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  „Blut” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   März 2011
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Harmony Kincaid erlebt ihre erste Liebe und ein beeindruckendes Interview.
Zeitpunkt:  gleich danach
Charaktere:  Harmony, Alan, Liam, Aby Franklin, Ronald, Lili, Zo'or, Mitchell Hendrik, (Vorjak, Da'an, Renee, Bess)
 

 

BLUT

Kapitel 9: Harmony III

 

Natürlich war der Alltag nicht ganz derselbe wie vor diesem Wochenende. Harmony konnte sich erinnern - und im Gegensatz zu magischen oder sonstwelchen Fähigkeiten, die die Kinder in Büchern immer bekamen, hatte diese Fähigkeit keine Nachteile, die man pädagogisch wirksam bedenken musste. Dank der Klosterschulenbildung ihrer Grossmutter in Irland wurde sie nur in Latein um viele Ecken besser.
Wie bei Ariel war auch bei Harmony das Shaqarava zunächst nur Glühbirnenkonkurrenz und glücklicherweise hatte die Hybridin auch die Kontrolle darüber, wann es leuchten sollte. Sie wollte nicht im Sportunterricht versehentlich alle anleuchten - also tat sie es nicht. So einfach war das.

Leuchten durfte sie in Clearwater, so hiess die Widerstandsstadt, genug, dort durfte sie Kimera, Taelon und Jaridian sein, soviel sie wollte. Von den zweihundert Bewohnern war jeder vertrauenswürdig und hatte den Kimera in zwölf Jahren nicht verraten.
Praktisch jedes Wochenende war Harmony dort, es war einfach wundervoll. Nicht einmal Vince ging ihr zu sehr auf die Nerven, dabei hatte er ein erstaunliches Nerv-Potential mit seiner ständigen Weiber-sind-Weicheier-Nörgelei. - Nicht dass Ariel und Harmony ihm nicht am laufenden Band das Gegenteil bewiesen!
Er änderte seine Nörgelei dann immer: „Weiber verstehen keinen Spass.” Das fanden die Weiber, Laurie Tate eingeschlossen, allerdings sehr witzig. Die Ampel-Brüder auch, und sie liessen es sich nicht nehmen, jedes Mal öffentlichkeitswirksam über den Boden zu kugeln.

Es kam das Ende des Schuljahres, es kamen die guten Noten (in Latein zum Beispiel), es kamen die Ferien - armer Liam, er musste trotzdem arbeiten, während Harmony mit Ariel, die sich mittels einer Jaridiantarnvorrichtung als Mensch ausgab, Freizeitparks und Schwimmbäder unsicher machte. Meistens hatten sie noch Ariels kleinen Bruder am Hals, aber er quengelte nicht sehr viel, wenn man ihm nur gleich zu Anfang ein Eis kaufte.
Aber, und das war das Problem (und es war ihr sogar bewusst), in diesem Sommer wurde Harmony kräftig von der Pubertät gestreift. Verflixte menschliche Hormone! Aber ein Eis zu zweit war doch viel schöner.

* * *

Er hiess Alan und war ein tiefschwarzer Krauskopf, bestimmt nicht viel älter als Harmony. Vielleicht sogar jünger? Schwer zu sagen. Harmony kam mit sich selbst überein, ihn als gleichaltrig zu betrachten. Zur Herzinfarktvermeidung sagte sie ihm nicht, wer ihr Vater war. Das wunderte ihn zweifellos überhaupt nicht, denn er erwähnte seine Eltern auch nicht.
Harmony fühlte eine Verbundenheit, die sie so nicht kannte. An dem war einfach etwas dran. Er war etwas Besonderes - und das als Mensch!

Und das obwohl er stotterte und rot wurde!

Vielleicht wurde sie auch rot, aber wenigstens stotterte sie nicht. Jedenfalls nicht viel. Sie hatte schliesslich den Erfahrungsschatz von Ronny, Siobhán und Mum, die auch einmal zwölf gewesen waren. Im Vergleich zu ihren Verwandten war Harmony offenbar ein Frühzünder, das erkannte sie sehr bald - jedenfalls solange sie ihren Vater aus der Rechnung liess.
Während Ronny die Macken seiner Angebeteten immer erst nach drei Wochen wahrgenommen hatte, war Harmony sich erstaunlich klar darüber, was ihr an Alan nicht passte: Er hatte völlig rissige Fingernägel und knabberte ständig an ihnen herum. Sollte das nicht hinter der rosaroten Brille verschwinden? Aber das tat es nicht!

Harmony trat in den praktischen Mehrzweck-Fettnapf und schenkte ihm eine Nagelfeile.

Einen Tag lang war er hochgradig beleidigt, dann versöhnten sie sich doch wieder. Er sagte ihr, dass sie etwas Besonderes war - und das als Mensch. Was meinte er damit?
Alan zog sie an der Hand quer durch das Freibad bis in eine Umkleidekabine, die er dann sehr gewissenhaft von innen verriegelte, bevor er ihr zeigte, was er meinte: In seiner Handfläche glühte ein tiefblauer Punkt: Er hatte Shaqarava.
Harmonys erster Impuls war, ihm zu zeigen, dass sie das auch konnte, aber sie tat es nicht. Sie beruhigte Alan nur anderweitig, dass sie nichts gegen Shaqarava hatte: Sie sagte ihm ihren vollen Namen - und den ihres Vaters.

„Du bist ja berühmt!”, stellte Alan mit grossen Augen fest.
„Hmm, ja.” Jedenfalls sobald sie ihren Namen sagte. Glücklicherweise sah die Klatschpresse davon ab, ihr Gesicht aufs Titelblatt zu setzen. „Aber Dad viel mehr, naja, weisst du ja.”
„Aber du kennst Da'an, oder?”, fragte er neugierig, „Und ... den Kimera? Kennst du den auch?”
„Jjjja ... beide.”
„Boah! Den Kimera!” Ja, Dad war wirklich berühmt - besonders wenn er gerade kein Mensch war. „Also, nicht nur mal gesehen oder so, ja?”, fragte Alan, „Ich meine, mit ihm geredet und das. Gesehen hab ich ihn auch mal.”
„Ja, hab ich. Wann hast du ihn gesehen?”
„In der Schule.” Er rieb die Hände aneinander. „Ich war auf einer besonderen Schule, in der man uns beigebracht hat, wie wir als Hybriden unter Menschen leben können.” Solche Schulen gab es? „Der Kimera hat dort einmal allen erklärt, dass es wichtig ist, menschlich sein zu können, besonders für uns, weil wir ja ... naja, den Körper nicht ablegen können.”

Das verstand Harmony sehr gut, etwas anderes allerdings weniger. „Warum sagst du mir dann, was du bist?”, fragte sie.
„Äh ...” Ahja, die Hormone.
„Keine Sorge, ich verrat's nicht. Meinem Dad auch nicht.”
Er war sichtlich erleichtert, und ob der Ankunft einer ganzen Pfadfindergruppe (mit Ohren, was das Problem war) begaben sie sich wieder ins Wasser, wo Ariel und Cedrik gerade um die Wette tauchten. - Ariel gewann, ganz ihrem Namen entsprechend.

* * *

Das Leben war nie so einfach wie ein Freibadbesuch. Seit Harmony wusste, dass Alan ein Hybrid war, war das Gefühl der Verbundenheit kein Mysterium mehr. Sie konnte ihn wahrnehmen, auch wenn sie ihn nicht sah, sie konnte den Taelon in ihm spüren. Zudem war ihr nicht wohl dabei, sein Geheimnis zu kennen und ihres für sich zu behalten. Und doch sagte sie nicht, was sie war, besonders da es ja auch ihren Vater zu Fall bringen konnte, wenn sie es täte.
Alan war zu Besuch bei seiner Tante, allerdings nur bis eine Woche vor Schulanfang. Mit jedem Tag, der weniger blieb, verhandelte er härter, noch einen Tag herauszuhandeln. Nur war seine Tante leider ehemalige Geiselverhandlerin der Polizei und gab einfach nicht nach! Am letzten Tag blieben nur noch Resignation, das Austauschen der Mailadressen sowie der Versuch, sich zu einem Kuss durchzuringen - vergeblich allerdings. Zwar wusste Harmony eine ganze Menge übers Küssen (offenbar war ihre Grossmutter da verdammt fähig gewesen), aber die Theorie in die Praxis umzusetzen war für sie auch nicht leichter als für Alan. Schliesslich blieb es bei einer innigen Umarmung.

Und dann war er weg - und sie vermisste ihn nicht. Da war kein schwacher Hauch seiner Energie, der sie zu ihm zog. Das war alles? Sie hatten sich unbewusst gegenseitig als Hybriden erkannt, mehr war nicht dahinter?
Die erste grosse Liebe, völlig entzaubert.

Dad sagte nichts zu all dem, aber bemerkt hatte er es, denn am Abend nach Alans Abreise gab es selbstgemachte Windbeutel (die Küche sah auch entsprechend aus). Die gab es nur, wenn Liam befürchtete, seine Tochter kräftig trösten zu müssen, was glücklicherweise (auch für die Küche) nicht sehr häufig war. Wenigstens wurde die Veranda mal wieder verwendet.
„Dad?”, murmelte Harmony leicht schmatzend, „Wie viele Hybriden gibt es?”
„Dich, Joyce, Ariel, Cedrik, Carol und mich. Also sechs.” Ah, Carol hiess der Nachwuchs des zweiten Jaridian-Mensch-Paares nun.
„Nein, ich meine die anderen, die auch Taelon sind.”
Liam sah sie kurz verdutzt an, dann lächelte er. „Die Taelons haben ihre Gene nur für ein Experiment rausgegeben, Harmony”, erklärte er, „alle anderen sind ... unechte Hybriden.” Er biss von einem Windbeutel ab. „Weisst du, Menschen sind nicht so anders. Menschen sind sehr wohl in der Lage, einen Energiekörper zu kontrollieren - sie haben nur normalerweise keinen.”
„Aber die unechten Hybriden schon?”
„Es gab ein einzelnes und drei Serien von Hybridexperimenten”, erklärte er, „und ich erzähle dir davon nur, wenn du mir dann nicht die Schuld für deine Albträume gibst.”

Albträume, pah! Damit kam sie zurecht, es wären ja auch nicht die ersten. „Erzähl!”, verlangte sie.

Liam musterte sie kritisch, er wollte sie zweifellos vor Albträumen schützen. Aber er hielt sein Wort und erzählte: „Es ist Da'an, von dem alle Pläne stammten. Er hat zwar auch erwogen, Taelon-DNS zur Verfügung zu stellen, aber getan hat er das erst für das Evolutionsserum.”
„Mum und ich sind also die einzigen echten Taelonhybriden.”
„Ja.” Er grinste schief. „Das Einzelexperiment war das erste und zunächst war es nicht sehr erfolgreich”, erklärte er, „Taelonville, klingelt da was?” Harmony schüttelte den Kopf. „Naja, Vater hatte damit nichts zu tun, also ist es nicht in deinem Gedächtnis. Dort war der Reaktorunfall, dessen Auswirkungen Da'an so medienwirksam eindämmen konnte.” Darüber wusste Harmony etwas, wenn auch nicht viel. „Belle und Steve Hartley, Zwillinge, schwer verstrahlt”, murmelte Liam, „der materielle Körper nicht mehr zu retten. Sie haben Grundenergie bekommen, und die Energie formte ihren Körper nach.”
„Ein Energiekörper also”, verstand Harmony, „also hat es doch geklappt?”
„Sie konnten die Energie nicht abgeben und nicht ergänzen. Für die taelonische Suche nach einer Grundenergiequelle waren sie eine Sackgasse, ausserdem nicht auf Dauer lebensfähig.”
„Aber du sagst, zunächst war es erfolglos.”
„Ja”, er seufzte leise, „Wenn du Albträume willst, erinnere dich, denn daran war Vater beteiligt, die Zwillinge umbringen zu lassen, bevor ihnen die Energie ausginge.”

„Bah, ich will mich nicht erinnern! Und ich tu es auch nicht! So.” Sie sah ihn böse an. „Und weiter?”

„Die beiden haben den Auftragskiller per Shaqarava erledigt, indem sie ihm seine Lebensenergie entzogen haben”, erklärte Dad, „genau wie Da'an das als Atavus gemacht hat.” Eklig, das war die Sache mit den verschrumpelten Leichen. Harmony verzog das Gesicht und schob die Windbeutel auf dem Teller von sich. „Als Grundenergiespender kamen sie aber trotzdem nicht in Frage: Die Energie in ihren Körpern war menschlich ausdifferenziert, für einen Taelon unverwertbar. Aber immerhin war grundsätzlich klar, dass Menschen einen Energiekörper erhalten können.”
„Also hat Da'an was gemacht?”
„Menschen ohne ausdifferenzierte Energiestruktur mit Grundenergie überschwemmt”, erklärte Liam, „Deshalb das Portalprojekt, um an Schwangere ranzukommen - beziehungsweise für Schwangere zu sorgen.”

Grauenhaft! Harmonys Achtung und Zuneigung löste sich soeben in Luft auf. Nein, sie wollte Da'an bestimmt nie wieder sehen!

„Harmony”, Liam streckte eine Hand über den Tisch und strich über die Schulter seiner Tochter, „es tut Da'an leid. Die Taelons waren verzweifelt!” Sie verzog das Gesicht deutlich. „Flöckchen, das ist alles vorbei, die Taelons machen nichts dergleichen mehr. Ja?”
Das mochte ja sein. „Egal!”, knurrte sie, „Da'an hat keine Entschuldigung, weder ein CVI noch ein Pressform-Gemeinwesen wie bei Zo'or.”
„Die Pressform gab es für alle”, widersprach Liam energisch, „bei so wenigen Taelons war die gegenseitige Kontrolle zu gross, da konnte keiner gross aus der Reihe tanzen. Verurteile sie nicht einfach so - es ist nichts so einfach.” Er lächelte und schob eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Ja? Bedenke, dass die Gerichte ihre Urteile schon gesprochen haben, auch dafür.”

Ja ...”
„Gut.”

„Dad ... haben diese Portal-Experimente ... denn geklappt?”
Er schüttelte den Kopf. „Die Energie hat sich menschlich ausdifferenziert. Es wurde vermutet, dass es daran lag, dass die Babys im Bauch einer menschlichen Mutter waren.”
„Also gab es noch andere Experimente ... mit Brutkästen oder so?” Sie schüttelte sich.
„Die beiden anderen Serien liefen unabhängig voneinander und nicht von Taelons initiiert. Die Hartley-Zwillinge wollten in Brutkästen ihresgleichen schaffen, die Nonnen im Taelonkloster wollten höhere Lebensformen zur Welt bringen, eben welche mit Taelonenergie. Ersteres hat funktioniert, Zweiteres nicht, es gab wieder nur menschlich ausdifferenzierte Energie.” Er seufzte. „Die Taelons wollten trotzdem nicht einsehen, dass Menschen eben Menschenenergie haben. Das nächste Experiment war schon in Planung und wurde nur nicht durchgeführt, weil sich mit dem Erscheinen des Kimera sowieso alles verändert hat.”

„Okaaay”, murmelte Harmony gedehnt und mit tief gerunzelter Stirn.
„Na gut, das war übertrieben”, gab er zu, „Wir sollten nicht vergessen, dass Zo'or seine Zugangsberechtigung hergegeben und Augur alle Projektinformationen veröffentlicht hat - und die Daten über die düstere Zukunftssicht der Taelons.” Er spiesste einen Windbeutel auf. „Magst du keine mehr?”
„Äh ... nachher”, sagte sie und stand auf, „erst mal befreie ich eine Prinzessin und besiege einen bösen Magier.”

Jetzt brauchte sie einfach Ablenkung.

* * *

Natürlich liess sie die Windbeutel nicht verkommen - so etwas Gutes musste genossen werden und sie genoss es, um die Befreiung der Prinzessin zu feiern. Das Gefühl, Held zu sein und etwas geschafft zu haben, war bei solchen Spielen zwar stets recht virtuell gewesen, aber seit Harmony sich erinnern konnte, hatte es noch mehr nachgelassen.
Sie konnte sich an Dinge erinnern, an Heldentaten, die ihr Vater getan hatte - und dabei erinnerte sie sich nur an jenes halbe Jahr seines Lebens, bis er ihre Mutter getroffen hatte.
Ihr Vater, der Held! Nun, das hatte sie immer gewusst, er war natürlich nicht aus heiterem Himmel General geworden.

Zwei Tage vor Schulanfang war Lili mit ihren Eltern aus der Karibik zurück und schenkte Harmony einen Hauch von normalem Leben, sofern es normal war, im Schach gegen ein gerade seit einem Monat achtjähriges Mädchen völlig unterzugehen. Richtig normal wurde das Leben erst mit der Schule.
Normal? Sich das Lernen sparen zu können, weil Mum einen Doktor in Biologie hatte, war nicht normal - aber definitiv praktisch.
Tatsächlich blieb Harmony Da'an recht lange böse, aber nicht ewig. Vielleicht lag es auch ein bisschen daran, dass er ihr zu ihrem Geburtstag etwas schenken wollte, nämlich einen Shuttleflug auf dem Pilotensessel. Leider stellte Dad sich quer, dabei war er doch noch bevor er einen Monat alt geworden war, mehrmals zum Mutterschiff und zurück geflogen! Das war ungerecht!
Zumindest durfte sie einen Shuttlesimulator benutzen, auch wenn das nicht dasselbe war. Ausserdem gab es zum Trost selbstgemachte Windbeutel.

Eigentlich verhielten sich alle wie immer, aber irgendetwas war anders. Es war etwas im Busch. Weihnachten? Nein, das hektische Geschenke-unauffällig-ins-Haus-Schaffen war normal. Da war noch etwas anderes - spätestens als der undefinierbare Unterschied auch nach Weihnachten (Sie bekam einen Jugendflugkurs geschenkt!) und im neuen Jahr noch wahrnehmbar war, wusste Harmony es genau.

Sie erwartete ihren Vater mit genauso verschränkten Armen, wie er sie erwartete, wenn sie etwas angestellt hatte. „Dad, was ist los? Es ist irgendwas los!”

Möglicherweise war der Zeitpunkt der Frage ungünstig gewählt. Liam war nicht alleine. Eine blonde Frau schüttelte sich zunächst einmal den Schnee aus der Frisur und reichte ihm ihren Mantel, während er sie vorstellte: „Harmony, das ist Aby Franklin. Aby, meine Tochter Harmony.”
„Hallo”, murmelte Harmony.
„Freut mich, Harmony”, lächelte Aby.
„Setzt euch erst mal”, schlug Liam vor und verschwand in der Küche, „Orangensaft?”
„Nur Wasser, danke, Liam.”
„O-Saft ist gut, Dad.”
Harmony und Aby setzten sich aufs Sofa und warteten auf Liam, der drei Gläser auf den Tisch stellte.

„Harmony, du hattest schon immer das Gefühl für die richtige Zeit”, grinste er, „Ja, es ist etwas los.” Ah, und was? „Aby ist Fernsehreporterin. Keine Sorge, sie hat es nicht auf uns abgesehen. Weisst du, ich kenne sie von früher.”
„Dein Vater hat dir wahrscheinlich davon erzählt, wie ein Jaridianreplikant das Mutterschiff umprogrammiert hat, dass es Richtung Jaridia fliegt.”
„Äh, nein?”
„Nicht? Hab ich das echt nicht erzählt?”, wunderte sich Liam, „Aby sollte eine Reportage machen, um der sinkenden Popularität der Taelons entgegen zu wirken. Und gerade als sie auf dem Mutterschiff war, wurde es entführt.” Er grinste. „Damals wurde ich das erste Mal verdächtigt, zum Widerstand zu gehören”, sagte er, „Im Nachhinein ist das recht witzig, akut hat es mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt.”
„Ah ... nein, da klingelt nichts.” Wie auch? Sie kannte nicht seine gesamte militärische Lebensgeschichte - und im Gedächtnis war es auch nicht.
„Ist auch nicht so wichtig. Das Wichtige ist das.” Er hob seine Hand und liess das Shaqarava aufglühen. „Aby weiss seit damals, dass ich kein Mensch bin, was bedeutet, dass ihr mit Auftauchen des Kimera sofort klar wurde, dass ich das bin.”
„Ja”, bestätigte Aby.
„Nun, man könnte es als Dank für ihr Schweigen ansehen”, lächelte Liam, „Aby bekommt die Story des Jahrhunderts: Ein Interview mit dem Kimera, nächste Woche.”

* * *

Es war ein Freitag und auf dem Weg zum Studio waren die Strassen allesamt so leer wie in einem Western kurz vor dem finalen Duell. Dafür war im Studio die Hölle los, Soundcheck, Lichtcheck (mit Leuchtstoffröhren an der Stelle, wo der Kimera sitzen sollte), Kamerafahrtenproben. Ein kleiner dicker Mann schrie die verbleibenden Minuten und schliesslich nur mehr Sekunden durchs Studio, eine Dame mit Schminkpinsel huschte durchs Publikum und puderte hier oder da. Und dann waren es nur noch zehn Sekunden und alles wurde ruhig.
„Fünf, vier, drei”, rief noch der dicke Mann, „Live, jetzt!” Brav klatschte das Publikum.

„Es ist ein historischer Tag, verehrtes Publikum. Kaum jemand auf diesem Planeten stellte sich nicht allerlei Fragen über den Kimera. Jeder wusste, dass er existiert, jeder wusste, was die Menschheit, das Gemeinwesen und auch das Jaridianvolk ihm verdanken, doch fast niemand hat ihn gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen - oder kannte überhaupt seinen Namen.
Verehrtes Publikum, bitte begrüssen Sie ... den Kimera!”
Heftiger Applaus, Harmony klatschte auch, ebenso Vorjak neben ihr, der sich mittels einer jaridianischen Tarnvorrichtung als General Liam Kincaid ausgab. Es wäre ungünstig, würde Liam fehlen, während der Kimera auf der Bühne war.

„Tatsächlich nannte ich meinen Namen einigen wenigen Personen”, begann Liam und setzte sich neben Aby, „jetzt nenne ich ihn öffentlich: Mein Kimera-Vater gab mir den Namen Ga'hil.” - Und er hiess wirklich so, das wusste Harmony inzwischen.
„Also, Ga'hil, ich freue mich sehr, dass Sie hier sind und dass ich mit Ihnen sprechen kann”, sagte Aby, „Gibt es einen tieferen Grund, weshalb Sie sich nun so plötzlich zu einem Interview bereit erklärt haben?”
„Es wurde Zeit dafür, das könnte ich geheimnisvoll sagen, tatsächlich ist die Antwort aber sehr viel simpler: Es gibt einige Geheimnisse, die keine Geheimnisse mehr sein müssen.” Liam schmunzelte und seine Energiebahnen leuchteten vergnügt auf. „Falls irgendjemand hier hofft, ich würde meine oft postulierte menschliche Identität offenlegen: Ja, ich habe eine, soviel sei gesagt, aber ich gedenke nicht, mein Privatleben Ihrer Neugier zu opfern.”
„Welche Geheimnisse legen Sie also offen, wenn nicht dieses?”
„Ich bin sicher, Sie und auch die meisten Zuschauer erinnern sich noch gut daran, wie Zo'or vom Mutterschiff entführt wurde”, erklärte der Kimera, „Tatsächlich wird der Hergang aber nicht korrekt erzählt - Agent Ronald Sandoval starb nicht in Erfüllung seiner Pflicht als Taelonbeschützer, vielmehr war er der Entführer und schaffte es, seinen eigenen Tod zu inszenieren.”

Überraschtes Raunen ging durch die Zuschauerreihen und vermutlich ging es denen vor dem heimischen Fernseher auch nicht anders.
„Mit Ihrer Hilfe ... nehme ich an?”

„Tatsächlich ist es so, Aby, ja.” Das Raunen der Zuschauer wurde wieder lauter, Liam liess sich davon nicht stören. „Ich war nie besonders von den Implantaten mit Imperativ begeistert”, erklärte er, „und schon einige Zeit, bevor ich von der Synode verlangte, die Imperativkomponenten aller Implantate zu deaktivieren, tat ich genau das bei Ronald Sandoval.”
„Nur bei ihm oder gibt es weitere Implantanten, die ihre Gedankenfreiheit Ihnen verdanken?”
„Vor meinem offenen Auftreten wäre es ein Risiko gewesen. Ich durfte keinen Hinweis geben, dass die Implantate defekt sein könnten oder dass jemand in der Lage ist, sie zu verändern. Nur er konnte damals schon frei denken, ohne dass die Taelons es wussten.”
„Sie sagen, es war ein Risiko. Weshalb sind Sie es eingegangen?”

Liam liess die Bombe platzen: „Er ist mein menschlicher Vater.”

Was jetzt aus dem Publikum kam, war kein Raunen mehr, das war ein rechtes Geschrei. Fünf mal begann Aby, sichtlich nicht weniger erstaunt: „Darf ich bitte ...”, doch trotz Lautsprecher gingen ihre Worte fast völlig unter. Schliesslich hatte das Publikum keine Luft mehr und die Reporterin schaffte es endlich: „Darf ich fragen, wer Ihre Mutter ist, Ga'hil?”
„Sie dürfen. Ihr Name war Siobhán Beckett.”
„Dann sind Sie also Ire und Amerikaner. Was sind Sie, wenn Sie Mensch sind? Ire? US-Bürger? Beides?”
„Nur US-Bürger”, sagte er, „und ich gehe auch brav zu jeder Wahl, obwohl ich als Fünfzehnjähriger eigentlich nicht wahlberechtigt bin.”
Aby grinste: „Das sollte die Suche nach Ihrer menschlichen Identität sehr vereinfachen, bei unseren geringen Wahlbeteiligungen.”
„Ich denke, dass meine Identität dennoch sicher ist.”

„Sie sagten, es gäbe mehrere Geheimnisse”, kam die Reporterin auf eine vorige Aussage zurück, „oder möchten Sie sie nun doch nicht verraten?”
Wieder war deutliches Amüsement in seinen Energielinien und in seinem Gesicht zu sehen. „Es sind nun einige Jahre ins Land gezogen, ohne dass damalige Widerstandskämpfer angeklagt und verurteilt worden wären, vielmehr bekamen nicht wenige sogar allerlei Orden”, sagte er, „Marcus Devereaux, genannt Augur, Renee Doors, Dr. Julianne Belman und nicht zu schweigen von General Liam Kincaid. Ich hoffe, die Taelons sind genauso tolerant.”
„Bisher waren sie es.”
Liam stand auf und wies auf den Bühnenaufgang: „Ich habe Gäste mitgebracht.”

„Bitte begrüssen Sie ... Ga'hils Gäste”, sagte Aby perplex und als die drei die Bühne betraten, nannte sie sie auch beim Namen: „Agent Ronald Sandoval, Captain Lili Marquette und Zo'or.” Warum hatte Harmony davon vorher nichts gewusst? Gemein!
Der Applaus der Zuschauer war eher verhalten, aber Ron schüttelte Aby freundlich die Hand und korrigierte: „Ronald Martínez.” Im Anzug erinnerte er durchaus an den Agent von damals, aber er lächelte - der Agent hatte das so gut wie nie getan.
Aby reichte auch Lili die Hand und formte für Zo'or den Taelongruss. Den Kameras und dem fehlenden Lichtcheck für seine Position zuliebe beliess es der Taelon dabei, sein Energienetz nur ganz leicht durchschimmern zu lassen. Nach der Begrüssung nahmen alle Platz.

„Captain Marquette”, kam Aby zu ihrer Aufgabe zurück, „Sie galten nun vierzehn Jahre lang als tot - offensichtlich waren Sie es aber natürlich nicht. Was ist wirklich geschehen?”
Lili blickte kurz ins Publikum und sah direkt Vorjak (getarnt als Liam) an, dann wandte sie sich der Reporterin zu: „Tatsächlich wollte mich Zo'or töten lassen, nachdem ich versucht hatte, das Mutterschiff zu sprengen.” Sie liess dem Taelon den Moment erschütterter Aufmerksamkeit, dann fuhr sie fort: „Glücklicherweise hatte ich mit Ronald einen Verbündeten, dem es gelang, Zo'or eine falsche Leiche unterzujubeln.”
Nicht korrekt! Harmony wusste genau, dass Lili ihn damals alles andere als als Verbündeten betrachtet hatte, und das berechtigt! Den Imperativ war er ja erst fast ein Jahr später ganz losgeworden. - Aber vermutlich war die Wahrheit für ein Fernsehinterview viel zu kompliziert.
„Tatsächlich tauchte ich nicht auf der Erde unter”, fügte Lili hinzu, „Ich war der erste Mensch, der Jaridia betreten sollte. Mehr noch, ich habe einen Jaridian geheiratet und zwei wundervolle Kinder.”
„Hybriden.”
„Natürlich.”
„Das bringt mich zu einer Frage, die auch Sie betrifft, Ga'hil”, sagte Aby, „Hybriden zwischen verschiedenen Spezies, bei Ihnen sogar drei Eltern - ist das wirklich so einfach?”
„Keineswegs, nein”, schüttelte Ga'hil den Kopf, „Ha'gel scheiterte zunächst und auch Captain Marquettes Kinder überlebten nur dank grosszügiger Grundenergiegabe von Zo'or.” Er blickte zu seinem Vater und Zo'or und grinste: „Dafür musste dieser allerdings zuerst vom Mutterschiff entführt werden ...”

Harmony hörte förmlich das Einrasten der Zahnräder in den Gehirnen des Publikums, dann wurde es wieder sehr sehr laut. Alle riefen durcheinander, aber sie zweifelte daran, dass auch nur einer seinen Nachbarn verstand. Mit der Zeit wurde es wieder stiller und Harmony konnte die Finger aus den Ohren nehmen.

„Bisher waren sie verschollen, Zo'or, selbst für das Gemeinwesen nicht wahrnehmbar”, ergriff die Reporterin das Wort, „Wie kommt es, dass Sie jetzt wieder auftauchen, oder auftauchen dürfen - und das so spektakulär?” Sie wies mit einer Geste auf das Publikum und die Kameras.
Zo'or legte seinen Kopf etwas schief, bewegte seine Finger und erklärte: „Das Gemeinwesen kann mich auch jetzt nicht wahrnehmen, da ich kein Teil dessen mehr bin.” Sein Blick fand Da'an, der unweit Harmony in der ersten Reihe sass. „Seit nunmehr dreizehn Jahren bin ich Mitglied eines anderen Gemeinwesens”, fügte Zo'or hinzu, „Ich werde nicht ins Taelongemeinwesen zurückkehren, es ist nicht mein Wunsch.”
Da'an und ein zweiter Taelon im Publikum leuchteten tiefblau auf, sie waren für Harmony deutlich sichtbar erschüttert. Ein paar Scheinwerfer wurden gedimmt und nach dem Leuchtausbruch wieder hochgefahren.
Zo'or hatte die Reaktion seiner Mittaelons mit einem Schmunzeln und leicht erhobenem Kinn beobachtet, jetzt sagte er: „Toleranz ist nicht nur, die menschlichen Widerstandskämpfer nicht zu verfolgen und Jaridians und einen Kimera zu dulden. Toleranz muss auch für Taelons gelten, in diesem Fall”, er machte eine hübsche, zugleich energische Handbewegung, „für mich.”

Damit hatte er Recht.

Aby brachte das raunende Publikum schnell zum Schweigen. „Es wäre für Sie also möglich, ins Taelongemeinwesen zurückzukehren, Zo'or?”
„Nicht für mich alleine”, widersprach der Taelon und wies auf Liam, „Ich bräuchte Hilfe - die mir angeboten wurde. Ich halte es für unwahrscheinlich, jedoch für möglich, dass ich in einigen Jahrzehnten ins Taelongemeinwesen zurückkehre.”
Da'an stand von seinem Zuschauerplatz auf und trat enttäuscht an den Rand der Bühne: „Weshalb, Zo'or?”
„Weil ich ein Kind war, das von einem ganzen Gemeinwesen voller Erwachsener indoktriniert wurde!”
Damit war es heraussen und das Publikum rief wieder durcheinander. Harmony hörte es nicht, aber sie spürte, dass Da'an sich entschuldigte. - Und Zo'or spürte es zweifellos auch.

Es wurde wieder ruhig, Da'an setzte sich auch wieder. Aby führte das Gesprächsthema von der Sackgasse Kindererziehung geschickt fort und wandte sich wieder dem Kimera zu: „Sie haben sich, wie schon erwähnt, sehr selten öffentlich gezeigt, Ga'hil. Die meisten Menschen sehen nun das erste Mal einen Kimera und ich muss zugeben, Ihre Erscheinung ist beeindruckend.”
„Mag sein, dass ich es etwas darauf anlege, Aby”, sagte Liam, „Ebenso wie Taelons kann auch ich eine Fassade haben und meist habe ich sie auch.”
„Würden Sie uns das zeigen?”
Er tat es - und die Beleuchtungssituation wurde sofort angepasst. Grosses Ah und Oh gab es nicht, seine derzeitige Erscheinung neben Zo'or machte ein bisschen den Eindruck eines Taelons nach der Bleichwäsche. Seine reine Energieform war weitaus spektakulärer.

„Ist Ihre Fassade von jener der Taelons inspiriert, oder ist diese Form einem Kimera generell geläufig?”, fragte Aby.
„Tatsächlich ist dies jene Form, die die Kimera annahmen, um sich mit den Urahnen der Taelons und Jaridians auszutauschen”, erklärte Liam, „von daher wäre es richtiger, davon zu sprechen, dass die Fassade der Taelons von jener der Kimera inspiriert ist - oder eben geerbt.”
„Sie sprechen vom genetischen Gedächtnis”, verstand die Reporterin, „Sie erinnern sich wie die Taelons an alles, was Ihre Vorfahren getan haben?”
„Ich habe die Erinnerungen meiner Kimeravorfahren und meiner menschlichen Eltern”, erklärte Ga'hil, „Da Menschen kein genetisches Gedächtnis haben, ist dort nach einer Generation Schluss.”
„Sie würden alles vererben?”
„Würde ich, ja.” Würde er? Hatte er! Harmony verkniff sich das Grinsen.
„Wie fühlt man sich, wenn man für den Sohn so gläsern ist, Mr. Martínez?”, sprach Aby nun erstmals direkt Ron an.
„Zunächst war es mir unangenehm und ich versuchte es zu verdrängen, aber man gewöhnt sich dran.” Er schmunzelte und sah zu seinem Sohn. „Tatsächlich ist er für mich inzwischen ebenso gläsern, wir haben oft genug unsere Erinnerungen direkt ausgetauscht, dass das genetische Gedächtnis kaum mehr eine Rolle spielt”, fügte er hinzu, „Ich möchte keine dieser Erfahrungen missen - und den Sohn schon gar nicht.”
„Wie sieht es sonst mit Familie aus?”, fragte sie, „Sie haben einen neuen Namen. Nur so oder aus ... gutem Grund?” Sie schmunzelte leicht.
„Aus gutem Grund. Ich bin Ehemann und Familienvater.”

Das Publikum fand das jedenfalls bemerkenswert.
Als endlich auch die Diskussionen auf den Plätzen hinten links zur Ruhe kamen, wandte sich Aby Liam zu: „Was ist mit Ihnen, Ga'hil? Partnerin? Vielleicht gar Kinder?”
Oh oh! Dass er jetzt bloss nicht auspackte, dass er eine Tochter hatte, ja? Harmony war dagegen!
„Ich möchte keine Hinweise auf meine menschliche Identität geben, tut mir leid”, schüttelte er leicht den Kopf. Brav, Dad.
„Besteht die Hoffnung, dass wir irgendwann erfahren, wer Sie als Mensch sind?”, fragte Aby weiter, „Sehen Sie sich mehr als Mensch oder mehr als Kimera?”
„Das schliesst einander keineswegs aus”, lächelte er, „aber so bald werden die beiden Teile nicht öffentlich zusammengefügt. Fragen Sie mich in zwanzig Jahren noch einmal, vielleicht dann.”
„Ich komme gerne in zwanzig Jahren darauf zurück.” Damit fand Aby die Gelegenheit, sich bei allen vier Gästen gross zu bedanken und sich vom Publikum zu verabschieden. Sie lächelte noch freundlich in eine Kamera, bis der dicke Mann endlich laut „Aus!” schrie, dann sank sie etwas zusammen, fuhr sich durch die Haare und schloss kurz ihre Augen. Ein Mitarbeiter brachte ihr, Lili und Ron je ein Glas Wasser.

Harmony hätte auch gerne eines gehabt, aber das Publikum bekam nichts. Aber natürlich war das Publikum auch nicht von den zig heissen Scheinwerfern voll angestrahlt worden. Der Reihe nach wurden die grossen Strahler ausgeschaltet, die Techniker machten die Fliege, das Publikum begann, durch die vier grossen Tore ins Foyer hinauszusickern. Die vorderen Reihen blieben zunächst besetzt, zur Stauprävention. Ohnehin gab es für eine ausgewählte Gruppe (Block C, die ersten zwei Reihen) nachher Sektempfang - ohne Sekt für Harmony wohlgemerkt. Sie wusste, wie Sekt schmeckte, und erinnerte sich auch gerne an das Prickeln auf Mums Zunge auf der Promotionsfeier.

Endlich legte sich das Durcheinander, Vorjak zog Harmony mit. Der Jaridian hielt sich an Liams Geschmack und liess sich zwei Drittel Orangensaft geben, sie bekam natürlich reinen Orangensaft. Da die junge Hybridin allerdings beide Gläser halten musste, nahm sie sich die Freiheit, zwei oder drei mal versehentlich an seinem zu nippen - es schmeckte ihr ausgezeichnet.
Im Mittelpunkt des Trubels standen natürlich die vier Showgäste, das hiess aber nun nicht, dass niemand mit General Kincaid sprechen wollte. Eine blondgelockte Dame mit rotem Lippenstift, Perlenkette und schwarz-weissem Designerkleid (mit unglaublich grossen, stoffüberzogenen Knöpfen) und schwarzen Handschuhen bis zu den Ellenbogen trat zu ihnen. „Wie geht es Ihnen, Liam?”
„Ich stehe im Moment etwas neben mir, Renee”, erklärte Vorjak höflich.
„Das sehe ich, ja.” Klar, Renee Doors wusste ja, wer Liam wirklich war. „Kommen Sie vorbei, wenn Sie nicht mehr neben sich stehen. Ich bin beim Häppchenbüffet.”

Der Kimera zog noch eine ordentliche Lichtshow ab und demonstrierte an einem Sektglas sein Shaqarava (erklärte bei der Gelegenheit auch, dass er für Sektgenuss erst einen materiellen Körper aufbauen musste), dann verabschiedete er sich, sammelte Lili, Ron und Zo'or ein und fuhr mit dem Lift aufs Dach des Gebäudes - jedenfalls zeigte die Leuchtschrift 14-R. Die Gesellschaft murrte enttäuscht von unangemessener Eile.
Harmony war nicht gerade froh darüber, dass mit dem Verschwinden des Kimera die Gesellschaft ihren Vater als neues Zentrum auserkor. Aber Vorjak schlug sich gut, das Hauptthema war ohnehin, was er vom Interview hielt, und natürlich war er der Meinung, dass Aby eine grossartige Leistung erbracht hatte. Kaum später entschuldigte er sich aber und marschierte Richtung Toiletten, zurück kam dann nicht Vorjak, sondern wirklich Liam - natürlich als Mensch.
Er kniff sie in den Arm: „Schlingel. War vorhin mein Glas nicht voller?”
„Mah ... du siehst auch alles”, verdrehte Harmony die Augen.
„Du bist dreizehn! Kein Alkohol! Also lass mein Glas, ja?”
Die volle Erziehungskeule. „Ja gut”, seufzte die Hybridin und gab ihm sein Glas, „pass doch selber drauf auf.” Ein bisschen selber Schuld musste er doch sein - auch wenn eigentlich Vorjak Schuld war. „Ausserdem glaube ich, dass du mit dreizehn auch mal was getrunken hast.” Hatte er! Silvester vor zwei Jahren, sie war doch dabei gewesen.
„Und du machst mir natürlich alles nach, hmm?”, fragte er, „Komm, gehen wir zu Renee.”
„Okay.”

Sie fanden sie wie vermutet am Häppchenbüffet. Renee hielt einen Teller auf ihrer linken Hand und hatte den rechten Handschuh ausgezogen und über den linken Arm gelegt. Ihr Hauptaugenmerk galt offensichtlich den Lachsröllchen, aber sie bemerkte Liam und Harmony natürlich.
„Renee”, grüsste er, „wie geht es Ihnen? Wie läuft die Scheidung?”
„Josh will das Haus.”
„Welches?”
„Oh, nett, dass Sie mich daran erinnern, dass wir stinkreich sind und jetzt alles den Anwälten in den Hals schmeissen. Und wie geht es Ihnen?”
„Ich habe eine ungezogene Tochter.” Ja, das konnte er haben! Harmony streckte ihm die Zunge heraus.
Renee ass ein Lachsröllchen und blickte zu ihr. „Ich gebe dir jetzt als erfahrene Frau einen Rat, okay?”, sagte sie, „Heirate nie! Das geht nur schief!”
„Ähm ... okay?”, runzelte Harmony die Stirn.
„Gutes Mädchen.” Renee klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter.
Liam nahm sich ein einzelnes russisches Ei vor und biss vorsichtig ab. „Geht es Ihnen jetzt besser?”, fragte er.
„Ja, danke, Sie sind besser als jeder Psychotherapeut. Ich denke, ich gehe wieder ein paar Leute anlächeln.”

Ja, lächeln, das konnte Renee wirklich - sie setzte eine Maske auf und lächelte. Harmony blickte ihr kurz nach und betrachtete dann die Vielfalt an teurem Einerlei der Häppchen. Alles hohe Küche, alles ein raffiniertes Geschmackserlebnis ... nichts, was man einfach so essen konnte, dass es einfach schmeckte. Für solche Dinge musste man sich anstrengen.
„Nimm es nicht so ernst, was sie übers Heiraten sagt”, bemerkte Liam, „Sie lässt sich halt gerade scheiden, das macht die Sache negativ.”
„Dad, es ist ja nicht so, als hättest du da Erfahrung.” Sie entschied sich für eine Art seltsam geformtes Käsebrötchen mit Melone, Walnuss und irgendeinem weissen Pulver.
„Stimmt.”
Harmony ass das Häppchen und spürte zumindest nicht sofort einen Brechreiz. Aber es war Kokos, was ihrer Meinung nach nicht auf ein Käsebrötchen passte, definitiv nicht. Sie kaute und schluckte tapfer und fragte: „Krieg ich nachher Pizza? Das hier mag ich nicht.”

Er musste lachen. „Der Koch wird sich nicht freuen. Ja, kriegst du. Gehen wir?” Sie bahnten sich den Weg zum Lift und verabschiedeten sich von jenen, an denen sie vorbeikamen, auch von Renee. Im Lift drückte Liam die Taste für das dritte Untergeschoss, während Mitchell eilig erst eine Hand zwischen die Türen streckte und dann ganz eintrat. „Mitch, Sie haben den Rummel also auch satt”, stellte Liam fest.
„Absolut”, nickte Hendrik. Schweigend fuhren Sie in die Tiefgarage und wandten sich dem dort stehenden Shuttle zu. Eine Gruppe von fünf Schülern sass auf dem schmutzigen Boden.
„Ach, Mist ... das ist das falsche Shuttle ...”, bemerkte einer der Schüler enttäuscht und stand auf. Harmony blinzelte verblüfft: Das war Alan! Und nicht nur das, sie nahm in jedem der Schüler einen Hauch Taelon wahr.

„Lasst mich raten: Ihr wollt für die Schülerzeitung ein Interview mit dem Kimera?”, fragte Liam.
„Naja, so irgendwie ja, General.”
„Daaad”, zupfte Harmony an seinem Ärmel, „ich muss dir was sagen!”
„Wisst ihr was?”, fragte Liam, „Einen regulären Platz habe ich noch frei, vier kann ich noch machen. Also? Fliegt ihr mit?”

* * *

Damit war das Shuttle voll, denn natürlich flogen sie mit. Lieb und nett, wie sowohl Harmony als auch Mitchell waren, hatten sie ihre Plätze mit bester Aussicht zweien aus der Schülergruppe überlassen - und die Gruppe staunte auch reichlich. Liam dehnte den eigentlich kurzen Flug kräftig aus, vermutlich flog er dreimal um den Planeten oder so.
Harmony sass neben Alan und starrte ins Blau der Interdimension. Seit dem Sommer hatte sie ihn nicht mehr gesehen und seitdem nicht einmal sehr fleissig Mails geschrieben - ein paar bekommen, ein paar geschickt, aber nicht gerade eine Flut an Liebesbriefen. Naja, sie war ja erst dreizehn.
Endlich sprang Dad aus der Interdimension und bot einen grossartigen Blick auf die Erde, die zerbrechliche blaue Murmel. Er wandte sich halb um und grinste.
„General, dürfen wir Sie interviewen?”, fragte Alan vorsichtig.
„Nur zu, frag.”

Pause. Offenbar hatte die Gruppe nur Fragen an den Kimera vorbereitet. Die Aura der Schüler änderte sich merkbar, Alan und sein Nachbar legten auch unauffällig ihre Handflächen aneinander. „Warum sind Sie Da'ans Beschützer geworden?”
„Ich wollte wissen, was mit Will Boone passiert ist, das war der eine Grund”, erklärte Liam, „Der andere war eine gewisse Faszination, die von Da'an ausging. Er wirkte nie so, als könnte er das tun, was Doors ihm nachsagte, und auch das wollte ich genau wissen.” Alans Nachbar zückte einen Notizblock, zog die Unterlippe ganz in den Mund und kritzelte die Antwort - als er damit fertig war, waren vier Finger blau.
„Haben Sie sich grosse Sorgen gemacht, als Sie dann gesagt haben, dass Sie beim Widerstand sind?”, fuhr Alan fort.
„Natürlich. Ich hatte sogar alles vorbereitet, mit Harmony komplett unterzutauchen.” Liam lächelte. „Glücklicherweise hat der Kimera zuvor Zo'or aus dem Spiel genommen. Vor Zo'ors Reaktion hätte ich mich bestimmt fürchten müssen, aber Da'an war doch ... verständnisvoll.”
„Oder dankbar? Trotz Widerstand haben Sie ihn doch ein paar Mal gerettet.”
„Das wohl auch, ja”, nickte Liam.
Alans Nachbar kritzelte, aber auch danach blieb es still und die Taelonhybriden sahen sich ratlos an. Nach kurzer Zeit gab Alan zu: „Uns fällt nichts mehr ein.”

„Wie wäre es damit?”, mischte sich Harmony ein, „Dad, wie bringt man den Alleinerzieher und den Soldaten unter einen Hut?”
„Indem man aufhört, dauerverfügbar zu sein. Glücklicherweise gab es bald nicht mehr sehr viele akute Bedrohungen mehr. Ein paar gute Freunde und ein Kindermädchen helfen auch.” Alans Nachbar schrieb auch das auf und damit war das Interview beendet, Liam streckte die Hände in die Steuerung und sprang in die Interdimension. Der Shuttleflug endete für die Schülergruppe an der Hauptportalstation von Washington, kaum später sprang Liam in die Betonhöhle unter der Widerstandsstadt.

„Dad?”
„Ja, Harmony?”
„Ich wollte dir nur sagen, dass einer der fünf eine Tante in Washington hat.”
„Ah. Deshalb hast du damals nach den Hybriden gefragt.”
„Du spürst das also auch”, nickte Harmony zufrieden und sprang aus dem Shuttle, „naja, dachte ich mir. Dad? Spüren die uns auch?” Die beiden Generäle folgten ihr bis in den Lift.
„Nein, wir verstecken unsere Energie zu gut”, erklärte Liam, „Aber die Taelonhybriden können das nicht.”
„Das waren Hybriden?”, war Mitchell erstaunt.
„Ja, Mitch, alle fünf”, grinste der Kimera, „Wie habe ich mich in diesem Interview geschlagen?”
„Sie haben meinen Namen jetzt wirklich lange genug, da kann Ihnen keiner mehr einen Strick drehen.”

Seinen Namen? General Mitchell Hendrik war der richtige Liam Kincaid? Jedenfalls konnte Harmony jetzt sicher sein, dass kein Original-Namensträger stinksauer in einem Bunker sass und sich überlegte, wie er den Namensdieb in die Finger bekam. Aber sie war ja dessen vorher schon sicher gewesen, immerhin hatte ihr Vater gesagt, dass es keine Einwände gegen die Namensnutzung gab.

Der Lift stoppte und die Türen öffneten sich, breit lächelnd stand Bürgermeisterin Bess MacNamara (die Trägerin des schwarzen Gürtels im Pfannenfechten, auch wenn Harmony nicht wusste, woher dieser Spitzname kam) schon da. „Ich glaube, Ihr Interview hatte die besten Quoten, die es jemals gab!”, erklärte sie, „Nicht nur hier, unzählige Europäer, Afrikaner und Araber sind mitten in der Nacht aufgestanden, um das live zu sehen. Und die Inder hatten das eine Frühstücksfernsehen, etwas anderes wurde zu der Zeit dort gar nicht gesendet.”
„Wow!”, sagte Harmony. Ihr Vater war wirklich berühmt. Und jetzt hatte auch die ganze Welt gesehen, dass ihr Grossvater lebte und ein guter Mensch ohne Imperativ war.

* * *

Wie versprochen gab es Pizza.
Eine verdammt grosse Pizza, von der auch Mitchell, Ron, Mabel und die Ampel-Brüder sowie auch Ariel und Cedrik samt Eltern satt wurden. Nur Liam hatte seine eigene grosse (nun, nicht so grosse) Pizza, nachdem er noch schnell ein Fass mit Kimera-Energie gefüllt hatte. Auch Zo'or war anwesend und Vorjak hatte sichtlich aufgegeben, Ariel das Sharing mit dem Taelon auszureden. - Dieser mochte nämlich Pizza und hatte leider selber keinen Geschmackssinn.
Harmony verdrückte zwei Stücke und liess noch Platz für eine gute Portion Schokoladepudding. Das Gesprächsthema war nur das Interview, vor allem die Reaktion des Publikums auf die Totgeglaubten. Hendrik sagte voraus, dass die Menschheit offener würde, wo ja ein garantiert nicht feindseliger Alien allgemein bekannt war. Harmony hoffte es.

Dem war aber nicht so. Zwar waren das Interview und der Kimera wochen- wenn nicht monatelang zwei der wichtigsten Gesprächsthemen in ganz Washington, den Taelons und Jaridians half das aber nichts. Aber im Gegensatz zum Kimera waren Taelons und Jaridians nicht gerade unbeleckt was grossangelegte Gewalthandlungen gegen Menschen oder andere unbeteiligte Spezies anging - auf der Erde kamen die Jaridians zwar besser weg als die Taelons, hier hatten sie ja noch nichts von dem angerichtet, was sie auf anderen von den Taelons benutzten Welten getan hatten, aber zu beliebt waren sie nun auch nicht.

Aber immerhin war kein Krieg. Nur Alltag.

Schule und washingtoner Freundeskreis, Familie und Freunde in der Widerstandsstadt, Besuch bei Da'an in der Botschaft, gelegentlich ein Flirt, einmal sogar ein Besuch von Mum und Ha'gel - es war einfach plötzlich das ganze Einkaufszentrum leer gewesen und Ha'gel hatte Harmony und Ariel, die gerade auf ihren ersten High-Heels zu balancieren versucht hatten, je einen Eislöffel in die Hand gedrückt.
Im Grunde war Harmony einfach ein normaler Teenager, und sie genoss es. Warum auch nicht? Das Leben war schliesslich schön.

 

Ende von Kapitel 9

 

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