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  „Licht” von Veria,   Januar 2018
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Harmonys Verhandlung findet statt, Street macht eine bahnbrechende Entdeckung.
Zeitpunkt:  direkt anschließend
Charaktere:  Ga'hil, Liam, Harmony, Zoriela, Street, Cliffard MacDuff, [Richter Edwards, Alan, Farrell, Aby, Yulyn, Ariel, Yulyn, (Frank, Laurie, Malley, Kaylee, Marty, Bess, Vorjak, Mitchell, Augur, Will)]
 
 

 

LICHT

Kapitel 2: Licht II

 

Die Traube von neugierigen Beobachtern hatte sich aufgelöst, die wenigen Leute in der Nähe guckten nur kurz und beschlossen dann offensichtlich, dass ein Kimera und eine rein menschliche Ärztin in Clearwater zu alltäglich waren. Ga'hil und Louise spazierten gemütlich die Straße entlang, eilig war ja definitiv nichts mehr.
Und jetzt, wo es nicht mehr eilig war, stellte sich der Kimera auch die Frage, warum Zoriel und Louise überhaupt auf dem Rathausdach gewesen waren - aber natürlich wäre es sehr unhöflich, danach zu fragen.
Der Tag war inzwischen so gut wie vorbei, die Sonne schien fast waagerecht nach Clearwater, da war langsam Zeit, sich nach Hause zu verfügen. Louise bog nach dem Rathaus links ab, dort war sie zuhause, während Ga'hil noch etwas geradeaus weiter spazierte und schließlich rechts sein Haus betrat.
„Was ist mit Zoriel?”, wurde er gleich nach der Türe von Farrell überfallen.
„Hat mir nachgeeifert und Materie und Energie getrennt - geht den beiden aber soweit gut.”
„Ah, okay.” Damit schlurfte der junge Kimeramischling zur Treppe und stapfte hinauf.
Liam kam mit einer Kaffeetasse aus der Küche. „Hab gehört, du hast öffentlich die Energiewolke gemacht”, sagte er grinsend, „Wie war es?”
„Klasse”, gab Ga'hil ebenso grinsend zurück und streckte ihm seine Hand hin, das angebotene Sharing wurde angenommen - damit war dem Kimera auch klar, dass in der Tasse tatsächlich Milch mit Honig war, was ausgezeichnet schmeckte. Und Liam war vom übermittelten Gefühl des masselosen Herumschwebens auch angemessen beeindruckt.
Tatsächlich kannte Liam dieses Gefühl aus eigener Erfahrung gar nicht, erst der reine Kimera Ga'hil hatte derart jegliche Form verloren. Ob es einem Hybriden überhaupt möglich war? Dem unechten Hybriden, der Liam derzeit war, gelang es allerdings unter keinen Umständen, er war an die Materie seines Körpers gebunden.

Ga'hil huschte die Treppe hinauf und traf oben auf Aby, die ihm mit Zahnbürste im Mund wilde Grimassen schnitt, und Street (die aus dem anderen Universum), die sich soeben eine sehr lecker riechende Gurkenpampe (nur Knoblauch würde sie noch vervollständigen) ins Gesicht strich.
„Nacht, Dad”, erklang aus Farrells dunklem Zimmer durch einige symmetrische Löcher in der ansonsten schalldichten Türmembrane.
„Nacht, Zwerg”, gab Ga'hil zurück.
„Selber Zwerg”, kam von seinem Sohn.
„Street, seit wann bist du denn da?”, erkundigte sich der Kimera dann, derweil knautschte er sein gänzlich unkimerianisches Yogakissen zurecht - er würde, da er ja derzeit die Gestalt eines Atavus hatte, schon wieder die Nacht über meditieren müssen, anstatt gemütlich zu schlafen. „Noch irgendwelche Erkenntnisse bezüglich Ariel und Ariel?”, fragte er.
„Eure Street hat gemeint, ich soll ganz schnell weit weg von ihr, zur Sicherheit”, sagte die Mathematikerin, während sie den roten Lockenkopf mit Olivenöl massierte, „Wir haben dann per Global noch weitergemacht ... wir glauben, es liegt an der Energie. Je höher das Energielevel ist, umso schneller merkt das Universum von den Doppelgängern.”
„Das heißt?”
„Bei Mabel waren beide ganz normale Menschen. Bei Renee war einerseits eine geringe Menge Körperenergie durch Da'an vorhanden und andererseits das Energielevel durch die Krallen-Nahrungsaufnahme. Bei mir und mir ist bei meinem anderen Ich eine Restmenge Kimeraenergie vom Angriff auf die Atavus-Zentrale da. Und bei Zoriel ein voll ausgebildeter gutgenährter Energiekörper.”
Ga'hil runzelte die Stirn. „So lang wie bei Mabel wird es also nicht mal bei dir und dir dauern, aber länger als bei Renee.”
„Und, nur mal als Annahme, wenn du oder Harmony auf die blöde Idee kommen solltet”, ergänzte Street, „dann hättet ihr bestenfalls Minuten, wegen der multidimensionalen Natur mindestens eines Doppelgängers.”
„Ganz zu schweigen von meinem Energielevel ... tatsächlich ist Zoriels fast nichts dagegen.”
„Das ist in deinem Fall nicht mal relevant”, sie schüttelte den Kopf, den sie soeben in ein Handtuch einwickelte, „Der Liam von drüben ist elfdimensional, das haut einfach gewaltig rein, da ist ... quasi die Direktverbindung zum Universum schon da.”
„Hm.”
„Solltet ihr also lassen”, schloss Street, steckte ihren Handtuchturban fest und grinste breit. „Gute Nacht!” Damit verschwand sie in Harmonys Zimmer und schloss die Türmembrane hinter sich.

„So ein Bettgehritual habe ich noch nie gesehen”, tat Liam von der Treppe kund, „fehlt nur der Knoblauch.” Ga'hil schmunzelte. „Tja, ich habe in weiser Voraussicht meine Zahnbürste nach unten ausgelagert und bin schon bettfertig.”
Aby, inzwischen ohne Zahnbürste, streckte beide Arme aus und griff nach den Händen ihrer beiden Männer. Alle drei, Kimera und beide unechte Hybriden, leiteten sofort ein Sharing ein und grünweiße Energiebahnen schimmerten durch die Fassade des einen und die Haut der anderen.
Liam stapfte dann voran ins Schlafzimmer, zog Aby hinter sich her, die Ga'hil hinter sich herzog, der die Türmembrane schloss. Und dann verlor der Kimera seine Gestalt und die Menschen ihre Kleidung und ihre Bodenhaftung.

* * *

„Morgen!”, grüßte Malley und drückte Ga'hil sofort eine Eistüte in die Hand, „Geht auf mich - dafür, dass du dieses künstliche Gemeinwesen zerstört hast.”
Ga'hil bedankte sich, formte materielle Innereien und schleckte kurz über die Eiskugel. „Du, sag mal, was für eine Sorte ist das denn?”
Malley runzelte die Stirn.„Vanille.”
„Oh”, machte der Kimera, „Tut mir leid, ist wohl nicht mein Ding, solange ich Grens Gestalt habe.”
Jetzt grinste Malley breit und reichte ihm eine weitere Tüte. „Da, Melone, das mögen die Atavus jedenfalls, auch wenn sie von zu viel davon reichlich Bauchweh bekommen.”
„Danke.” Ga'hil reichte das Vanilleeis an Liam weiter und genoss das Meloneneis. „Ich erzähle dir dann genau, was in der Atavus-Kammer passiert, ja?”
„Klasse”, sagte Malley und zeigte den erhobenen Daumen, dann drückte er Aby eine Tüte Erdbeereis in die Hand und winkte ihnen nach, als sie das Rathaus betraten.
„Ich bin selber sehr gespannt, was dort passiert”, gab Liam zu, „Hi, Ari... nein, wie war das nochmal?”
„Zoriela”, half ihm die materielle Zoriel-Hälfte, die wartend vor dem Lift stand, auf die Sprünge, „aber ich geh als Zoriel getarnt hin und Zorita bleibt da.”
„Ah. Sind deine werten Eltern schon weg?”
„Mit Mitch und unserer Street schon dort, ja. Aber ich war bei Mum und Dad frühstücken ... ich meine, dieser Yulyn muss ja anständig sein, dachte ich mir, immerhin sind die drüben schon lange genug zusammen, dass Jarya ganz schön groß geworden ist.”
„Dass er ein Atavus ist stört dich so sehr?”
„Irgendeiner wär ja noch irgendwie okay, aber die Tatsache, dass er Howlyns Sohnemann ist ... Howlyn ist ja der Prototyp von Macho-Arschloch.” Sie schob sich zwischen den Lifttüren hindurch in den kleinen Raum und schlug die Faust gegen die unterste Taste. „Ich bin dann auch hungrig gegangen, als der Kerl aufgekreuzt ist, um seinen Sohn zu begrüßen - hab aber noch mitgekriegt, dass Yulyn da auch ziemlich skeptisch war.”
„Warst du ...?” Liam sprach nicht die volle Frage aus, er zeigte mit einem Finger nach oben Richtung Rathausdach.
Zoriela rollte mit den Augen. „Ja, war schon grübelwürdig das ganze ... ich wollte halt nicht mit dem Prototypen von Macho-Arschloch in einem Stammbaum stecken.”

Aby hielt noch die Türe mit einer Hand offen, von der Straße wetzte Sheriff Kaylee herbei und zwängte sich noch in die Kabine.
„Morgen, Kaylee”, grüßte Ga'hil schmunzelnd, „Du siehst interessant aus.”
Das stimmte definitiv. Schwarze Dreads hatte sie ja schon viele Jahre und die schwarze Haut natürlich ihr ganzes Leben lang, neu war die enge, schwarze Lederkluft mit beachtlichem Ausschnitt, an dem auf der linken Seite, halb auf Haut und halb auf Leder, der Sheriffstern klemmte.
„Das sieht ... Atavus aus”, stellte Zoriela mit karierter Stirn fest.
„Ich hab einen Rudelführer herausgefordert und gewonnen. Ein guter Teil der Clearwater-Atavus ist jetzt mein Rudel - und das muss ich doch wohl irgendwie zeigen, oder?”
Nicht in Kamtschatka!”, sagte Zoriela fest, „Umziehen, Tarnung oder dableiben!”
„Ich komme da eh nicht mit”, sagte Kaylee, „Ich muss nach Washington, Deram fliegt mich.” Sie stemmte die Hände in die Seiten, dass ihre Oberweite noch besser zur Geltung kam. „Die Atavus in Washington haben jetzt ja auch ein paar Rudelführer, und mit denen werde ich reden. Und Licau nehmen wir auch mit, die ist ja auch Rudelführerin.”
„Wo ist sie denn?”, fragte Zoriela, „Sie war nicht daheim in der Nacht.”
Ga'hil runzelte die Stirn. „Vielleicht hatte sie Angst vor Zorita?”
„Mehr als vor mir vor der Trennung? Blödsinn ...”
„Vielleicht ist sie einfach umgezogen?”, warf Kaylee ein, „Sie ist jetzt ja Rudelführerin, da kann man sich schon mal bei einem Untertanen einquartieren, oder? Jedenfalls sollen wir sie bei Cress abholen.” Sie stapfte voraus aus dem Lift in die Höhle mit den Shuttles und winkte ihrer Pilotin zu. „Hi, Deram!”
„Bei Cress”, wiederholte Ga'hil, „Nun, das wundert mich nicht sehr.”
Zoriela nickte ausgiebig. „Ja, der freut sich bestimmt, einen Treffer bei einer zukünftigen Rudelführerin gelandet zu haben. Spätestens wenn die Vaterschaft allgemein bekannt ist, ist er nämlich wichtig.”
„Vorausgesetzt, sie lässt ihn nicht auch fallen”, kam von Aby.
Der Kimera rollte etwas mit den Augen und stieg in ein Shuttle, während das von Deram geflogene Shuttle mit dieser und Kaylee soeben in der Interdimension verschwand. „Dass sie einen Kerl fallenlässt, der einfach so Leute aufspießt und eine üble Verschwörungstheorie strickt, das verstehe ich irgendwie”, sagte er und setzte sich auf einen Passagiersitz - Liam wollte fliegen.
„Sie hat ihn nicht fallengelassen”, wandte Zoriela ein, während sie sich anschnallten, „Sie ist fremdgegangen und wurde dafür rausgeschmissen. Nicht überaus glorreich.”
„Aber so simpel kannst du das nicht abtun, Zalyc hatte ja Unfruchtbarkeitssorgen, da hätte eine Trennung wohl nicht gereicht”, sagte Liam energisch, dann initialisierte er den Antrieb und sprang sogleich in die Interdimension.

Ga'hil befand die neue Variante der Steuerung für recht ungewöhnlich: Einige eigentlich für die linke Hand gedachte holographische Steuerelemente bediente Liam mit rechts, die übrigen mehr so mit der halben Vanilleeistüte. Aber natürlich gelang es problemlos, Liam war eben ein ausgezeichneter Pilot, diese Fähigkeit war keinesfalls auf den Kimera beschränkt.
Während des Fluges wurden sämtliche Eistüten vollständig verspeist und Zorielas Tarnung auf Zoriel eingestellt. Schließlich sprang Liam aus der Interdimension und stellte verdutzt fest, dass ein Fluglotse ihm den Parkplatzeinweiser machte - es standen auch schon acht Shuttles da. Natürlich folgte er dem Lotsen und setzte das Shuttle genau am vorgesehenen Platz auf.
Pilot und Passagiere schnallten sich los, verließen das Shuttle und hasteten durch den Schnee Richtung Höhleneingang.

„Mr. Beckett ... Kincaid ... entschuldigen Sie ...” Ein Soldat stellte sich ihnen in den Weg. „Ich meine, General ...”
„Bleiben wir bei Beckett”, sagte Ga'hil, „Was gibt es?”
„Sie sollten die Kammer nicht betreten, Sir”, erklärte der Soldat, „Nicht alle Ihre Kritiker sind Hybriden.”
„Es geht nicht um uns, es geht um unsere Tochter”, warf Liam ein, „und wir werden keinesfalls bei ihrer Verhandlung eingreifen.”
„Wie Sie meinen.” Damit ließ der Soldat die Gruppe vorbei.

Der Richter lehnte neben dem Portal an der Höhlenwand, ein Stück rechts von ihm standen Harmony und ihr schnurrbärtiger Anwalt Cliffard MacDuff. Die Anklage war auf den ersten Blick nicht zu sehen, auf den zweiten fand Ga'hil die beiden Anwälte in den Reihen der Zuschauer. Die Neuankömmlinge nahmen ebenfalls auf den Klappbänken Platz, nämlich neben Alan Petersen und vor Ron.
„Also gut, es sind alle da”, sagte Richter Edwards, „Miss Beckett, bitte entkräftigen Sie also die Anklage, wenn Sie es können.”
Harmony lächelte ihren Anwalt an, dann den Richter, dann die Zuschauer, dann setzte sie sich in Bewegung und hockte knapp neben dem Energiepool nieder. Ihre Fassade flackerte und löste sich auf, in ihren Händen begann es hell zu glühen.

Ga'hil hatte so etwas noch nie gesehen! Seine Tochter war ein Wesen aus purem Licht und aus tausend Farben. Vage erschien im Licht eine Gestalt, die schnell deutlicher wurde - dann eine zweite Gestalt ... genau so hatte sie auch den Kimera gerettet, aber gesehen hatte er davon damals nichts.

Harmony festigte ihre Fassade und atmete tief durch - die beiden Atavushybriden fuhren ihre Krallen aus und sahen sich alarmiert um.
Richter Edwards zeigte seine Krallen, die beiden Hybriden entspannten sich. „Die beiden leben”, stellte er dann fest, „aber es waren fünf!”
„Die anderen drei sind da drüben”, Harmony wies neben ihn, „aber ich würde mich noch erst gerne ein paar Minuten ausruhen.”
„Also gut”, sagte er, „Gerichtsdiener, verwahren Sie die Wiederbelebten bitte.” Die Gerichtsdiener und die Wiederbelebten gehorchten - letztere vermutlich, weil sie eine Atavusherrschaft vermuteten.
Harmony erholte sich schnell von der Anstrengung und wiederholte sie vier Meter von der vorigen Position entfernt fast noch eindrucksvoller. Nein, wirklich noch eindrucksvoller, denn diesmal waren es drei Hybriden, die sie aus der Interdimension holte.
Der Richter gab den Gerichtsdienern einen Wink und klopfte dann mit seinem Hammer auf den Klapptisch vor sich. „Die Klage ist abgewiesen - Mord bedingt Tote, die es hier nicht gibt. Auch versuchter Mord kommt nicht in Frage, denn die Angeklagte hat die Betroffenen bewusst nicht getötet, wenngleich sie als Kimera dazu zweifellos in der Lage gewesen wäre.”
Prompt brachen die Zuschauer in Jubel aus, Richter Edwards reichte Harmony seine Hand und zog sie vom Boden hoch. „Miss Beckett, ich bedaure die vorigen Umstände außerordentlich”, sagte er, „Ich glaube, es ist das klügste für mich, meinen Beruf aufzugeben und etwas ... weniger Bedeutendes zu tun.”
„Das ist nicht meine Entscheidung”, sagte sie, „und nicht Ihre Schuld.” Sie nickte ihm höflich zu und kam dann zu ihrer Familie, um sich einige sehr überfällige, wenngleich in der Öffentlichkeit lieber recht flüchtige Umarmungen ohne Sharing abzuholen.

* * *

Harmony zog den aus ihrer Fassade gebildeten dicken Mantel enger um ihre Schultern und heizte ihre Energiebahnen an. Dort drin war ihr gerade viel zu viel los, und solange ihre beiden Väter genug Aufmerksamkeit auf sich konzentrierten, um ihre Abwesenheit zu decken, blieb sie einfach alleine hier heraußen stehen.
Nicht dass die Menschen ihr einfach so folgen konnten, es war bitterkalt und ohne Energiebahnen war das schlicht nicht besonders lange auszuhalten.
„Hi.”
Harmony wandte sich um und musterte Alan. „Hi.”
„So viel war wohl damals nicht dran, Harmony, dass du mir nichts davon gesagt hast, wer du bist”, bemerkte er, „Etwas enttäuscht bin ich schon.”
„Ich hatte nur das Recht zur halben Entscheidung, Alan”, seufzte Harmony, „und einfach war das mit der Zweitidentität nicht gerade.” Sie versuchte ein Lächeln und blickte auf seine dünne Windjacke. „Dir ist nicht kalt?” Er schüttelte den Kopf, blaue Linien schimmerten durch seine dunkle Haut - er hatte ja auch Energiebahnen. „Okay. Alan, es tut mir leid.”
„Toll!”
„Ja?” Sie zog die Brauen hoch. „Was willst du hören?”
„Ich habe keinen blassen Schimmer, Harmony”, brummte er, „Es passiert mir nicht alle Tage, dass sich eine alte Freundin als Kimera entpuppt.”
„Toll!” Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und starrte in den Schnee. „Alan, ich war immer ebenso Mensch wie Kimera. Ich habe dich echt nicht fallenlassen, weil es die Geheimhaltung gestört hätte oder so. Wir haben nur einfach nicht mehr zusammengepasst ... ich meine ... wie es bei normalmenschlichen Trennungen eben so ist.”
„Das meinte ich jetzt gar ni...”
Harmony rollte mit den Augen. „Klar meintest du das, und es ändert nichts, dass meine Identität jetzt offen ist.” Alan runzelte die Stirn und zögerte kurz, dann ergriff er förmlich die Flucht und kehrte an Cliffard MacDuff vorbei in die Atavuskammer zurück. Harmony wandte sich ihrem Anwalt zu. „Wie lange ist die Schlange der Leute, die mit mir alleine reden wollen?”
Er trat einige Schritte näher. „Nur ich noch.”
„Und warum?”
„Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich gerne geholfen habe”, sagte er, „wenn ich bedenke, was ich Ihnen und Ihrem Vater alles verdanke.” Er umschlang sich mit den Armen und klapperte kurz hörbar mit den Zähnen. „Ich gebe zu, das klingt ziemlich nach einem gewöhnlichen Fan ...”
Harmony zog die Stirn in Karos. „Schon”, murmelte sie, „aber das sind Sie nicht! Ich ... kenne Sie!”
„Damals war meine Oberlippe blank und mein Verstand alkoholgetränkt.”
Sie überlegte kurz und schnippte dann mit den Fingern. „Abschlussball! Sie haben bei uns übernachtet, weil Sie stockbesoffen keine Adresse aussprechen konnten.”
„Und das hat mir wohl meinen Hals gerettet”, bestätigte Cliffard, „Ein Jahr später habe ich an meiner Schwester gesehen, wie das ohne Deckung ausgeht. Rausgeworfen von meiner Mutter, Schichtarbeit im 24-Stunden-Markt und einen prügelnden Ehemann.” Harmony verzog das Gesicht. „Und vier Kinder”, fuhr er fort, „Mandy, Britney, Suzie und Ken ...”
„Autsch.”
„Ken ist der Ärmste, auch wenn er es in seinem Alter noch nicht weiß. Wie muss man sich fühlen, wenn man Ken Chen heißt ...”
„Das kann man ja verbessern - Kenny Chen klingt nicht so übel”, widersprach Harmony, „Ich muss mich übrigens schämen, dass ich Sie nicht erkannt habe. Aber Dad hat Sie auch nicht erkannt, das zu meiner Verteidigung.”
„Was ein Schnauzer alles anrichtet ...” Cliffard bibberte inzwischen deutlich.
„Ja, der wird es wohl sein.” Sie grinste. „Ihnen ist kalt, Sie sollten hineingehen.” Er rieb seine klammen Hände und nickte, gemeinsam kehrten sie in die Atavuskammer zurück. „Mr. MacDuff ... Cliffard - ist Ihnen Cliffard recht?”
„Ist Ihnen Harmony recht?”
Sie nickte. „Ist recht, ja.” Sie löste die dicke Jacke in Energiefetzen auf und grinste schief. „Also wurde trotz Marillenbrand - war doch Marillenbrand? - etwas Ordentliches aus Ihnen.”
„Todds Marillenbrand, ja.”
„Warum Jus?”, fragte sie, „Damals hatten Sie es eher mit Astrophysik. Und Sie kannten sich durchaus aus - und das trotz Marillenbrand!”
Cliffard zog überrascht die Brauen hoch. „Das wissen Sie noch?”, fragte er und rieb seine blauroten Hände, „Ich hatte es fast vergessen. Und so viel wusste ich bestimmt auch wieder nicht.” Harmony musterte ihn und legte den Kopf schief. „Jus war ein sicherer Treffer”, erklärte Cliffard, „Astrophysik war überfüllt und absolut in Mode.”
„Okay ...”
„Vermutlich spannender als ein Semester nach dem anderen nur immer Juristensprech zu zerpflücken.”
„Vermutlich, ja. Ich hatte nicht so viel damit zu tun, aber gestreift habe ich die Astrophysik bei meiner Pilotenausbildung schon.” Sie runzelte ihre Stirn, als Richter Edwards eine Kralle in Mensch-Dads Schulter bohrte und dieser darauf nur grinste, denn die Verletzung heilte dank der Kimeraenergie bereits. „Die Snackbar hat wohl eröffnet ...”, bemerkte Harmony trocken.
Cliffard sah sich kurz um und fragte dann: „Wo denn?”
Sie verkniff sich das Grinsen und neigte knapp den Kopf in Richtung ihres Vaters. „Leider nur für Krallenbesitzer - Kimeraenergie.”
„Ah.”
Sie ließ ihren Blick auch schweifen und runzelte die Stirn. „Wo sind denn die ganzen Kameras hin? Raus sind sie nicht ...” Cliffard deutete ein Schulterzucken an, worauf die Kimera sich jemanden suchte, der diese Frage beantworten konnte. „Aby? Wo sind die Fernsehleute alle hin?”
„Die Portalkontrollen funktionieren wieder”, sagte Aby, „Liam wusste von Howlyn das Kennwort und wer jetzt noch hier ist, zeichnet nichts auf. Also heißt es Party!”
„Ja ... schöne Party ...” Harmony sah sich kritisch um. Nach einer Party sah das nicht aus, die Gesellschaft verhielt sich gesammelt recht zurückhaltend, geradezu schüchtern. Nur Dad und Dad und Alan sowie Ronny und Zoriel unterhielten sich angeregt. „Hmm.”
An Zoriel war etwas merkwürdig - ihre Ausstrahlung fehlte. Dad konnte das auch spüren, dessen war sich Harmony sicher, aber er ignorierte es und plauderte angeregt mit der vereinigten Atavus.
„Ich rede da mal mit”, tat Aby kund und gesellte sich zur Gruppe. Damit waren Harmony und Cliffard wieder allein.

Der Anwalt strich sich mit den Fingern über seinen Schnurrbart. „Darf ich Sie etwas fragen?”
Sie nickte. „Nur zu.”
„Sie haben eine ... Doppelgängerin, nicht wahr? Per Jaridiantarnvorrichtung, meine ich.”
„Ja, sie ist sehr fähig darin und selbst auch Pilotin. Dad hatte sogar nicht nur ein Tarndouble.”
„Hatten Ihre Doubles viel zu tun?”, überlegte Cliffard, „Und wie haben Sie es geschafft, dass die Doubles sich immer richtig verhielten? Ich meine ...” Er kratzte sich einen Augenblick lang am Kopf und beantwortete seine Frage dann selbst: „Sharing, richtig?”
„Ja, das ist richtig. Wir haben die Erinnerungen mit den Doubles im Schnelldurchlauf ausgetauscht.”
„Hmm.”
Harmony musterte Cliffard, worüber dachte er nach? Es musste jedenfalls ein großer Gedanke sein, so lange, wie er dafür brauchte. „Ich werde nicht sagen, wer die Doubles sind”, schoss die Kimera ins Blaue.
Cliffard blickte verdutzt auf und sagte dann: „Ah, nein, das meine ich gar nicht. Ich habe nur überlegt, ob ich Sie bitten kann, nicht mit Ihrer Familie zurückzufliegen, sondern eventuell in dem Shuttle ... in dem auch ich sitze. Also, dass Sie es fliegen ...”
„Cliffard, Sie wollen doch nicht ernsthaft das glückliche Familienleben hinauszögern”, tadelte sie ihn grinsend, „Fliegen Sie doch einfach mal mit den Shuttlelines, wie wäre das?”
Er runzelte die Stirn und bemerkte dann: „Zweifellos verkauft sich eine Kimerapilotin im Shuttle prächtig. Ich werde es erwägen - ich war ohnehin noch nie auf Jaridia.”

„Harmony?” Zoriel kam zu den beiden und grinste fröhlich. „Alles klar hier?”
„Klar.” Eigentlich wollte die Kimera liebend gerne fragen, wohin die energetische Ausstrahlung verschwunden war, aber vor Cliffard konnte sie das definitiv nicht tun. Also fragte sie stattdessen: „Was hat Ronny so gesagt?”
Die Atavus zog ihr Grinsen in die Breite. „Über die knastischen Kochkünste hat er sich beschwert - und darüber, dass er sich damit sogar vollgestopft hat, weil er im anderen Universum fast verhungert wäre. Der Arme.”
„Klingt ja nicht sehr mitleidig”, stellte die Kimera fest und fragte dann: „Inwiefern denn fast verhungert?”
„Er hat irgendetwas von gelben Pillen und Ketokörpern gefaselt, dann eine Schiffsladung biochemischer Formeln nachgelegt und mir schließlich erzählt, dass die nicht mal ein Klo für ihn hatten. Und ich durfte dabei noch nicht mal lachen!”
„Mein Beileid.”
„Danke. Es ist ja nicht so, als würde ich bezweifeln, dass das wirklich schlimm war, aber so wie er das erzählt ...” Zoriel fuhr durch ihre Haare und blickte zu Cliffard. „Und Sie? Schon darauf vorbereitet, berühmt zu sein?”
Er zuckte mit den Schultern. „Ach, ich rasiere einfach den Schnauzer ab, dann erkennt mich keiner mehr - hat in die andere Richtung ja auch funktioniert.”
„Tut mir leid, aber ohne Brille funktioniert das nicht, Clark”, sagte Zoriel, bevor sie sichtbar stutzte, dann die Stirn runzelte und Cliffard tief in die Augen sah. „Okay, woher kenne ich Sie?”
„Aus der Schule”, erklärte Harmony, „Du, also Zo'or, hast unter dem Tanztrampel gelitten, und da musste ich in der Nähe sein, also habe ich eilig Cliffard aufgefordert.”
„Cool, ich verdanke Zo'or mein Leben!”, stellte dieser überrascht fest, „Also ... metaphorisch gesprochen.” Zoriel hob irritiert eine Braue. „Ohne Übernachtung im Haus des Generals ... Kimera ..., äh, hätte meine Mutter mich auf die Straße gesetzt.”
„Er war stockbesoffen”, ergänzte Harmony mehr oder weniger hilfsbereit.
„Ah”, machte Zoriel, dann wandte sie sich wieder Cliffard zu und erklärte ihm: „Das war die letzte vollständige Nacht in Zo'ors und Ariels leben - eine Nacht drauf gab es ... mich.”
Harmony runzelte die Stirn, Zoriels Zögern war wie ein riesiges Schild, das die Kimera trotzdem nicht lesen konnte. Vermutlich stand sie einfach nur gewaltig auf der Leitung.
„Ich weiß ... also, aus Ihrem Buch”, sagte Cliffard, „Ich fand das Kapitel sehr eindrucksvoll.” Zoriel rollte mit den Augen. „Nicht, dass die anderen Kapitel schlecht wären”, beeilte sich Cliffard zu sagen, „es ist nur, dass es kaum etwas Vergleichbares gibt ...”
„Schon okay ...”, brummte sie, „Das sagen halt alle. Sogar die anderen vereinigten Atavus.” Liam legte ihr von hinten beide Hände auf die Schultern. Die Atavus wandte sich um. „Oh, hi!”
„Wir beenden das hier mal langsam”, sagte er, „Es gibt schließlich noch nur zwei von drei Gründen zum Feiern - Vater muss wieder zurück ins Gefängnis.”
„Ernsthaft?”
„Naja, sein Richter hat die Krallen gezeigt und angekündigt, dass das keine große Sache mehr ist. Aber davon wissen wir nichts, das ist ganz inoffiziell!”
Harmony grinste schief. „Ich habe nichts gehört.” Sie wandte sich Cliffard zu und sagte: „Also dann. Ich hoffe, wir begegnen uns wieder.”
Er nickte und versprach: „Definitiv.”

Danach begann die große Aufbruchshektik - und Harmony durfte schließlich das Shuttle fliegen, weil sie nach all der Zeit im Gefängnis sehr energisch darauf bestand, endlich wieder Pilotin sein zu dürfen.
Als das Shuttle dann hoch in der Luft war, räusperte sich Zoriel. „Du hast gespürt, dass an mir etwas anders ist, ja?”
„Ja, du bist deiner Ausstrahlung verlustig gegangen”, sagte Harmony, „Wie?”
„Die Anti-Mabel-Nummer hat mich in Materie und Energie gespalten. Ich hier bin der materielle Teil, Zoriela. Zorita ist zuhause.”
„Ah”, machte die Kimera und wandte sich kurz um - und staunte, denn Zoriela sah im Grunde aus wie Zoriel, nur waren ihre Haare rot und ihre Haut nicht so grau. „Du bist noch unechte Atavushybridin”, stellte Harmony fest.
„So irgendwie, ja. Ich weiß noch nicht, ob meine Verdauung funktioniert, hab noch keinen besonderen Hunger gehabt.” Einen Moment zögerte Zoriela, dann zog sie ihre Mundwinkel zu einem Grinsen. „Außerdem habe ich gestern Abend noch von Zorita und Damien einen ganz ordentlichen Schwall Energie bekommen.”
„Ah”, machte Harmony und wandte sich wieder der Steuerung zu. Der Kurs folgte dem Gravitationsgradienten, es gab keine Störungen und keinerlei Probleme. „Wie war die Spaltung?”
„Zorita war kurz ein getrennter Atavus”, sagte Zoriela, „und hätte fast Lou aufgefressen. Ga'hil war rechtzeitig da.”
„Ich bin ausnahmsweise mal außen rum aufs Rathausdach rauf, statt runter”, ergänzte der Kimera.
Wieder wandte Harmony sich um, jetzt starrte sie ihren Vater an. „Wie?”
„Geschwebt. Als Energiewolke.”
Grüncool!”
Er schmunzelte. „Das muss wohl wirklich sehr sehr cool sein, denn das Wort hört man von dir nicht oft. Aber ich gebe das gerne zurück: Deine Aktion in der Atavuskammer war gleich doppelt grüncool.”
„Äh ... ja.” Harmony kümmerte sich verlegen wieder um das Shuttle und korrigierte den Kurs etwas, dass sie schließlich die Interdimension in der Höhle unter Clearwater verlassen konnte. Sanft setzte sie das Shuttle auf und stieg aus. „Und jetzt was Süßes in der Kochmütze.”
„Gute Idee”, sagte Zoriela, „Lauries Pudding ... ahja, da könnt ich schon was vertragen.”
„Aber ob du ihn auch verdauen kannst?” Harmony tippte auf die Lift-Taste und lehnte sich an den bloßen Fels daneben. „Hab ich außer deiner Aufspaltung noch etwas verpasst?”, fragte sie dann, „Was ist mit den Atavus im Gemeinwesen passiert?”
„Ich habe das Atavus-Gemeinwesen zerbrochen”, kam von Kimera-Dad, „indem ich die Signalgeber durch Resonanz zerstört habe. Das hast du gespürt, ich war ziemlich präsent.”
„Und dann plötzlich weg, als Ma'els Signalgeber kaputt war.”
„Richtig. Kaylee hat Howlyn auf die Matte gelegt und ist jetzt Rudelführerin in Clearwater.”
„Also, eine Rudelführerin”, ergänzte Mensch-Dad, „Licau ist auch eine Rudelführerin.”
Harmony schmunzelte. „Gut so. Licau ist ganz nett.” Sie betrat den Lift, die anderen stellten sich dazu, Aby drückte den Knopf. „Im Gefängnis war nicht so viel los. Und das Essen war so grässlich, dass ich die materielle Nahrungsaufnahme einfach mal eingestellt hab.”

„Und dann steckt dein Energielevel noch die Wiederbelebung weg”, staunte Zoriela.

„Harmonys Energielevel ist immens”, sagte der Kimera, „aber ... tatsächlich ist es jetzt merkbar niedriger als vor den Wiederbelebungen, das muss wirklich viel Energie brauchen.”
„Tut es.” Harmony schlüpfte aus dem Lift und marschierte weiter Richtung Ausgang. „Naja, der Nexus braucht die Energie. Den Konnektor in Form zu zupfen braucht eher Konzentration, sonst kommt am Ende was Spiegelverkehrtes raus oder ich bilde auf die falschen Dimensionen ab oder so.”
„Spiegelverkehrt ...” Zoriela runzelte die Stirn zu Karos. „Aber stimmt ja! Das ist dann ja eine einfache Rotation, wenn du mehr Dimensionen hast.” Sie strahlte zufrieden.
„Ich kann einen Ball umkrempeln, ohne ihn kaputt zu machen”, sagte Harmony, „das können sonst nur Mathematiker - aber die nur im Modell.” Sie fiel in einen flotten Laufschritt und folgte der Hauptstraße bis zur Kochmütze, wo sie mit Zoriela kaum später ankam.

Dad, Dad und Aby waren allerdings nach Hause gegangen.

„Hi ihr”, grüßte Laurie, „Schön, dass du freigesprochen wurdest, Harmony.”
„Finde ich auch. Was hast du denn für süßes Zeug? Zoriela will Pudding, aber ich hätte lieber irgendwas Kuchenartiges ...”
„Bananen-Schoko-Torte. Ich hol euch was, setzt euch hin.”
Zoriela sah der Köchin nach und seufzte. „Bananen-Schoko-Torte klingt auch lecker! Aber jetzt will ich Pudding.” Sie griff nach Harmonys Arm und zog die Kimera bis ins Hinterzimmer mit, wo sie zwei weitere Gäste antrafen - Ariel und Yulyn waren da. Zoriela zuckte etwas zurück, aber nach einem Moment straffte sie sich und nahm am anderen Ende des Tisches Platz.
Ariel musterte ihr anderes Ich quer über den Tisch kurz, dann sagte sie: „Die Leute hatten Recht, du siehst immer noch sehr nach Atavus aus.”
„Ich sehe nicht nur so aus.” Zoriela zeigte kurz vier weiß leuchtende Krallen an ihrer rechten Hand. „Jetzt teste ich mal, was meine Verdauung so macht.”
Yulyn verzog das Gesicht. „Sei vorsichtig. Iss nur ganz wenig, sonst kommt alles wieder raus.”
„Nein nein, ich will ja wissen, ob ich die Atavus-Verdauung oder die Jaridian-Verdauung habe. Da muss ich es einmal wohl einfach riskieren.” Sie atmete tief durch und fuhr sich mit den Händen über Stirn und Haare. „Die Haarfarbe ist nicht ganz die gleiche”, sagte sie dann, „Ariel, deine Haare sind irgendwie nicht so rot wie meine. Als ich noch Zoriel war, wusste ich gar nicht mehr, wie rot Ariels Haare hier damals waren ...”
„Ja. Daran sieht man wohl, dass ich Frank als zweiten Vater habe.” Ariel berührte ihre Stirn. „Gleich nach der Geburt habe ich sogar ganz menschlich ausgesehen, getigert wurde ich erst nach ein paar Monaten.”
„Und das kam Dad nicht irgendwie komisch vor?”
„Vielleicht. Aber ich kannte ihn nicht wirklich, er ist ja nach einem Jahr schon gestorben.” Sie seufzte. „Oder auch nicht, wegen der Atavus-Kapsel und Liam und so.”
„Er lebt”, sagte Harmony, „dessen bin ich mir sicher.”
„Ehrlich gesagt ... ich weiß nicht, ob ich ihn kennenlernen wollen würde”, gab Ariel zu, „Ich meine, Gehirnwäsche! Und er hat geplant, die Erde zu zerstören!” Sie sah zu Zoriela. „Es unterscheiden sich er und dein Vater wohl ebenso wie Renee und Renee oder Ron und der Eisklotz.”
Zoriela blickte auf, als Laurie aus der Küche kam und zwei Teller abstellte. „Hast du viel zu tun oder magst du dich auch hersetzen?”
„Ga'hil hat mir meine Küchenhilfe geklaut”, nörgelte Laurie, „Gren war echt brauchbar und jetzt liegt er in seinem Kokon oben.” Sie ließ sich auf die Sitzbank fallen. „Aber jetzt mache ich trotzdem mal Pause, basta. Ist ja nicht so, als wäre die Bude gerade voll - die Vorbereitung kann ich später auch noch machen.”
„Was bereitest du da vor?”
„Na für die Party, wenn morgen auch Ronny aus dem Knast ist.”
„Ihm wird gefallen”, sagte Zoriela grinsend, „dass er endlich wieder etwas Ordentliches zu essen kriegt. Nachdem er im anderen Universum fast verhungert wäre und hier nur Knastfutter bekommen hat.”
Ariel rollte mit den Augen. „Die Geschichte mit den gelben Pillen? Das ist doch schon Wochen her ...”
„Na wie auch immer ...” Harmony stach ihre Gabel in den Kuchen. „Das Knastfutter ist jedenfalls wirklich grässlich, das kann ich bestätigen.” Sie aß einen Bissen und hob die Brauen. „Das ist gut - warum behältst du den Kuchen nicht auf morgen auf?”
Laurie seufzte. „Hätte ich ... aber Chris hat die Torte kurzerhand zum Frühstück angeschnitten, der verwöhnte Bengel. Aber was soll ich machen? Er ist mein Neffe und Vollwaise und da kann ich doch nicht sehr schimpfen. Und Dad schimpft erst recht nicht.”
„Hat es dich geschockt, dass Morena Caldwell deine Halbschwester war?”, fragte die Kimera.
„Nein. Geschockt hat mich, dass sie ermordet worden ist.” Die Köchin sah zu Yulyn. „Von den erweckten Atavus hier - die haben vor ein paar Monaten die planetare Verteidigung und die mächtigsten Konzernchefs niedergekegelt.”
Der Atavus nickte. „Davon habe ich gehört.”
„Chris ist jetzt steinreich, oder?”, fragte Zoriela, den Mund voll Pudding.
Lauries Blick nahm eine entsetzte Qualität an. „Sag das nicht zu laut! Sonst meint er noch, er könnte sich bedienen lassen.”
„Hey!” Frank streckte den Kopf aus der Küchentür. „Was macht ihr denn alle hier?”
„Essen”, sagte Harmony und reckte ihre Gabel samt etwas Kuchen darauf hoch. Zoriela grinste breit.
„Okay, eigentlich meinte ich Ariel ...”
Die genannte grinste verlegen. „Ich habe auf dich gewartet.”
„Warum?”, fragte Frank perplex.
„Ich habe überlegt, wer wohl der andere Frank ist”, murmelte sie, „aber niemand kennt ihn wirklich.”
„Ich auch nicht.”
„Aber mehr als jeder sonst!”
Frank trat näher und schüttelte energisch den Kopf. „Nein! So wenig, wie Renee die Atavus-Hybridin kannte! Ich weiß nicht, wer der andere Frank jetzt ist.” Er setzte sich. „Der einzige hier, der sein anderes Ich kennt, ist er”, er wies auf Yulyn, „und das nur, weil er hier noch in Stasis ist.”
„Ach, Street und Street scheinen sich sehr ähnlich zu sein”, warf Harmony ein, „aber es stimmt schon, damit sind sie eine Ausnahme.”
Zoriela legte den Löffel auf ihren inzwischen leeren Teller und lehnte sich zurück. „Yulyn ... wie ähnlich sind sich Howlyn und Howlyn?”, fragte sie.
Der Atavus sah sie verdutzt an. „Warum fragst du?”
Antworte!”
Er sah sie auf diesen Ausbruch etwas erschrocken an, gehorchte aber. „Also ... viel Unterschied sehe ich nicht”, sagte er, „Mein Vater war aber sogar noch aggressiver, noch ... übler. Liegt das am Gemeinwesen?”
„Vielleicht ...” Sie sah ihn durchdringend an. „Ich glaube es nicht. Ich glaube, hier hält er nur den Kopf unten, weil Ga'hil ihm überlegen ist!” Energisch stand sie auf. „Er ist ein Arschloch! Das ist er!”
„Nochmal Pudding?”, warf Laurie ein, „Du klingst, als könntest du ihn brauchen. Ich weiß nicht, was der Kerl in seiner Zentrale alles angestellt hat, aber es war sicher nicht einfach, da nur zusehen zu können, ohne aufzufliegen!”
Zoriela atmete tief durch und setzte sich wieder. „Nein, war es nicht. Nein ...” Sie biss die Zähne zusammen und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Und dann, als ich etwas tun konnte ... musste ich mit ihm flirten”, sie verzog das Gesicht, „aber wenigstens ging das wie von selbst.”
„Kann ich mir vorstellen. Der steigt jeder Frau nach. Zuletzt ja Kaylee.”
Harmony blinzelte verdutzt. „Ach das hat Dad gemeint ... auf die Matte legen, soso.”
„Hat er nicht gemeint”, korrigierte Frank, „Kaylee hat sich mit Howlyn geprügelt und gewonnen.”
„Oh.”
Zoriela rollte ausgiebig mit den Augen und stand auf. „Ich gehe mal besser heim, Zorita zeigen, wie die Verhandlung gelaufen ist”, sagte sie dann, „Danke für den Pudding, Laurie, der war wieder mal klasse.” Sie stieg auf die Sitzbank, zwängte sich hinter Laurie und Frank durch und huschte dann aus dem Hinterzimmer der Kochmütze. Harmony und Ariel winkten knapp.
Yulyn starrte ihr nach und runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
„Tja, ich sollte die nächste Torte backen”, ergriff Laurie das Wort, „Dad, du hältst Chris dann davon ab, die auch noch vorzeitig anzuschneiden.” Frank verzog das Gesicht und griff sich an den Kopf, wobei er versehentlich am Toupet ruckelte. Kaum später hatte seine Tochter Zorielas Sitzbankmanöver nachgemacht und verschwand in der Küche.
„Ich finde es schade, dass ich nur immer drei Bissen essen kann”, sagte Yulyn, „Schmecken tut es nämlich sehr.”
Ein Schrei von Ariel schreckte ihn, Harmony und Frank auf und rief auch Laurie aus der Küche wieder herbei. Die Jaridianhybridin verschwand teilweise, tauchte wieder auf, das Verschwinden zog über ihren Körper, als wäre er nur halb da. Der Anfall dauerte nur wenige Augenblicke, danach ließ Ariel ihren Kopf auf die Tischplatte fallen und knurrte: „Ich will zurück! Das tut scheißweh und das ist schon der dritte Anfall!”
„Ariel, es ist nicht mehr lange ...”
„Wie lange, bis du Anfälle kriegst, Yulyn?”, fragte sie, „Welche Wirkung hat das auf den Yulyn in Stasis?”
Harmony schob ihren inzwischen leeren Teller von sich und musterte den Atavus, nicht in vier, sondern in elf Dimensionen. Da war eine dimensionale Resonanz, allerdings schwach - die Kimera sah zu Ariel, die hingegen in fast voller Resonanz schwang. „Es dauert noch”, sagte sie, „aber ich kann nicht einschätzen, wie lange.”
„Vielleicht mag ja Zoriela hinüber ins andere Universum”, schlug Frank vor, „Sie kriegt die Party dann ja über Zoritas Erinnerungen mit, spätestens, wenn die beiden wieder verschmelzen.”
„Und den hiesigen Yulyn können wir ja wecken”, ergänzte Harmony, „dann ist er ganz außer Gefahr, auch wenn die Anfälle wehtun.” Sie straffte sich. „Yulyn, wenn du mir sagst, wo seine Kapsel ist, kann ich mich gleich darum kümmern.”
Er runzelte die Stirn, nickte knapp und zückte sein Global. Ein sehr altes Global, mindestens 25 Jahre, aber es konnte problemlos Daten an Harmonys Global übertragen.
„Gut, danke. Dann kümmere ich mich gleich darum.” Die Kimera stand auf, verabschiedete sich und lief aus der Kochmütze. „Dad”, verlangte sie von ihrem Global, wenige Sekunden später war die Verbindung hergestellt.
„Harmony? Was gibt es?” Ihr menschlicher Vater war dran.
„Ariel macht sich Sorgen, dass es, wenn Yulyn Anfälle kriegt, dem Yulyn in Stasis schaden könnte”, sagte sie, „drum würde ich den jetzt holen. Einwände?”
„Keine. Brauchst du noch jemanden?”
Sie überlegte kurz. „Farrell könnte mich begleiten.”
„Ja?”, erklang die begeisterte Stimme ihres Bruders aus dem Off, „Ich bin gleich beim Rathaus!”

* * *

Der Eingang zur Kammer, in der Yulyn schlief, war gut versteckt. Die Sensoren des Shuttles fanden ihn erst, als Harmony in unmittelbarer Nähe gelandet war, dann konnte sie das virtuelle Glas und das Hologramm allerdings selbst auch sehen - Farrell natürlich nicht, er war nicht elfdimensional.
Hindurch zu kommen gestaltete sich nur wenig schwieriger: Yulyn hatte nicht nur die Koordinaten, sondern auch einen Zugangscode übermittelt, damit konnte Harmony den Eingang öffnen.
Im selben Augenblick wurde die Wecksequenz automatisch gestartet.
„Farrell, bleib hinter mir”, murmelte Harmony, während sie langsam in die Höhle vordrang. Es gab ein verziertes Fenster, durch das allerdings nur holographisches Sonnenlicht schien, außerdem war aus der Höhlenwand an einigen Stellen eine Art Säule geschlagen.
„Ich muss mich nicht fürchten”, flüsterte Farrell, „Ich habe drüben gegen Ra'jel gekämpft!”
Harmony sah es in seinen Händen weißgolden schimmern. „Wir wollen aber auch nicht bedrohlich wirken”, sagte sie leise, „und Licht ist hier genug.” Farrell ließ sein Shaqarava sofort erlöschen. Harmony wandte sich nach rechts, als dort ein Atavus zwischen zwei Felsen hervorsprang ... und sofort angriff.
Und von ihrem Shaqarava getroffen zu Boden ging.
Ein junger Atavus, Teenager, sah ängstlich aus seiner Kapsel heraus - unverkennbar Yulyn, nur eben jünger. Farrell ging an Harmony vorbei und trat langsam näher, das erneut aufgeflackerte Leuchten in seinen Händen verschwand wieder. „Wir tun dir nichts”, sagte er - auf Eunoia in dessen uralter Variante.
Yulyn sah auf seinen gründlich außer Gefecht gesetzten Beschützer und wich zurück.
„Er ist nur bewusstlos!”, sagte Farrell beruhigend.
Und vergiftet, allerdings nicht sehr, denn Harmonys Energie war nur teilweise taelonisch und der kimerianische Anteil wirkte heilend.
Der junge Atavus wirkte noch immer sehr ängstlich, aber er wich nicht weiter zurück. Er musterte den Kimera, der langsam näher zu ihm ging. Harmony unterdessen sah sich unauffällig um, sie hielt sich zurück, sie wollte Yulyn nicht noch mehr verängstigen, als er schon war.
„Weißt du, was ein Kimera ist?”, fragte Farrell.
Der Atavus machte große Augen, zog sich aber nun ganz in seine Kapsel zurück.
„Ich bin ein Hybrid. Zwei Drittel Mensch, ein Drittel Kimera.” Farrell wies auf Harmony. „Das ist meine Halbschwester, sie ist auch noch Taelon und Jaridian. Sie wird dir nichts tun.”
„Aber er ist tot!”, fauchte der Atavus und sah auf seinen Beschützer.
„Ist er nicht! Er wacht gleich wieder auf.”
„Taelonenergie ist giftig!”
„Es gibt ein Heilmittel”, sagte Farrell und trat noch einen Schritt näher. Yulyn rannte nach hinten aus seiner Kapsel und drückte sich in eine Felsnische. „Yulyn!”, rief Farrell ihm nach, was den Atavus nur dazu brachte, sich noch enger und noch ängstlicher in die Nische zu drücken.
„Farrell, das wird so nichts”, stellte Harmony fest, „Trag den Bewusstlosen und geh voraus ins Shuttle.”
„Meinst du?” Farrell sah seine Schwester unsicher an, tat dann aber, was sie sagte.
Harmony ging zu Yulyn und streckte ihm eine Hand hin. „Komm mit”, sagte sie, „Los jetzt!” Er gehorchte, ängstlich und wohl nicht wirklich aus freiem Willen, aber er ließ sich von der Kimera aus der Höhle ziehen.
Als er das Shuttle sah, versuchte er, sich loszureißen, doch sie hielt ihn fest, zerrte ihn hinein und bugsierte ihn auf einen Passagierplatz. Der erwachsene Atavus war schon von Farrell hingesetzt worden, der Kimera saß ebenfalls, also nahm Harmony auf dem Pilotensitz Platz, aktivierte das virtuelle Glas und initialisierte den Antrieb.
„Farrell, würdest du den Bewusstlosen bitte heilen?”, bat sie dann, „Weck ihn am besten auch gleich auf.”
„Mache ich.”
Harmony hob das Shuttle ab und brachte es in die Interdimension, sie setzte den Kurs, richtete ihn sorgfältig am Gravitationsgradienten aus und wandte sich dann um. Der erwachsene Atavus war wach. „Ich hoffe, du greifst mich nicht gleich wieder an”, sagte sie.
„Was bist du?”
„Kimera, Taelon, Jaridian und Mensch.”
Er starrte sie an. „Kimera!”
„Ja. Ich bin ...”, sie runzelte die Stirn und überlegte kurz, „Harmony Jae'yal Beckett Kincaid. Das ist mein voller Name.”
„Dann bin ich Farrell Ni'jeg Beckett Kincaid”, ergänzte Farrell eifrig.
„Du lässt mich leben, Harmony Jae'yal Beckett Kincaid”, stellte der erwachsene Atavus fest, „Wohin bringst du uns?”
Harmony hob ihre Hand in die Steuerung und setzte an, den Kurs so anzupassen, dass sie in der Höhle unter Clearwater landen könnte, dann überlegte sie es sich doch anders und verschob den Kursvektor etwas nach Süden. Über Washington verließ das Shuttle die Interdimension.
„Diese Stadt heißt Washington”, sagte die Kimera, „die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika.”
„Das ist ein Taelon-Gebäude!”
„Das war die Nordamerikanische Taelonbotschaft”, bestätigte sie, „Inzwischen ist sie ein Museum und es gibt eine neue Botschaft - die ist aber in einem von Menschen gebauten Gebäude untergebracht.” Sie sah kurz nach hinten zu ihren staunenden Passagieren. „Es ist allerdings auch keine Taelonbotschaft im engeren Sinne mehr, sondern eine Botschaft des Mars.” Elegant flog sie einen Bogen um das Museum. „Vor dreißig Jahren kamen die Taelons. Sie halfen der Menschheit, aber sie hatten Hintergedanken - es war ein steiniger Weg zum Frieden, aber wir sind angekommen.” Sie folgte dem Potomac River, wobei sie recht niedrig flog. „Oh, und die Jaridians sind auch da”, fuhr sie fort, „Was eure Leute angeht ... die haben sich erst kürzlich sehr aggressiv gezeigt. Aber auch das neigt sich dem Ende zu: Wir haben Howlyn und seine Bande kassiert und die Verbundsignalgeber zerstört.”
„Howlyn!”, platzte Yulyn heraus.
„Genau der, ja.” Harmony brachte das Shuttle wieder in die Interdimension und sagte: „Menschenpiksen ist nicht. Mein Vater stellt zur Ernährung der Atavus Kimeraenergie zur Verfügung.”
„Wohin bringst du uns?”, knurrte der erwachsene Atavus.
„Clearwater, Maryland.” Das Shuttle sprang direkt in die Höhle, bremste ab und setzte auf, Harmony stieg aus und ging zum Lift. Die beiden Atavus sahen sich in der Höhle um - elf Taelon-Shuttles (das zwölfte war offenbar gerade unterwegs) waren durchaus beeindruckend. „Los, kommt!”, rief die Kimera, darauf begaben sie sich zu ihr und betraten mit ihr die Liftkabine. Farrell machte den Schluss und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss.

Sowie sie dort angekommen waren, wetzte Bürgermeister Marty Gonsalves mit vier dicken Mappen unter den Armen vorbei. „Oh, hi, Harmony, Farrell, hi, die neuen”, grüßte er, dann war er in einem Büro verschwunden.
Schritte erklangen die Treppe herunter, dann eilten Ex-Bürgermeisterin Bess und Vorjak in dasselbe Büro, sie schienen die vier aber gar nicht gesehen zu haben.
Musste etwas Wichtiges sein - aber nicht weltbewegend wichtig, denn Harmony spürte keinen ihrer Väter in der Nähe.

Sie ging voraus auf die Straße, die Atavus folgten ihr, Farrell machte wieder den Schluss. Von links kam Street angerannt, eine Bernsteinmelone in den Händen - und über der Kugel schwebte ein riesiges Diagramm in der Luft, unsichtbar für Vierdimensionale, aber nicht für Street und Harmony.
„Street! Halt! Was ist das?”, rief die Kimera überrascht.
„Der Beweis für Bernhofers Hypothese!”
Harmony klappte verdutzt den Mund auf. „Ernsthaft?” Die Mathematikerin nickte heftig und mit einem glücklichen Grinsen bis über beide Ohren. „Äh ... Farrell, bring die beiden doch bitte zu Kural”, sagte die Kimera, „ich muss hier dringend dabei sein.”
„Äh ... ja, okay.”
„Gut.” Sie drehte sich um und stapfte wieder ins Rathaus, Street rannte ihr nach, überholte sie und riss die Tür zum Büro auf, in dem nicht nur jene waren, die Harmony zuvor hineingehen hatte sehen, sondern auch Augur, Will und Mitchell.

Es war wohl doch wichtig.

Harmony spürte kurz nach ihrem Vater und, tatsächlich, er kam näher. Nach nicht einmal einer Minute betrat der Kimera das Büro.
Street unterdessen zeichnete konzentriert das Diagramm auf der wandfüllenden mattweißen Schreibtafel nach.
„Also, Street, was ist so bahnbrechend?”, fragte Ga'hil.
„Das.” Sie wies auf die Bernsteinmelone.
„Die Kugel gibt ein Diagramm aus, Street kopiert es”, sagte Harmony, „Ich gehe an die Interdimension und an alles dahinter zwar eher praktisch orientiert ran, aber so ganz grob habe ich Bernhofers Hypothese auch mitgekriegt.”
Ga'hil runzelte die Stirn seiner Kimerafassade. „Das ist der Schweizer, der ausgelacht wird, weil er meint, der Energieerhaltungssatz gilt nicht, richtig?”
„Das meint er nicht”, warf Street, noch immer eifrig zeichnend, ein, „aber Journalisten lesen meistens nur die Inhaltsangabe eines Papers und verstehen nicht mal die.” Sie sah kurz auf das holographische Diagramm und zeichnete dann weiter.

„Was meint er dann?”

„Bei jeder Quantenentscheidung spaltet sich das Universum”, sagte sie, „das wissen wir ja schon länger. Der Punkt dabei ist, dass das nach strengen Regeln passiert. Während in einem einzelnen Universum die Entropie zunimmt, bleibt sie im Multiversum konstant.”
„Aha ... und das bedeutet was, Street?”
„Naja ...” Sie setzte sich kurzerhand auf den Tisch. „Stell dir einen Baum vor! Der Stamm ist dick, die Äste dünner, die Zweige ganz dünn. Aber wenn du die Äste zusammennimmst, sind sie auch dick, und die Zweige auch. Und in unserem Beispielbaum ist die Gesamtdicke konstant.”
„Ja, kann ich mir vorstellen.”
„Gut. Diese Dicke ist das ... sagen wir mal Potenzial dazu. Das Gegenteil von Entropie.” Sie grinste breit. „Und das Potenzial ist in dem Fall die Anzahl der erreichbaren Zustände des Universums - das wird mit jeder Spaltung weniger.”
„Und alle erreichbaren Zustände werden auch erreicht, nur in verschiedenen Universen.”
„Genau - und das schließt durchaus auch Zustände ein, die nur durch Interaktion mit einem anderen Universum erreicht werden können.”
Harmony runzelte die Stirn. „Es gibt zu jedem Erstkontakt auch ein Universum, das nicht verbunden ist, weil die Passage nicht dort angekommen ist”, sagte sie.
Street nickte zufrieden. „Richtig. Du hast aufgepasst.”
„Ich vermute, mir entgeht da etwas”, brachte Augur ein, „Die Entropie je Universum nimmt zu und die Zahl der Universen auch - wie kann die Entropie konstant bleiben?”
„Oh, das ist einfach”, sagte sie, „Das Multiversum ist mehr als die Summe der Universen. Ein Meer aus Entropie, in dem ein Universum beginnt und sich auf Kosten der Entropie des Multiversums aufspaltet.” Sie stand wieder auf, stellte sich neben ihr kopiertes Diagramm und zeigte darauf. „Also, das ist quasi eine Landkarte der näheren Umgebung des Multiversums. Diese Kugel ist nicht nur elfdimensional, sondern sechzehndimensional!”
„Ein multiversales Navi”, stellte Will fest.
„Genau.” Sie kreiste drei Knotenpunkte ein. „Da sich die Spaltung im Prinzip, außer man mogelt per Interdimension, nur mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet, kann man die multiversalen Verbindungen über das Zentrum des jeweiligen Einflusskegels nach dem Ort filtern, an dem sie initialisiert wurden. Das sind die von der Erde. Na?”
„Maiyas Welt und Renees Welt”, stellte Ga'hil fest, „Und das dritte?”
„Deine Zeitreise”, verstand Augur, „Das war nicht wirklich eine Zeitreise, du bist nur in einem anderen Universum in die Zukunft gehüpft.”

Der Kimera zog eine Fratze. „Das heißt, es gibt ein Universum, in dem die Gehirnwellenmanipulation dazu geführt hat, dass Doors den Widerstand vernichtet hat?”
„Liam, es gibt unzählige Universen und in vielen davon ist das passiert - und in vielen nicht”, erklärte Street energisch, „Außerdem kannst du jene nicht zählen, die gerade seit dem Beginn dieses Satzes dazugekommen sind!”
„Du kannst nicht auch noch Verantwortung für das komplette Multiversum auf dich laden”, ergänzte Augur.
Ga'hil seufzte laut auf, genau das hatte er offensichtlich gerade tun wollen. Typisch Dad.

„So, wieder zur Sache”, fuhr Street fort und machte einen weiteren Kringel knapp unter den drei bisherigen. „Captain Trammel und seine Crew, die vor sechzig Jahren aus dem unkontrollierten Orbit gefischt wurden und seitdem in Stasis liegen. Die sind nicht von hier.”
„Aha. Warum weiß ich von denen nicht? Ich war immerhin General!”
„Eine sehr sehr geheime und nicht gerade koschere Truppe hat die Stasiskapseln in die Pfoten gekriegt und nicht wieder rausgerückt”, sagte sie, dann malte sie zwei weitere Kringel weiter unten ins Diagramm. „Nahema.”
„Was?”
„Nahema, eine angeblich zeitreisende Atavus aus meinem Universum.”

Augur sprang perplex auf. „Aus deinem Universum?”
Sie nickte. „Mhm.”
„Du bist die von drüben?”
Sie nickte wieder. „Mhm.”
Er ließ sich matt wieder auf seinen Stuhl fallen. „Warum macht ihr das? Warum seid ihr euch so ähnlich und sagt dann auch noch gar nichts ...?”
Sie sah ihn an, blinzelte und sagte: „Tschuldigung. Darüber habe ich in der ganzen Euphorie jetzt gar nicht nachgedacht.”

Mitch straffte sich. „Eine Frage bitte, Mrs. Dev... Miss Street. Wenn sich unser Universum aufspaltet und danach gleich Sie in Ihres zurückkehren ... dann kommen Sie dort doch nicht doppelt an, oder?”
„Nein, natürlich nicht. Die Universen sind so eng verknüpft, dass die Aufspaltung gleichzeitig auch das andere Universum betrifft. Quasi ... ein Baum und sein Schatten.”
„Ah. Verstehe.”

Street grinste breit. „Tja, und das alles macht Bernhofers Hypothese zu einer Theorie. Er wird sich freuen.”
„Wie betrifft das uns?”, ergriff nun erstmals Vorjak das Wort.
„Das weiß ich ehrlich gesagt noch nicht - aber es könnte durchaus zu zielgerichteten multiversalen Reisen führen. Auf jeden Fall wissen wir, wo wir hin müssen, um Nahema zu kassieren.” Sie schmunzelte. „Und das sollten wir tun - sie kann sich im Portalsystem frei bewegen und auch automatische Umleitungen vermeiden.”
„Ja”, stimmte Ga'hil zu, „Dann sollten wir das tun.”

 

Ende Kapitel 2

 

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