder auf.”
„So gesehen ... ja, irgendwie schon.”
„Autophagie nennt man das”, warf Zorita vom Nebentisch ein, „und die Tatsache, dass sich die rein energetischen Kimera materiell ernähren konnten, ist ganz schön beeindruckend ... und die Taelons fanden das auch noch primitiv.”
„Fanden die Taelons nicht fast alles primitiv?”
„Stimmt auch wieder.” Sie löste ihre Hand von Damiens und wechselte den Tisch. „Und jetzt merke ich wieder aus allererster Hand, was Taelons alles nicht können”, sagte sie, „Das meiste davon war mir gar nicht mehr so direkt bewusst. Ich meine ... nicht mal riechen kann ich.”
Liam rollte mit den Augen. „Erzähl das nicht mir - ich kenne eine solche Trennung von beiden Seiten.”
„Das macht das Nichtriechenkönnen nicht weniger schlimm. Oder das Nichtschmeckenkönnen.”
„Das stimmt natürlich”, gab er zu, „Kommst du sonst klar?”
Jetzt grinste sie. „Ich hab heute früh schon Konservendosen abgeschossen - auch ein Taelon kann ordentlich was reißen, auch ohne Shaqarava.”

Sie hatte Konservendosen abgeschossen? Wie machte ein Taelon denn das?
„Das musst du mir dann zeigen”, beschloss Liam.
Sie nickte. „Klar.” Dann streckte sie quer über den Tisch Ron ihre Hand hin und bat: „Lass mich mal von dem Kirschkuchen probieren.” Augenrollend fügte sich der Implantant, nahm einen Bissen und legte kurz seine Hand gegen Zoritas. „Lecker”, kommentierte die Taelon, als sie ihn wieder losließ.

Nur knapp eine Stunde später begleitete Liam Zorita zum MacDougal-Haus, wo im Garten leere Dosen aufgereiht waren. Die Festgesellschaft hatte sich zerstreut, Aby war in der Sauna (Damensauna - und das am Hochzeitstag, wie konnte sie nur?), Farrell führte Yulyn in die in Clearwater üblichen Freizeitbeschäftigungen ein (Basketball, Baseball, Computer-Shuttleracer, ...) und Harmony suchte mit den Streets und Augur einen Weg, Nahema aufzuspüren.
Zorita zupfte sich das Tarngerät vom Oberarm und drückte es Liam in die Hand. „So, und jetzt pass auf”, sagte die Taelon.
Im nächsten Augenblick verlor sie ihre Fassade, etliche Energiebahnen leuchteten grell hervor und in ihrem Oberkörper wuchs eine Energieansammlung, die sich schließlich dem Boden entlang bis zu einer bedauernswerten Konservendose entlud.
„Sieht anstrengend aus”, stellte Liam fest.
„Ja, stimmt”, gab sie zu, „aber es braucht nicht wirklich gar so viel Energie, wie es scheint. Es ist nur so, dass sie jetzt durcheinander ist.” Sie nahm ihm das Tarngerät aus der Hand und legte es wieder an, worauf sie wieder menschlich aussah.
„Du hältst nicht viel vom taelonischen Aussehen.”
„Bei Taelons schon”, sagte sie, „aber ich bin Zoriel, eine vereinigte Atavus - nur eben gerade nicht vereinigt.”
Liam schmunzelte, löste seine menschliche Gestalt auf und formte die reine Fassade eines Kimera. „Ich bin Liam, ein Mensch-Kimera-Hybrid - und ein Taelon nach der Bleichwäsche.”
Zorita lachte laut auf.
„Ich hatte einige Probleme mit dem Verlust meiner materiellen Hälfte”, sagte er, „Wie du war ich auf energetische Form beschränkt, zunächst, und dass ich später die Gestalten anderer übernommen habe, hat es nicht besser gemacht. Das war ja nicht ich.” Zorita runzelte die Stirn. „Und ich war mit Vater plötzlich gar nicht mehr verwandt! Ich war ein Alien, völlig fremd, ich wusste nicht einmal selbst, wer ich bin und was ich kann.”
„Oh. Dass es so schlimm war, hat man dir nicht angemerkt.”
„Natürlich nicht. Ich habe mich ja in alle Arbeit gestürzt.” Er grinste schief. „Wie immer halt.”
„Wie immer ... das kannst du laut sagen”, gab Zorita zurück, „Liam ...” Sie seufzte knapp. „Für welche Hälfte war es schlimmer?”
„Für die materielle - aber ich weiß nicht, ob das auch ohne Gefangenschaft, Aufgespießtwerden und Krankheit so wäre. Ich meine, ich wusste, wie es ist, ein Mensch zu sein, ich habe lange als Mensch gelebt, aber als Kimera ... habe ich nie gelebt.”
Sie musterte ihn nachdenklich. „Also sollte es für mich nicht so schlimm sein”, stellte sie fest, „weil ich ja auch Zo'or war, der als Taelon gelebt hat.” Sie tippte das Tarngerät an, das Tarnbild verschwand. „Und zumindest die Zeit in Clearwater war auch für Zo'or ein sehr gutes Leben. Er hat sich hier wohl gefühlt, er hat sich hier sicher gefühlt und er hat sich hier wertgeschätzt gefühlt.”
Sie streckte ihre linke Hand aus und betrachtete sie, ließ die Energiebahnen hindurch scheinen und seufzte dann. „Und dennoch schätze ich die Erinnerung an Ariels Leben mehr als die Erinnerung an Zo'ors Leben.”
„Liegt das daran, dass er ein Taelon war?”, fragte Liam, „Oder eher daran, dass er etwas war, was er nicht sein wollte und aus dem er sich freikämpfen musste?”

Kurz verlor Zorita ihre Fassade völlig. „Das ist dasselbe!”, platzte sie heraus.

„Damals, ja. Aber seitdem hat sich das Gemeinwesen sehr verändert, und du weißt das.”
Sie starrte ihn an, blassblaue Linien zogen über ihr Gesicht. „Es hat sich verändert, ja.”
„Zorita ... Zoriel”, sagte er leise, „Du warst immer auch Zo'or, ignoriere das nicht.”
„Das habe ich nicht! Ich habe doch vorgeschlagen, dass ich mich aufspalten lasse und in Renees Universum fliege! Als Zo'or!”

Das stimmte. Das hatte Zoriel getan.
Liam runzelte die Stirn.

„Weil ich dort Ra'jel in den Arsch treten hätte können”, knurrte Zorita nach einigen Momenten Stille, einige tiefrote Linien drangen durch ihre Fassade, „Vielleicht war das doch mehr der Wunsch, den prototypischen Taelon der alten Art zu verdreschen - einen, wie Zo'or einer war.” Sie wandte sich ab und ging zu den Konservendosen, sie hockte nieder und hob die auf, die sie zuvor abgeschossen hatte.
Ihre Energie beruhigte sich deutlich. Liam folgte der Taelon einige Schritte.
„Du hast schon Recht”, sagte sie, „Ich mag Zo'or nicht. Ich meine, würde ich, Zoriel, ihm damals begegnen, er würde mich sezieren lassen.”
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Weißt du, damals hätte mein Vater mir liebend gerne den Hals umgedreht”, sagte er, „Versucht hat er es.”
„Ist das wirklich dasselbe?”
„Zweifelst du an der Pressform?”
„War sie wirklich so stark wie ein Motivationsimperativ? Hätte sich Zo'or nicht einfach anders entscheiden können?”
„Hätte sich Bob Morovsky nicht einfach entscheiden können, die Anwaltssekretärin und mich nicht zu erschießen? Nein, er stand unter der Wirkung des Atavusgemeinwesens, er war den Atavus gegenüber loyal - und Zo'or stand unter der Wirkung des Taelongemeinwesens.”
Zorita ließ die Konservendose fallen. „Du siehst das so.”
„Ich weiß es, Zoriel. Ohne den Druck des Taelongemeinwesens hat sich Zo'or so sehr entwickelt, und ich war dabei.” Er schmunzelte. „Weißt du noch, wie Zo'or das Kleinkind Ariel überaus geduldig gefüttert hat? Weißt du noch, wie Zo'or das Fieber des neugeborenen Cedrik gekühlt hat? Weißt du noch, wie Zo'or im Marquette-Haus ein und aus ging, obwohl Vorjak ihn verachtete?”
Ja.”
„Hätte der alte Zo'or das getan?”
Nein.” Sie setzte sich kurzerhand in die Wiese und seufzte ausgiebig, Liam setzte sich neben sie. „Du hast wohl recht”, murmelte sie, „aber es ist dann doch so, dass Zo'or tausend Jahre lang ganz und gar nicht nett war.”
„Und dann war er es plötzlich doch.”
„Plötzlich. Dank dir. Dein Kimeragemeinwesen hat ihn befreit.”
Er schmunzelte. „Gern geschehen. Weißt du noch, wie Zo'or erfahren hat, dass ich der Kimera bin?”
„Oh ja.” Sie grinste. „Fast in Ohnmacht gefallen wäre er.”
„Und dann hat er mir das Leben gerettet.”
„Nur ein bisschen. Eigentlich war es Ronny.”
„Er hat Zo'ors Hilfe dafür gebraucht.”
„Und doch hat Zo'or damals nur geholfen, weil er deine Energie zum Leben brauchte.” Zorita seufzte kurz auf. „Aber vielleicht war das der Beginn seiner Wandlung. Er begriff, dass er nicht mehr alleine steht.”
„Und du stehst auch nicht alleine”, ergänzte Liam, „Niemals.” Er legte einen Arm um sie. „Und glaub mir, du bist ein sehr netter Taelon.”
„Trotz Taelongemeinwesen”, sagte sie nachdenklich, „Naja ... magst du mich nicht vielleicht trotzdem mit dir verbinden?”
„Und Da'an einen Schrecken einjagen?”
„Hm”, machte sie, „lieber nicht, du hast recht.”
Liam tippte mit einem Finger gegen das Tarnmodul und nahm auch selbst seine menschliche Gestalt wieder an. „Sonst alles in Ordnung?” Zorita lehnte sich an ihn. „Nicht?”
„Doch”, sagte sie, „Ich frage mich nur, ob deine Verschmelzung sich ähnlich angefühlt hat wie meine. Sollen wir vergleichen?”
Er grinste schief. „Klar.” Dann legte er seine freie Hand gegen Zoritas und leitete ein Sharing ein. Sofort drangen ihm ihre Erinnerungen an Ariels und Zo'ors Vereinigung entgegen, das Gefühl, plötzlich keine mentale Verbindung zum Kimera zu haben - recht ähnlich hatte sich das Zerbrechen der mentalen Verbindung zu Gren angefühlt - und die mit einem Mal so umfassende Verbindung zu einem anderen Verstand, so überwältigend ... und das Gefühl, körperlich zu sein, die Hitze des Fiebers, der Schwindel, die Mühe, bewusst zu bleiben ...
Liam hatte Zoriels Buch gelesen, aber eine Vorstellung davon hatte er trotzdem nicht gehabt - auch nach seiner eigenen Vereinigung nicht, denn er hatte sich ja nicht mit einem anderen Verstand vereinigt, sondern mit sich selbst.
Und doch, auch das wäre für ihn zuvor völlig unvorstellbar gewesen.

 

Ende Kapitel 3

 

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