Startseite Aktuelles Update Geschichten Kategorien Bilder Forum - Der Baum Links Hilfe Kontakt
  „Blut” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Februar 2011
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Harmony Kincaid sitzt auf dem Mutterschiff fest.
Zeitpunkt:  gleich danach
Charaktere:  Harmony, Le'or, Tonio, Mitchell Hendrik, Niral, Vorjak, Da'an, Augur
 

 

BLUT

Kapitel 8: Harmony II

 


Warum nur passierte das? Es war alles bestens gewesen! Und dann das!
Tonio, der sehr ungünstig auf ihr gelandet war, versuchte ihr aufzuhelfen, doch ein stechender Schmerz im rechten Bein liess Harmony diese Unterstützung zurückweisen. Das war also wohl gebrochen ... schöne Bescherung.
„Hülle und virtuelles Glas des Kernbereichs halten”, las Mitchell einige Anzeigen ab, „Wir verschwinden gerade hinter dem Mond, fürs erste kann uns die Waffe nicht noch einmal treffen.”
„Waffe?”, fragte Le'or.
„Der Ursprung ist in ... Südafrika”, fügte der General hinzu, „Dort fiel das Portalsubnetz aus, das ist mit Sicherheit kein Zufall.”
„Mit Sicherheit nicht”, bestätigte Arias und tastete über Harmonys Bein. Ihr zweifellos arg schmerzverzerrtes Gesicht sagte ihm aber schnell, dass er das gefälligst lassen sollte. „Tut sonst noch etwas weh, Harmony?”

Sonst noch etwas? Ihr tat alles weh und das sagte sie ihm auch!

„Das Mutterschiff hat den Einschlag mit aller verfügbaren Energie kompensiert. Gerade einmal der Kernbereich hat noch Atmosphäre und Gravitation, sonst ist fast alles ohne Energie”, meldete Hendrik, „Wären mehr Leute an Bord, hätten wir entweder beträchtliche Schäden oder beträchtliche Verluste. Die Kommunikation ist weg.”
„Wir sind fünf Stunden hinter dem Mond”, sagte Tonio, „genug Zeit, der jungen Dame ein paar Knochen einzurichten.”
„Und ihr vor allem ein paar Schmerzmittel zu geben!”, mischte sich Harmony ein.
„Und das, ja.”

Auf eine Handbewegung Le'ors hin wuchs unter ihr aus dem Boden eine Liege, die dann von zwei Generälen durch das Mutterschiff getragen wurde. Der Taelon folgte ihnen mit einigen Schritten Abstand.
Das Zwischenspiel in Mit'gais verlassenem Reich war nur kurz. Mitchell Hendrik wusste mit den wenigen nötigen Geräten passabel umzugehen, dass Harmony bald wieder auf ihren Beinen stehen konnte. Schmerzmittel gab es auch welche.
Arias erklärte dann, dass das Mutterschiff entschieden hatte, sich hinter dem Mond möglichst von der Erde zu entfernen. Le'or war offensichtlich kein Krieger und wusste mit all diesen Informationen nur sehr bedingt etwas anzufangen.
Taelons waren also darauf beschränkt, was sie an Wissen geerbt hatten, und lernten wenig dazu. Diesbezüglich bedauerte Harmony die gesamte Spezies.
Unter Hendriks Führung begaben sie sich in den Raum, den Mutter zur Systemkontrolle zur Verfügung stellte. Das Kommunikationssystem war zunächst das Wichtigste zu reparieren. Einige Stunden lang konnte sich das Schiff ja durchaus aus der Schusslinie halten.

„Warum bleiben wir überhaupt an Bord?”, fragte Harmony, als ihr die Situation langsam klar zu werden begann.
Es war der Taelon, der die Antwort nannte: „Die Ungeborenen brauchen unseren Schutz.” Einleuchtend. An die Taelonbabys hatte Harmony gar nicht gedacht. Ob Le'or auch Kinder hatte?
„Mutter, bitte sag uns, was beschädigt ist”, hob Mitchell seine Stimme.
Eine volle, wohlklingende Frauenstimme antwortete von überall her: „Mein Körper ist unverletzt, die eingebrachten Energiebahnen sind aber zumeist überlastet.”
„Dann sag uns, welche Systeme noch funktionieren.”
„Dies sind die Grundlegenden: Schwerkraft, Glashülle, Atemluft, Rückstosstriebwerk und innere Stasiskapsel. Weiters arbeiten jene, die von den Hauptenergiebahnen unabhängig sind.”
„Danke, Mutter”, sagte Hendrik, dann wandte er sich Le'or und Tonio zu.
„Die Hauptenergiebahnen sollten in einigen Stunden heilen”, erklärte der Taelon.
„Was dann? Zurückschiessen können wir ja nicht”, überlegte Harmony.

Mitchell grinste sie an: „Junge Dame, du bist ganz wie dein Vater.” War sie? Nun, sie war Kimera wie ihr Vater, was der General ja auch wusste, aber sie wollte sich keineswegs darüber definieren. „Die Kommunikation hängt an einer überlasteten Energiebahn, wir müssen uns anders behelfen. Was würdest du tun?”
Was würde sie tun?
„Sind denn irgendwo Satelliten, die wir mit den Globals erreichen könnten?”
„Tut mir leid, nein, wir sind auf der falschen Seite des Mondes. Fällt dir noch etwas ein?” Sowohl Tonio als auch Le'or wirkten zunehmend nervös, was wiederum Harmony nervös machte. Sie hielt hier alles auf! Ihretwegen ging nichts vorwärts! Unsicher sah sie in Hendriks Gesicht mit der langen Narbe auf der einen Wange - wo er die wohl her hatte? „Keine Idee?”, fragte er.
Doch ... doch! Sie hatte eine! „Die Shuttles!”
Er nickte: „Genau. Gehen wir.”

Klang einfach. Sie würden einfach zum Shuttlehangar gehen, in ein Shuttle steigen und dessen Kommunikationssystem nutzen. Nur kam es dazu gar nicht.
Antonio riss Harmony in eine Nische, heisse Energie schoss an ihr vorbei und die Kimera drückte sich heftig atmend an die Wand. Gegenüber hatten sich Mitchell und Le'or in Sicherheit gebracht. Arias hatte seinen Skrill geladen, wartete aber noch ab. Was war das jetzt? Enterte etwa jemand das Mutterschiff?
Leer war es immerhin, nicht einmal eine Handvoll dieser Freiwilligen, über die Harmony in der Schule gelernt hatte und an die sie sich schemenhaft erinnern konnte, war an Bord.
Antonio spähte aus der Nische und schoss ein paar Mal, dann zog er den Kopf wieder ein. Wer immer da draussen war, schoss auch fleissig zurück. Auch Mitchell schoss immer wieder, während Le'or sich konzentriert mit in der Luft schwebenden weissen und roten Kontrollen aus Licht beschäftigte. Die Generäle sollten das Enterkommando also nur hinhalten, bis der Taelon Erfolg hatte - wobei auch immer.

Der Taelon hatte Erfolg.
Das Schiff erzitterte, die Schüsse verstummten, die vier wagten sich aus ihren Nischen hervor. Ein gutes Stück weiter war der Korridor durch virtuelles Glas abgeschlossen, dahinter war nichts - Vakuum, und noch dahinter ging der Korridor weiter.
Und wie kamen sie jetzt zum Hangar?
Und wer hatte geentert? Sie sah Hendrik an und fragte. „Jaridian”, sagte er. Harmony runzelte erschrocken die Stirn. War der Krieg nicht vorbei? „Keine Sorge, denen ist nichts weiter passiert”, fuhr Mitchell fort, „Sie hatten allesamt raumtaugliche Anzüge an.”

Und sonst? Die waren doch bestimmt nicht alleine gekommen! Harmony war alles andere als ruhig, vielmehr hatte sie verdammte Angst.

General Mitchell Hendrik hatte keine Angst. Er wählte einen anderen Weg Richtung Shuttlehangar, die beiden Generäle behielten die Jugendliche und den Taelon zwischen sich und huschten mit gezogener Waffe respektive geladenem Skrill von Deckung zu Deckung. Harmony und Le'or konnten sich beide nur jeweils in einer Nische halbwegs entspannen, aber zumeist waren sie in Bewegung - jedenfalls kam es Harmony so vor.
Still und ruhig in einer Nische, dann eilige Schritte in die nächste Nische, um wieder still und ruhig zu warten. Immer wieder derselbe Ablauf, immer wieder. Fast hypnotisch, aber es drängte das bis zum Hals schlagende Herz nicht zurück.

Wäre nur Dad hier!

Plötzlich, gerade als sie aus einer Nische kamen, schob Antonio Harmony zurück und auch Le'or und Hendrik verbargen sich wieder. Es half nur leider nicht, Jaridians hatten sie aufgespürt und umstellten sie nun mit gefährlich glühenden Händen (Die Raumanzüge hatten sogar extra verschliessbare Öffnungen für Shaqarava - praktisch.), einer der Aliens nahm auch Mitchell seine Waffe ab.

Wäre nur Dad hier!

War er aber nicht. Harmony konnte nur froh sein, dass Arias sich schützend vor sie stellte.
„Sie beschützen nicht Ihren Companion?”, fragte der offensichtlich höchstrangige Jaridian, „Ein Mensch ist Ihnen wichtiger?” Er wirkte amüsiert - Harmony fand das merkwürdig.
„Dieser Mensch ist die Tochter eines sehr guten Freundes!”, sagte Antonio, „Mit Le'or verbindet mich nur die Arbeit am selben Projekt.”
„Erzählen Sie mir von diesem Projekt!” Damit hatte Tonio eine grellgelb glühende Hand an seinem Kopf.
„Ich werde erzählen!”, unterbrach der Taelon und trat einen Schritt vor, was ihm ebenfalls eine Drohung per Shaqarava brachte. „Die Menschen dulden uns zwar, doch sie trauen uns nicht”, sagte er, „Das Projekt ist die Besiedelung eines anderen Planeten.”
„Eines anderen Planeten, mit anderen implantierbaren Geschöpfen ...”, knirschte eine weibliche Jaridian drei Schritte schräg hinter dem Anführer.
„Der Planet ist unbelebt!”, wandte Hendrik ein, „Keine müde Bazille war dort, bevor die Taelons ihre ersten Häuser hingestellt haben.”

Diese Diskussion schien die Jaridians nicht sehr zu befriedigen. Sie scheuchten ihre Gefangenen den Korridor zurück, bis zu einer Abzweigung, die sie nahmen. Eine Versammlungshalle, offensichtlich, nun aber mit einigen Geräten der Jaridians versehen, die die Halle zu einem Gefängnis machte. Sogar durch den Boden kribbelte es leicht in den Füssen, auch dort war also ein Energiefeld.
Kaum später waren zwei Menschen, eine Kimerahybridin und ein Taelon alleine.

„Und jetzt?”, fragte Mitchell. Tonio schoss mit seinem Skrill auf das Energiefeld, das sie einschloss und erwartungsgemäss hielt, dann zuckte er mit den Schultern. „Also auf General Kincaid warten ...”
„Dad kommt sicher.” Harmony wusste es. Ihr Vater liess sie nicht im Stich, niemals.
„Ich bin ... recht sicher, dass das Gemeinwesen meine Unruhe wahrnimmt”, brachte sich auch Le'or ein, „im besten Fall also auch der Kimera.” - Auch Dad.
Harmony schaffte es, sich etwas zu beruhigen.
„Da wir hier ohnehin festsitzen ... was wollen die Jaridians?”, sah Antonio den Taelon kritisch an, „Die Synode behauptete, der Krieg sei vorbei! Mit Verlaub, das sieht nicht so aus.”
Diese Frage stellte sich auch Harmony, sie drehte den Kopf zu Le'or und wartete auf seine Antwort. Nur kam keine Antwort. Der Taelon verlor beschämt seine Fassade, leuchtete mit kräftigen Energiebahnen die gesamte Halle aus und erlangte einige Zeit später sichtlich mit einiger Mühe die Fassung zurück. Er schien sich das alles ebensowenig erklären zu können wie Arias.
„Es ist nicht gesagt, dass die Jaridians eine politische Einheit sind”, bemerkte Hendrik, „Genaugenommen wissen wir fast nichts über die Jaridians.” Harmony wusste auch kaum etwas über die Jaridians, im Grunde nur einiges, was über Vorjak erzählt wurde, und das, was sie an Ariel und Cedrik sehen hatte können. „Le'or, erzählen Sie uns, was Sie über die Jaridians wissen!”, verlangte Mitchell.
„Ich weiss nicht mehr als Sie!”
„Das ist nicht, was ich von Ihnen hören will!”, sagte er, „Le'or, Sie als Taelon wissen mit Sicherheit so einiges über die Jaridians - und ich will das jetzt alles auch wissen.”
Der Taelon sah ihn von oben herab an. „General Hendrik, Ihnen sollte bewusst sein, dass unsere Informationen keineswegs aktuell sind, sondern vielmehr tausende von Jahren alt”, sagte er kühl, „Nur ein Taelon traf seit damals direkt mit einem Jaridian zusammen und überlebte es: Da'an.”
„Zo'or”, fügte Arias hinzu, „Er auch.”
„Es ist allein das Wort des Kimera, dass Zo'or noch lebt!”, widersprach Le'or energisch, „Ich meinerseits bezweifle es sehr. Ein Taelon überlebt nicht lange ohne das Gemeinwesen.”
„Ich habe ihn vor vier Wochen lebend gesehen”, stellte Mitchell trocken fest, „Es war auch nicht das erste Mal, dass der Kimera Da'an und mich zu Zo'or brachte.”
Tatsächlich? Ich bin überrascht, dass die Synode davon nichts wusste.”
„Das war es, was der Kimera forderte, sonst hätte er uns nicht zu Zo'or gebracht.”
„Da'an war schon immer ein sehr sentimentales Individuum unserer Spezies”, reckte Le'or den Kopf wieder etwas höher, „selten war ihm etwas wichtiger als sein Kind.” Eine Hand vollführte elegante Fingergymnastik.
„Sie sollten Ihre taelonische Überheblichkeit mal abstellen”, sagte Arias, „Sie sind ohnehin nicht und jetzt schon gar nicht in der Position, dieser Charaktereigenschaft zu frönen.” Damit war das Geplänkel glücklicherweise beendet und der Taelon und die Generäle widmeten sich der aktuellen Situation und wie man sie beenden könnte.

Harmony wunderte sich derweil einfach weiter. Zo'or war Da'ans Kind?
Toll! Damit hatte sie ja noch einen Verwandten. Ob er das wusste?

* * *

Der Jaridian-Anführer war wieder da. Er tauchte einfach aus dem Nichts auf - oder vielmehr war er wohl die ganze Zeit getarnt dagewesen. Harmony musterte ihn und er musterte sie. „Wie alt bist du, Menschenkind?”, fragte er schliesslich.
Zwölf.”
„Dein Vater leitet die Taelonsicherheit?”
Ja.”
„Dann wird also der Leiter der Taelonsicherheit mir zuhören!”, stellte der Jaridian zufrieden fest. Er zog ein Gerät hervor und drückte einige Tasten, worauf erst ein Energiefeld zwischen Harmony und den anderen Gefangenen erschien und dann jenes zwischen ihr und dem Jaridian verschwand. „Folge mir, Menschenkind.” Sie gehorchte mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und unter vergeblichem Protest der Generäle.

Eine verdammte Erpressung!

Die Jaridians hatten auf der Brücke ihre eigene Kontrollzentrale eingerichtet. Vor allem nutzten sie klobige, irgendwie grünliche Technologie, aber sie beherrschten auch einige der taelonischen Systeme des Mutterschiffes. Der Anführer setzte sich auf den Thron und ein anderer Jaridian stellte etwas ein, worauf Harmonys Vater auf dem Pilotensessel eines Shuttles im Datenstrom erschien.
„Dad!”
„Geht es dir gut?”
„Äh ... nein? Ich bin gefangen?”
„Ich bin gleich da.”
„Davon rate ich Ihnen ab!”, ergriff der Jaridian das Wort, „Wenn Sie dem Mutterschiff nicht fernbleiben, könnte ich mich zu unangenehmen Dingen verleitet fühlen.”
„Ich bleibe dem Mutterschiff fern - und sonst noch?”, fragte Liam kühl.
„Ich will den Kimera an Bord haben!”, erklärte der Jaridian, „Informieren Sie ihn, er soll sich ein Shuttle nehmen.”
„Ich fliege zu ihm und gebe ihm meines.”
„Gut.” Er wischte durch den Datenstrom und Dad verschwand.
„Was wollen Sie vom Kimera?”, fragte Harmony.
Der Jaridian gab keine Antwort, was die Jugendliche alles andere als beruhigte. Das war doch eine Falle! Einige Jaridians bekamen die Anweisung, den Kimera im Hangar zu erwarten und ihn auf die Brücke zu führen. Immerhin sollten sie ihn nicht gleich umbringen. Hoffentlich wusste Liam, worauf er sich einliess.
Die Jaridians waren allesamt äusserst beschäftigt, nur einer hatte ein wachsames Auge auf Harmony, die sich durchaus ängstlich an eine Wand drückte. Wenn sie wenigstens wie ihr Vater richtig Kimera wäre, mit kräftigem Shaqarava und all dem, was sie noch gar nicht kannte. Dann würde sie sich vielleicht besser fühlen. Dann könnte sie sich vielleicht sogar befreien.
Aber nein ...
Zumindest glaubten die Jaridians, dass sie ein Mensch war. Wenigstens das.

* * *

Es dauerte nicht lange, bis der Kimera auf der Brücke ankam. Harmony konnte nicht vermeiden, dass sie ihren Vater anstarrte. Er sah fast wie ein Taelon aus, es waren nur die Farben anders. Unter seiner Fassade schimmerten weisse Energiebahnen statt blauvioletter, seine Kleidung war weissglänzend, seine Augen blassgrün. Und doch erkannte sie ihn am Gesicht, wenngleich auch nur, weil sie wusste, dass dieser Kimera ihr Vater war.
Im Staunen war Harmony nicht alleine, es erging den Jaridians ebenso.

Der Anführer ergriff schliesslich das Wort: „Kimera, wie lautet Ihr Name?”
„Wie lautet Ihrer, Jaridian?”
„Ich bin Kommandant Niral.”
„Mein Vater gab mir den Namen Ga'hil - ich habe dann lieber den benutzt, den mir meine Mutter gab.”
„Und jener lautet?” Niral verschränkte die Arme.
„Jenen zu wissen steht Ihnen nicht zu. Benutzen Sie den anderen.” Ga'hil umrundete den Jaridian auf dem Thron halb und legte den Kopf schief. „Weswegen haben Sie mich hergebeten?”
„Ich habe Sie nicht hergebeten”, widersprach Niral, „ich habe Sie herbefohlen!”
„Sie haben mich hergebeten, denn solchen Befehlen folge ich nicht”, beharrte Liam, „Begründen Sie Ihre Bitte!”
Niral drehte den Thron und starrte ihn feindselig an. „Ich habe Sie herbefohlen, damit Sie die Taelons an Bord am Leben erhalten, während wir ihnen ihre Grundenergie entziehen”, knurrte er, „Unerfreulicherweise sind nur wenige Taelons an Bord ... ich erfuhr, dass sie einen Planeten besiedeln. Aber die Taelons in Stasis werden genügen.”
„Fieber”, stellte Liam fest.
„Ja. Die Synode weigert sich, uns mehr Grundenergie zukommen zu lassen, also holen wir uns, was wir brauchen!”
„Hmm. Ich muss wohl überlesen haben, dass der Friedensvertrag das gestattet.” Liam ging weiter und beendete die Umkreisung. „Niral, ich stelle mich nicht zur Verfügung.”
Der Jaridian musterte ihn knapp und bemerkte: „Also lassen Sie die Taelons sterben. Das stört mich nicht.” Er winkte einem seiner Leute: „Beginnt mit dem Taelon, der bei den beiden Menschen ist.”
Liam packte diesen am Arm, bevor er die Brücke verlassen konnte. „Sie verstehen mich falsch”, sagte er eisig, „Ich lasse auch das nicht zu.”

Jetzt erlebte Harmony ihren Vater wirklich in Aktion. Blendend hell streckte sein Shaqarava Harmonys Bewacher und den Jaridian, der Le'or schröpfen sollte, nieder, dann stellte Liam sich schützend vor seine Tochter und fing die herbeisausenden Shaqarava-Entladungen der Jaridians mit seinen Händen auf. Seine Fassade war durchsichtig und zeigte nicht nur das feine weisse Energiebahnennetz, sondern auch grüne Hauptenergiebahnen.

Starke Hauptenergiebahnen. Da'ans waren dünne Fädchen im Vergleich.

Die Jaridians waren auch gebührend beeindruckt. Ja, das war ihr Vater, Harmony war richtig stolz. Und sie würde das alles auch einmal können! Cool, ach was, geil.
„Was hatten Sie noch gleich vor?”, fragte Liam mit drohend erhobenen Händen.
„Einen der beiden gefangenen Menschen zu töten”, knurrte Niral ärgerlich.
„Davon rate ich Ihnen ab”, sagte Liam, „Ihre Leute leben schliesslich auch alle noch und zudem wäre Mutter alles andere als begeistert.”
„Mutter?”
„Das Schiff. Mutter hat ihren eigenen Willen.” Er senkte seine Hände vorsichtig, die Jaridians machten keine Anstalten, den Kampf wieder aufzunehmen. „Sie ist in der Lage, die innere Stasiskapsel zu versiegeln und auszustossen. Ich nehme an, das wäre sehr gegen Ihre Interessen.”
Mutter ist unter unserer Kontrolle!”, knurrte Niral. War sie aber nicht. Sie bewies es, indem sie den Hauptdatenstrom abschaltete. „Bringen Sie das in Ordnung!”, bekam ein Jaridian-Lakai daraufhin an den Kopf geworfen.
Mutter hat ihren eigenen Willen”, wiederholte der Kimera, „und Sie sollten sich nicht mit ihr anlegen. Mit mir übrigens auch nicht.”
„Sie sind auch nicht sehr anders als ein Taelon - und Taelons haben wir schon viele getötet.”
„Wie Sie meinen.” Liam verschränkte seine Arme. „Kommen wir darauf zurück, dass Sie Grundenergie wollen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie sie erhalten.”
„Sie stellen sich also zur Verfügung.”
„Keineswegs. Sie lassen Ihre Gefangenen frei und verlassen dieses Schiff, und dann können wir reden.”
„Nein”, Niral aktivierte ein Kommunikationsgerät, „Tötet einen der Menschen.”

Scheisse!

Harmony bezweifelte arg, dass ihr Vater rechtzeitig dort sein konnte.
Liam machte auch keinerlei Anstalten, loszulaufen, um den Todgeweihten zu retten. Nur konnte seine Tochter nicht erkennen, ob er wirklich zuversichtlich war, oder innerlich resigniert hatte. Sie ertappte sich dabei, zu überlegen, wessen Tod schlimmer wäre.
Würde Mutter etwas tun?
Harmony wollte nervös herumzappeln, aber sie hielt still - bis Niral die Meldung erhielt, dass die Gefangenen soeben geflohen waren. „Ja, Mutter!”, rief sie und streckte eine Faust in die Höhe.
„Sch!”, machte Liam. An sich liess sie sich ja nicht auf die Art erziehen, aber der Situation entsprechend gehorchte sie diesmal. „Also, Niral?”, fragte er nach einem Augenblick.
„Ich kann Sie zu nichts mehr zwingen”, stellte der Jaridian sichtlich verärgert fest, „Ich hoffe, das Wohl der gesamten Spezies ist Ihnen nicht gleichgültig.”
Ga'hil schüttelte den Kopf und knurrte: „Verlassen Sie dieses Schiff! Dann sehe ich, was ich tun kann.”
Schweigen, dann: „Rückzug!”

Na bitte. Dad hatte gewonnen. Die beiden Kimera beobachteten die Jaridians dabei, ihre Geräte abzubauen und dann eilig abzuziehen. Liam setzte sich auf den Thron, aktivierte mit einer Handbewegung den Hauptdatenstrom und legte den Kopf schief.
Le'or erschien, sichtlich fühlte er sich nicht wohl. „Wir sind unverletzt und frei”, sagte er.
„General Arias, nehmen Sie ein Shuttle und bringen Sie Le'or in die Botschaft nach Washington”, bestimmte Liam, „General Hendrik, Vorjak, Sie bleiben an Bord und treffen sich mit mir und General Kincaid.”
„Sollte ich nicht Miss Kincaid ebenfalls nach Washington bringen?”, fragte Tonio.
„Nein, ihr Vater wird sie selbst von Bord bringen.”

Ja, so konnte man es auch sagen. Liam wischte durch den Datenstrom und liess ihn verschwinden.

„Dad?”, murmelte Harmony.
„Ja, was ist?”
„Heisst du wirklich Ga'hil?”
Er grinste: „Finde es heraus. Erinnere dich.”
„Du bist gemein.” Aber wirklich! Konnte er ihr das nicht einfach sagen?
„Geht es dir gut?”, fragte er stattdessen. Was für ein Themenwechsel! Aber er hatte ja Recht, das Erlebnis war wirklich nicht ohne gewesen. Harmony schlang ihre Arme um ihn und atmete tief durch. „Mein Flöckchen, alles ist gut”, sagte er und streichelte ihren Rücken.
„Dad ... ich hatte verdammt Schiss.”
„Ist gut. Das darf man.”

* * *

Harmony sprang eilig auf und zwei Schritte zurück, als sie bemerkte, dass sie nicht mehr alleine waren. Ihr Vater teilte ihre plötzliche Unruhe ganz und gar nicht, stattdessen begrüsste er Hendrik und einen Jaridian freundlich. Nicht irgendeinen Jaridian, denn diesen Jaridian kannte Harmony von einem Foto: Ariels Vater, Vorjak.
„Arias und Le'or haben die Geschichte geschluckt, dass Sie wie Vorjak getarnt im Shuttle waren”, sagte Mitchell, „Machen Sie sich keine Sorge um Ihre Identität, Liam.”
„Sehr gut. Vorjak, kennen Sie einen Jaridian namens Niral?”
„Flüchtig”, bestätigte der Jaridian, „und er ist es tatsächlich, ich habe seinen Befehl gehört.”
Jetzt endlich stand Liam vom Thron auf und marschierte nachdenklich hin und her. „Wie düster sieht es bei den jaridianischen Grundenergievorräten wirklich aus?”, fragte er, „Bei mir hat sich niemand beschwert.”
Vorjak stellte sich ihm in den Weg und erklärte: „Sie genügen. Allerdings gibt es Fraktionen, die dagegen sind, eine Warteliste zu haben.” Er wechselte einen Blick mit Liam. „Die Warteliste ist kurz und wird nicht länger - eher kürzer. Wir haben genug.”
„Wartelisten werden selten als fair angesehen.”
„Nur ein logistisches Problem”, winkte der Jaridian ab, „Die Kolonien und Stationen sind zu verstreut, um überall auf jeden möglichen Bedarf vorbereitet zu sein. Tatsächlich wird weniger Grundenergie verbraucht, als wir bekommen.”
„Aber wenn es überall genug Vorräte gäbe, wäre auch Niral zufrieden?”, mischte sich Harmony ein.
„Kaum.”
Verdutzt runzelte sie die Stirn. „Warum nicht?” Worüber könnte Niral sich denn noch beschweren?
„Harmony, Niral zählt nicht zu jenen, die den Taelons ein Leben gönnen”, erklärte Vorjak, „Der Krieg der Waffen ist vorbei, der Krieg in den Gedanken nicht.”

Vielleicht hatte sie das eigentlich gar nicht wissen wollen. Nein, eigentlich hatte sie das wirklich nicht wissen wollen. Am besten vergass sie es gleich wieder. Nur ging das dummerweise nicht ... ihr Gedächtnis tat auch nie das, was sie wollte - es merkte sich solche Dinge und vergass dafür binomische Formeln und lateinische Vokabeln und Deklinationen.
Vincere, das wusste sie aber, siegen. Und da war wieder der Bezug zum Krieg.
Dad nahm sie fürsorglich wieder in die Arme und Harmony starrte bedrückt an seinen Hauptenergiebahnen vorbei direkt durch ihn hindurch.
Sie liess ihn nicht los. Bei ihrem Vater war sie sicher, er war der stärkste, der beste, er war der Kimera. Harmony wusste genau, dass er ihre Festung gegen den Krieg war, er hielt all das von ihr fern, er schützte sie, er stellte sich vor sie, wenn sie in Gefahr war.

So knapp neben ihm, dass seine Energie durch ihre Kleidung ihren Arm und ihre linke Seite zum kribbeln brachte, ebenso ihre rechte Schulter und die obere Hälfte ihres Rückens, marschierte sie Richtung Hangar. Links neben Liam ging Vorjak, rechts neben Harmony ging Hendrik.
Die drei Männer diskutierten die Geschehnisse ausgiebig, wodurch die Jugendliche so einiges erfuhr, was sie nicht gedacht hatte. Es war nämlich keineswegs Mutter gewesen, die die Gefangenen befreit hatte, sondern Vorjak, ebensowenig hatte das Schiff aus eigenem Antrieb den Datenstrom ausgeschaltet - die Anweisung dazu war durch ein energetisches Signal von Liam gekommen.
Eigentlich war es logisch, dass Kimera das konnten - Taelons konnten es ja auch. Da'an hatte durchaus gelegentlich erklärt, dass es auch ohne die Gesten ging.
Die Jaridians waren auf ihr eigenes Schiff zurückgekehrt und hatten auch ihre Leute aus dem Weltall eingesammelt, während Mutter das Stasisdeck versiegelt hatte. Selbst wenn ein weiteres Enterkommando käme, das Schiff würde auch nur mehr auf Taelons oder Kimera hören.
Entgegen Harmonys Wunsch musste sie Dad loslassen und sich auf einen Passagiersitz des Shuttles setzen. Brav schnallte sie sich an, Mitchell und Vorjak taten dasselbe, dann war auch Liam bereit und - nein, er steuerte das Shuttle nicht gemächlich aus dem Hangar, er sprang gleich in die Interdimension.
In den folgenden Augenblicken baute er seine noch dünne, durchsichtige Fassade samt weisser Kleidung wieder ganz auf, dann spriessten Haare und sein Aussehen wurde ganz menschlich - nur der glänzende Anzug samt weissen Plateauschuhen (Plateauschuhe!) blieb noch. Sichtlich bekamen das Hendrik und der Jaridian auch nicht sehr häufig zu sehen, sie verfolgten die Veränderung ebenso gebannt wie Harmony.
Liams nächste Aktion war auch nicht ohne: Eine schnelle Handbewegung und das blaue Farbenspiel draussen wich einer Betonhöhle. Routiniert bremste er das Shuttle ab und landete es direkt vor einem Haufen Stoff und Leder.
Vorjak verabschiedete sich hier, Liam zog sich an, während die Kimerakleidung sich in grüne Energie auflöste, und stieg wieder ein. Gerade als das Shuttle wieder in der Interdimension verschwand, sah Harmony noch Ariel und Cedrik, die aus einem Aufzug auf ihren Vater zustürmten.

* * *

Da'an erwartete sie im Hangar der Botschaft und Harmony liess es sich nicht nehmen, ihm um den Hals zu fallen. Wie immer war der Taelon davon nicht allzu begeistert, aber er sträubte sich auch nicht zu sehr.
Arias und Le'or waren im Empfangsraum der Botschaft und sehr beschäftigt. Sie versuchten, etwas über die Waffe in Südafrika herauszufinden, und hatten dabei eine ausgezeichnete Quelle: Augur.
Irgendwo im Hintergrund quengelte sogar seine Tochter Lili und man konnte über den Datenstrom auch sehen, wie er so nebenher schnell auf ihrem Global ein Spiel einstellte.
Da'an nahm unterdessen auf seinem violetten Thron Platz. „General Hoshide liess mitteilen, dass das japanische Portalsubnetz wieder funktionsfähig ist”, sagte der Taelon, „ebenso meldete sie auch, dass der Forschungskomplex gesichert ist, doch Mit'gai stimmt darin nicht mit ihr überein.”
„Wenn Mamiko es sagt, ist der Komplex gesichert”, widersprach Liam, „Mit'gais militärische Kenntnisse sind zu gering, als dass er es beurteilen könnte.”
„Wie Sie meinen, General Kincaid.”
Er meinte. Vor allem meinte er aber, dass Südafrika eine höhere Priorität als Japan hatte, zumal Mit'gai im Komplex ohnehin sicher war. Da'an nahm seine erfahrene Einschätzung an und betraute Hendrik damit, sich um den bisher vernachlässigten eingeschlossenen Forschungskomplex in Kiew zu kümmern. Liam sollte zum Komplex in Austin reisen, aber er widersprach wieder: „Schicken Sie Colonel Wood, Da'an, ich habe Anweisung vom Kimera, Sie zu ihm zu bringen.”
Ja, so konnte man es auch sagen.
Der Taelon informierte den genannten Soldaten über die Aufgabe, dann begab er sich in den Hangar. Liam legte Harmony eine Hand auf die Schulter, lächelte und sagte: „Und du, du gehst ins Flat Planet, ja? Lass dich von Molly begleiten.”

Da half nichts, Dad hatte zu tun und Harmony durfte nicht mit. Schnell umarmte sie ihn noch, dann liess sie sich von der Freiwilligen Molly Watson durch die Stadt begleiten und pflanzte sich im Hinterzimmer des Flat Planet schliesslich gemeinsam mit Lili vor den Fernseher.

* * *

Stunde um Stunde brachte die Hybridin hinter sich. Sie sah fern, sie spielte Schach gegen Lili (und verlor jedes Spiel), sie spielte Scrabble mit Lili (und gewann), sie sah Lili zu, wie diese in 68 Sekunden den Zauberwürfel löste, und setzte sich schliesslich alleine in eine Ecke. Harmony versuchte sich zu konzentrieren, an ihr genetisches Gedächtnis heranzukommen, aber es gelang ihr kaum. Offensichtlich brauchte sie ähnliche Situationen, denn gerade jetzt erinnerte sie sich nur daran, dass auch ihr Vater einmal konzentriert in einer Ecke (in dieser Ecke) gesessen war und versucht hatte, sich zu erinnern.
Er hatte sich also auch nicht von Anfang an an alles erinnert.
„Harmony?”, fragte Augur irritiert. - Liam?, schwang mit.
„Ich versuche mich zu erinnern.” Nicht nur sie sagte es, auch ihr Vater sagte es in ihren Gedanken.
„Und?” - Augurs Wort samt Echo in ihrem Gedächtnis.
Das genetische Gedächtnis. Ich versuche zu wissen, was Sandoval weiss.
Das sagte Harmony natürlich nicht, sie sagte: „Ich erinnere mich an eine ganz ähnliche Situation hier, vor meiner Geburt, aber ich komme nicht weiter.”
„Oh!”, war Augur sichtlich erstaunt, „Stimmt, Liam ist auch da rumgesessen.”
„Erzähl mir von damals”, bat Harmony, „vielleicht kann ich mich ja erinnern.”
Er setzte sich zu ihr auf den Boden und begann zu erzählen. Von Lili Marquette, Ariels Mutter, nach der Augur seine Tochter benannt hatte. Von Siobhán Beckett, Harmonys Grossmutter, die in Liams Armen gestorben war. Ja, Harmony erinnerte sich, sie kannte die beiden Frauen, wenngleich sie keine von ihnen kennengelernt hatte - und Siobhán nie kennenlernen würde. Augur erzählte von Jonathan Doors, von Melissa Park, er erzählte sogar von William Boone, den ja auch Liam nicht persönlich gekannt hatte. Harmony spürte die Erinnerungen, sie kannte jeden von ihnen ... und nicht nur sie.

„Ich kann sie sehen ... sie ist wunderschön ...”

„Wer?”, fragte Augur.
Harmony sah ihn an und senkte ihren Blick wieder etwas: „Dee-Dee Sandoval ... was ist mit ihr passiert?”
„Krebs, vor zwei Jahren. Nein, Boone hat sie nicht umgebracht.”
„Er hat sie nicht umgebracht”, murmelte Harmony zufrieden, „Ja, Dad wusste das ... ich erinnere mich!”
Zumindest machte das genetische Gedächtnis nicht mehr mit wüsten Gedächtnisblitzen oder sonstigen Schlägen ins Gesicht auf sich aufmerksam. Diese Erinnerungen zogen mehr wie ein Film vorbei.
„Und Shaqarava?”, fragte Augur.
„Leuchten kann es”, gab Harmony trocken zurück, „Ariel sagt, ihres kann seit zwei Jahren nur leuchten.”
„Aber du bist nicht Halbjaridian, sondern ... wie auch immer mit Vierteln, Fünfteln oder Sechsteln, keine Ahnung, jedenfalls Kimera, Taelon und Jaridian! Sollte es da mit dem Shaqarava nicht einfacher sein?”
„Wieso? Taelons haben ja keines.” Er schien sich ohrfeigen zu wollen und Harmony musste grinsen. „Das mit den Vierteln, Fünfteln oder Sechsteln ...”, setzte sie zu fragen an, seufzte aber dann nur.
„Oh”, sprang Augur auf, „ich kann ja nachsehen, ob Julianne dazu irgendwelche Daten hat!” Er war definitiv in seinem Element und Harmony folgte ihm verdutzt zum Tisch, auf dem ein Laptop stand. Energisch schlug der Hacker in die Tasten - und war kaum später damit auch fertig: „Sieh mal, Harmony.”
Sie sah ein Bild, mit dem sie überhaupt nichts anfangen konnte und zuckte hilflos mit den Schultern.
„Das sind Liams Gene! Von aussen menschlich, aber die energetischen Kimeragene haben sich fast unsichtbar angelagert. Eine Tripelhelix, sozusagen, aber das ist vereinfacht.”
„Und Mum?”
Ein Tastendruck und das Bild hatte sich verändert. „Das ...” Augur beugte sich verdutzt vor und runzelte die Stirn. „Das ist nicht möglich.” Er schüttelte den Kopf, klopfte einige Befehle in den Rechner, dann sprang ein Fenster auf und sagte: 50%. „Das ist ... interessant. Deine Mutter hat nur die Hälfte ihrer menschlichen Gene über das Experiment behalten.”
„Ah?”, machte Harmony.
„Damit müsstest du rein rechnerisch wohl zur Hälfte Mensch sein”, erklärte Augur, „und ansonsten jeweils ein Sechstel Kimera, Jaridian und Taelon.”

Rechnerisch war also klar, was sie war, und der Hacker trieb auch einen Scan ihrer Gene auf, der es bestätigte. Harmony war also tatsächlich weniger Mensch als ihr Vater anstatt mehr. Wer hätte gedacht, dass Mum durch das Experiment so viele ausserirdische Gene bekommen hatte, statt nur einer ausgewählten Handvoll und der Evolutionskeule!

* * *

Glücklicherweise hatte Harmony nicht die Gelegenheit, darüber zu lange nachzudenken. Liam kam an und sie sprang auf und umarmte ihn. Er war zufrieden und unbesorgt. Die Waffe in Südafrika war gefunden und ausser Funktion gesetzt worden, die Forschungskomplexe gesichert. Die meisten Demonstranten, die Mitläufer, hatten wohl auch akzeptiert, dass sie benutzt worden waren - von Jaridians. Manipulative Aliens waren nicht sehr beliebt, gleich welche.
Niral sass tief in der Patsche - offenbar hatte er seinen Leuten versichert, Gewalt wäre die einzige Möglichkeit, an mehr Grundenergie zu kommen. Und dann erklärte sich Synodenführer Da'an auf einen Wink des Kimera tatsächlich freiwillig bereit, mehr herzugeben. Allerdings waren nicht alle Taelons gar so begeistert davon, auch wenn sie sich fügten.

„Sie müssen nur täglich einen Grundenergiebehälter auffüllen”, zeigte Liam wenig Verständnis, „Nur so einen ganz kleinen, nicht ein ganzes Fass wie ich.” Fass? Harmony runzelte die Stirn. „Sieh es dir einfach an”, lächelte er und zog sie in einen Nebenraum.

Es war unglaublich! Dicke weissgrüne Energiestränge zogen von seinen Händen in einen einen Meter hohen Glaszylinder, bildeten dort Wirbelmuster und sanken sehr langsam zu Boden. Es dauerte kaum zehn Minuten, bis der Zylinder voll war, und dann nahm sich Liam als erstes eine Familienpizza vor, von der Harmony gerade mal ein Achtel mit Mühe hinunterbrachte.
Nun, er brauchte die Energie ja, während Harmony, auch wenn es ihr lange vergangen vorkam, vor nicht einmal sechs Stunden noch einige (na gut, viele) Kuchenstückchen verinnerlicht hatte.
„Und? Hast du schon herausgefunden, ob ich wirklich Ga'hil heisse?”
Sie schüttelte den Kopf: „Es lässt sich nicht richtig steuern. Augur hat mir ein paar Sachen erzählt und die gingen auch, aber das war mehr so ... gefühlt.” Sie zog die Beine an. „Emotionale Sachen halt. Deine Mum zum Beispiel, oder Dee-Dee ...”
„Hmm.”
„Lili Marquette, Boone ... Doors auch, was Augur halt so erzählt hat.”
„Maiya und Jason?”, fragte Liam.
Harmony schüttelte den Kopf: „Augur hat nicht von ihnen erzählt. Ich weiss nur, was Mabel gesagt hat.”
Er stellte die Teller zusammen und stand auf. „Ich sollte dich erst mal ins Bett stecken”, sagte er, „Morgen erzähle ich dir dann von Maiya und Jason.”

Als wäre sie ein Kind! Dabei war er doch auch erst vierzehn ... naja, vierzehn Jahre lang erwachsen. Harmony sah ihn möglichst böse an, als er sich kurz später bei der Pyjamaträgerin nach ihrer Zahnputzsituation erkundigte.
Sie war zwölf, ja? Zwölf! Sie war raus aus der Trotzphase und sie war gross. Ein bisschen grösser als Ronny sogar, vielleicht ein oder zwei Finger. Zugegeben, so gross wie Dad war sie nicht, aber das musste sie auch nicht - Männer waren ja grösser als Frauen und wenn sie grösser als Ronny war, war sie gross.
Augur schleppte eine Bettdecke und ein Kissen herbei und wünschte ihr eine gute Nacht, dann war er wieder weg. Harmony fand es unfair. Warum feierten und lachten die Erwachsenen immer dann, wenn die Kinder im Bett waren? - Und das auch noch so laut! Besonders Street lachte ja sehr markant.
Wahrscheinlich, damit Lili wenigstens im Schlaf merkte, dass ihre Mutter manchmal auch zuhause war.

* * *

Für Harmonys Gefühl lachten die Erwachsenen die ganze Nacht durch, aber schliesslich guckte die Sonne zum Fenster herein und es war still. Auf Zehenspitzen tappte die Hybridin durchs Apartment und fand in der Küche ihren Vater - im Bademantel vor einem Kreuzworträtsel und einer Tasse Kaffee.
„Morgen”, grüsste er, „1491 geborener englischer König?”
„Kein Schimmer.”
„Aufwachen! Nachdenken! Er ist durchaus bekannt.”
„Daaaad ...”
„Ein Tipp: Er hat sich mit dem Papst angelegt”, lächelte Liam, „und wurde exkommuniziert.”
Da klingelte etwas. „Heinrich mit den vielen Frauen? Der achte?” Nicken. „Na bitte, und das trotz der Uhrzeit. Ich bin gut!”
„Es ist halb zwölf”, widersprach ihr Vater, „Glücklicherweise ist auch Sonntag.” Stimmte. Deshalb riss Harmony jetzt den Kühlschrank auf und suchte irgendetwas möglichst Ungesundes - erstaunlicherweise gab es nichts. Augur und Lili standen wirklich so sehr unter Bio-Vollkorn-Fettarm-Meisterin J Streets Pantoffel? „Schokoaufstrich, Schrank rechts, Löffel in der zweiten Schublade”, half Liam seiner Tochter, „Soll ich dir von Maiya und Jason erzählen?”
„Bitte, ja”, nickte sie, griff nach dem Glas manifestierter Ernährungssünde und begann zu löffeln.
„Doors versuchte mal, mich umzubringen. Shuttleunglück, fürchterlich tragischer Unfall, und Augur war auch mit”, erklärte Liam, „Das Interdimensionsdurcheinander brachte uns in ein anderes Universum.”
„Maiyas”, nickte Harmony, „Sie hat dich und Augur einkassiert und zu Jason gebracht.”
„Siehst du, es klappt ja ganz gut mit dem Gedächtnis. Kannst du Jason sehen?” Nein, konnte sie nicht. Sie seufzte leise. „Vater ist sein dimensionaler Doppelgänger - Jason hatte lange Haare und konnte lächeln. Vater konnte das zu der Zeit ja nicht.”
„Ich sehe ihn nicht, es geht nicht. Das Gedächtnis weigert sich.” Sie schleckte den Schokolöffel ab. „Erzähl weiter!”
„Maiyas Schwester Kayla, eine Implantantin mit Imperativ und allem, hat dann Jason und einige andere gefangen genommen, Augur auch”, erklärte Liam, „Maiya hielt mich für völlig verrückt, mit meinem Shuttle hochzufliegen und die Gefangenen rauszuhauen.”
„Klappte nicht?”
„Klappte wohl! - Naja, nicht ganz, Jason hat es nicht geschafft.”
„Deshalb kam Maiya mit?”, fragte Harmony, „Nein ... er hat es sich gewünscht!” Jetzt konnte sie ihn sehen! Sie konnte den Doppelgänger ihres Grossvaters sehen - sterbend! Harmony stiess die alles andere als angenehme Erinnerung fort und konzentrierte sich auf den Schokoaufstrich. In diesem Augenblick verfluchte sie das genetische Gedächtnis. „Dad ... warum erinnere ich mich jetzt an so viel ... und vorgestern an nichts davon?”
„Deine Mutter und Ha'gel haben es an einen Trigger geknüpft: Du musstest wissen, was du bist.”

„Die haben an mir rumgepfuscht?” Harmony sah ihren Vater mit weit aufgerissenen Augen an.
„Ha'gel hat an mir viel mehr rumgepfuscht, Harmony”, erklärte er, „Glaubst du, wenn es nach meinen menschlichen Genen geht, sehe ich wirklich so aus?” Nicht? Harmony sah ihr kopfstehendes Spiegelbild im Löffel an und musterte dann das Gesicht ihres Vaters. „So ist es”, lächelte er, „eigentlich würde ich genauso in einen Eastern passen wie du. Ha'gel hat das verändert.”
„Was haben sie bei mir verändert?”
„Den Trigger, deine Alterung von Schnecke auf normal umgestellt, den Energiekörper hinter dem materiellen versteckt”, erklärte er, „Nötige Dinge, ohne die du nie hättest menschlich sein können, Harmony. Aber es wird schnell gehen, du wirst schnell lernen, da bin ich mir sicher.”

* * *

Was für ein Sonntag!
Harmony verbrachte ihn damit, zu lernen. Ihr Vater erklärte ihr ausschweifend, wie er Gedächtnis, Shaqarava und Fassade kontrollierte, und sie musste üben.
Natürlich war lernen nicht gleich lernen - schulisches Lernen war nicht immer, eher selten, so nützlich und wichtig wie das hier. Nur hätte Harmony liebend gerne einen freien Tag! Naja, sie könnte am Montag schwänzen ... vielleicht die ersten beiden Stunden, stattdessen in der Bibliothek sitzen und ein Buch lesen (ein Buch über ein Kind, das von seiner besonderen Abstammung erfährt? Gab es ja zuhauf!). Lieber doch nicht, ihr Fehlen würde den Lehrern sicher gleich auffallen - dummerweise war Dad ja berühmt und das färbte auch auf Harmony ab.

Also besser nicht schwänzen.

Wie Liam gesagt hatte, lernte sie ohnehin sehr schnell. Viermal löste er einen Gedächtnisblitz aus, indem er ganze Erinnerungsgruppen auf einmal an die Oberfläche holte. Er wusste genau, welche Bilder er ihr zeigen musste (per Sharing, auch das war neu), um eine solche Reaktion zu provozieren: Er zeigte ihr seinen ersten Blick ins Gemeinwesen, als er entdeckte, wer Boone wirklich getötet hatte, er zeigte ihr Mums Versuch, das Mutterschiff auf die Erde stürzen zu lassen, er zeigte ihr Da'an als Atavus und er zeigte ihr ... Ha'gels Erwachen.
Zuletzt war der Blitz so schwach, dass sie nur einige Sekunden abgelenkt war. Ja, sie lernte. Dad war mit ihr zufrieden.
Während der ganzen Zeit ass er pausenlos. Früher hatte er sich für solche Fressorgien vor Harmony versteckt, aber jetzt erklärte er ihr genau, wie unvorstellbar viel Energie er jeden Abend abgab, um die Taelons zu ernähren. Natürlich musste er das ersetzen! Harmony zweifelte ein bisschen daran, dass ihm essen noch Spass machen konnte, aber er schien durchaus zu geniessen, dass er definitiv nie dick werden konnte. Er ass ja auch nicht irgendetwas, sondern nur leckere Sachen.
Ob sie das auch einmal machen würde, sich als Energiespenderin zu betätigen?
„Lieber nicht”, sagte Liam und bot ihr ein weiteres Sharing an. Sie legte ihre Handfläche auf seine und liess sich zeigen, was er meinte: Er selbst wäre beinahe gestorben, als er Zo'or das erste Mal Energie gegeben hatte.
Lieber nicht.
Der Sonntag ging vorüber, Vater und Tochter kehrten spät abends ins eigene Haus im Vorort zurück und Harmony fiel erschöpft wie nach einem Marathonlauf sofort ins Bett.

Weckerklingeln am Montag, halb acht: Der Alltag hatte sie wieder.

 

Ende von Kapitel 8

 

Zurück / Back

 

Zum Seitenanfang