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  „Blut” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Dezember 2010
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Ronald Sandoval macht einen Fehler und sieht sich Konsequenzen und schliesslich einer drohenden Katastrophe gegenüber.
Zeitpunkt:  gleich darauf
Charaktere:  Ronald, Liam, Augur, Maiya, Zo'or, Tonio, (Lili, Julianne, Vorjak, Harmony, Ariel)
 

 

BLUT

Kapitel 6: Veränderung III

 

Es war Donnerstagabend, als endlich der Widerstand nicht mehr von Kincaid abhängig war. Augur hatte scheinbar widerstrebend, tatsächlich wohl eher stolz vom kahlgeschorenen Scheitel bis zu den Zehenspitzen seine Position als Vermittler zwischen den Widerstandszellen übernommen. Wie sich Da'an rausreden könnte, war auch kein grosses Problem mehr, denn immerhin hatte der Hacker alles dafür vorbereitet, Liams falsche Identität genau so auffliegen zu lassen, dass ein brauner Kokon mit dem richtigen Liam darin vermutet werden musste. - Naheliegend, denn schliesslich gab es ja einen richtigen Liam Kincaid, wenngleich nicht in einem Kokon.
Ronald würde seine Beisetzung aus einiger Entfernung beobachten, das hatte er schon beschlossen und davon liess er sich nicht abbringen. Es würde schliesslich eine hübsche Zeremonie geben, denn die Taelons gaben nicht zu, dass ihnen ein Beschützer abtrünnig geworden war. Die Medien brachten schon seit Tagen immer wieder denselben platten Bericht über den Helden, der beim Versuch, Zo'ors Entführung zu verhindern, zu Tode gekommen war.
Die Trauerhalle befand sich in vergleichsweise wilder Natur und Sandoval spürte schnell ein Gebüsch auf, aus dem heraus er mit dem Fernglas durch die grossen Fenster in die Halle sehen konnte. Major Liam Kincaid in voller Montur (samt ansehnlicher Metallsammlung) strich mit einer Hand über den Sargdeckel und zwinkerte in Rons Richtung - Da'an und Zo'or zwinkerten freilich nicht, sie wussten ja nicht, dass er da war.
Irgendwie schade, dass Ron die Abschiedsrede nicht hören konnte. Während die Trauernden (von denen ja gar keiner trauerte!) andächtig lauschten und die Presseleute gelangweilt auf die versprochenen Interviews warteten, sah Ron sich einfach in der wunderschönen, noch immer vereinzelt verschneiten aber schon mehr grünen Natur um.

Da drückte sich jemand herum! Ronald zoomte näher. Tate? Was machte Tate mit einem gelben Blümchen in der Hand hier? Er stand ja immer noch auf der Fahndungsliste! Na sauber - der Kerl bekreuzigte sich, legte das Blümchen auf eine Treppenstufe des Nebeneingangs und verschwand wieder. Da wusste Ron nun wirklich nicht, was er davon halten sollte.
Aber Tate blieb nicht der einzige, der ein Blümchen brachte, ohne gesehen werden zu wollen. Verdutzt liess Sandoval sein Fernglas fallen, als er Maiya erkannte.

Ron ging kein Risiko ein, wenngleich Kincaid da etwas anderes behaupten würde. Es gab genug Gebüsch, in dem man sich über das Gelände schleichen konnte, und der Kreis der Freiwilligen war klein und alles andere als ausgedehnt, genaugenommen stand die Dreiergruppe tratschend bei den Shuttles. Maiya war recht flott unterwegs, dass Ronald Probleme hatte, sie einzuholen, besonders so lange er sich im Gebüsch herumdrückte.
Ausser Sicht- und Hörweite der Freiwilligen trat er dann auf die Allee und rief Maiyas Namen, sie erstarrte und drehte sich langsam um. Was hatte er sich nur gedacht? Er hätte zuerst mit Liam sprechen sollen! - Aber jetzt stand er da und starrte Maiya an, und sein CVI half ihm nicht einmal beim denken.
Sie anzustarren war offensichtlich das Falsche: Sie machte einige Schritte rückwärts, wandte sich um und sprintete davon.

Höflich und zudem klug wäre es wohl, sich wieder ins Gebüsch zu verdrücken und auf Liam zu warten, aber das tat Ron nicht. Er lief ihr nach und holte sie ein, als sie gerade ins Auto steigen wollte - er griff nach ihrem Arm, sie drehte ihm als Antwort seinen auf den Rücken und drückte ihn gegen den Wagen. „Weshalb sind Sie nicht tot, Agent Sandoval?”
„Weshalb sind Sie nicht tot, Maiya?”, gab er zurück, „Hat der Widerstand Ihren Tod auch vorgetäuscht?”
„Ich weiss nicht, wovon Sie sprechen! Ich heisse Isabel Martínez und kenne Sie nicht!”
„Sie kennen mich nicht, aber bringen mir Blumen, ja”, widersprach er und wand sich aus ihrem Griff, „Sie nennen mich beim Namen und ... aua”, er rieb sich sein Handgelenk, „und Sie greifen mich gleich an.”
Sie schob ihr Kinn vor und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Sie sind ein armer Mann mit Ihrem Monster im Kopf, Sie tun mir leid”, sagte sie energisch, „Aber ich kenne keine Maiya und Sie kenne ich auch nur aus dem Fernsehen.” Sie stieg in ihren Wagen, schnallte sich an und startete ihn.
Sandoval vergass seine Erziehung, riss die hintere Türe auf und setzte sich auf den Rücksitz. „Sie haben sich durch meinen Ruf angesprochen gefühlt”, bemerkte er, „Maiya. Ich will nicht behaupten, dass ich die Sache mit dem Paralleluniversum wirklich verstehe, aber ...”
„Sandoval, machen Sie sich nicht mehr lächerlich als ohnehin schon”, knurrte Maiya und trat aufs Gas. Hektisch fixierte Ron den Sicherheitsgurt. „Ich sagte schon: Ich heisse Isabel Martínez!”, wiederholte sie, „Und wenn Sie schon nicht aussteigen wollen, sagen Sie mir wenigstens, was die Taelons mit Ihrer Trauerfeier bezwecken!”
„Die halten mich für tot”, sagte Ronald.
„Ach ...”
„Widerstandsverdienst, im Sarg liegt eine Attrappe”, erklärte er, „Niemand hat Ihnen gesagt, dass mein neues CVI zahm ist?”
Wer denn?”, fragte Maiya, „Ich habe mit dem Widerstand nichts zu tun!”
„Und ich bin der Papst”, nickte Ron, sie sah ihn prüfend im Rückspiegel an. „Misstrauen Sie mir meinetwegen”, zuckte er mit den Schultern, „aber wer den Widerstand anführt, wissen Sie doch, oder?”
Sie stieg energisch auf die Bremse und fauchte: „Raus aus meinem Wagen!”
„Es tut mir leid, dass ich Sie aufs Mutterschiff brachte. Ich hätte Ihre Wünsche nicht derart ignorieren sollen.”
„Wie wäre es, wenn Sie meine Wünsche jetzt nicht ignorierten?”

Damit hatte sie nun auch wieder recht. Sandoval löste den Gurt und stieg aus. Dazu, ihr eine gute Fahrt zu wünschen kam er nicht, sie fuhr mit quietschenden Reifen ab. Ron sah sich kurz um und schlug sich wieder ins Gebüsch.
Wie blöd war er eigentlich?
Er hatte gerade Maiya über den Widerstand ausgefragt und war damit definitiv in die alte Masche des Agents zurückgefallen. Gut, er hatte ihr nicht gedroht, aber sie nahm zweifellos eine implizite Drohung an - berechtigt, wenn er an seine Vergangenheit dachte. Sein Verstand musste völlig ausgesetzt haben und das CVI noch dazu.
War er vielleicht ... verliebt?
Eine Erklärung wäre es ja, und zu unwahrscheinlich ... nein, eigentlich war sie alles andere als unwahrscheinlich, schliesslich konnte er Maiya mit Jasons Augen sehen. Und hatte - wundervoll! - in einem Anfall von absolutem Irrsinn den ersten Kontakt wirklich völlig verbockt. Er sollte sich entschuldigen, am besten schriftlich, wenngleich ohne Absender (sie würde schon wissen, dass es von ihm war) - nur wie sollte er die Globalkennung einer Person aus einem anderen Universum finden?

Ronald schlich sich wenig fröhlich vom Gelände, öffnete den Kofferraum seiner Fahrgelegenheit, legte sich hinein und zog die Klappe wieder zu. - Nun, Tote lagen auch im Leichenwagen hinten, so war es doch. Im Gegensatz dazu lag Ron aber quer und das wirkte sich nachteilig auf seine Beinfreiheit aus. Schon die Herfahrt war ein einziger Krampf gewesen.
Und die Rückfahrt war es dann auch.

* * *

Als Ron sich wieder unter der Kirche einfand, traf er nur Augur an der Computeranlage an. Der Hacker blickte äusserst finster drein und würdigte ihn keines Blickes, doch das war Sandoval bestenfalls rektalpassant. „Maiya!”, knurrte der Implantant, „Mir das zu sagen hat keiner in Erwägung gezogen?” Es gab keine Antwort, nur weiter gleichmässiges Klappern der Tastatur. „Sie nicht, das war mir klar!”
„Sandoval, Sie sind nur nett, wenn alles glatt läuft!”
„Sie können nicht ...”
„Ich weiss, was passiert ist!”, fauchte Augur, „Sie sind wahnsinnig, auch ohne Motivationsimperativ, und ich wusste es!” Er hob eine rote Sporttasche vom Boden auf und warf sie Ron zu, der sie perplex auffing. „Verschwinden Sie aus meiner Wohnung, Sandoval! Jetzt sofort!”
„Ich möchte mich entschuldigen”, sagte Ronald, „bitte geben Sie mir die Chance dazu.”
„Ah, so”, sah Augur ihn spöttisch an, „Derart scheissfreundlich reagieren Sie also auf einen Rauswurf. Sie wollen sich entschuldigen ... jaja.”
Ron verdrehte die Augen und korrigierte: „Doch nicht bei Ihnen. Bei Maiya!” Jetzt war der Schwarze verdutzt, aber schon nach einem Augenblick überdeckte der Ärger das. „Wie erreiche ich Maiya?”, fragte Ronald jedoch, bevor Augur etwas sagen konnte, „Per Mail, nichts Dramatisches.”
„Ich sage Ihnen nicht, wie Sie Mabel belästigen können! Sie Psychopath!”

Mabel? Kurzzeitig war Ronald verwirrt, dann begriff er: Maiya und Isabel, eins geworden, brauchten nur mehr einen Namen. Er stellte die Sporttasche ab, was Augur ein ärgerliches Knurren entlockte, und verschränkte die Arme. „Ich bezweifle, dass Sie einer solchen Belästigung nicht Einhalt gebieten könnten”, bemerkte Ron mit leicht spöttischem Unterton, „Richten Sie eine Trashmail ein, spielen Sie Proxy, was weiss ich, Sie wissen da bestimmt tausende Möglichkeiten!”
Direkt an seiner Genialität gepackt, war Augur sichtlich in einer Zwickmühle. „Gut, na schön”, brummte er schliesslich, „aber sobald Mabel sich beschwert ist es vorbei!” Er wandte sich der Computeranlage zu und schlug in die Tasten.
Ron schlug auch in die Tasten. Er suchte sich ein Global und tippte im Einhandverfahren einen Entschuldigungsbrief ein. Der Rauswurf schien zumindest ausgesetzt zu sein, wenngleich Augur ihn immer noch sehr finster ansah, wenn er denn einmal den Blick vom Bildschirm löste.

Liebe Maiya

Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie mit diesem Namen anspreche, ich weiss inzwischen, dass Sie ihn nicht mehr benutzen. Ich habe mich fürchterlich benommen, heute ebenso wie damals - heute noch mehr als damals, denn alle womöglich mildernden Umstände fallen weg. Zweifellos habe ich Ihnen eine riesigen Schrecken eingejagt, als ich da so aus dem Gebüsch kam, und das ist wohl noch die kleinste Sünde.
Ich bitte Sie um Verzeihung für all das - dabei ist es unentschuldbar. Ich wünschte auch, Sie würden auf diesen Brief antworten, doch es ist natürlich Ihr gutes Recht, das nicht zu tun.

Ron

Das war geschafft. Mit diesem Text marschierte Ronald zu Augur und sprach ihn auf die Zieladresse an. Der Hacker war mürrisch wie zuvor, aber er übertrug Daten für einen Mailgateway auf das Global und stellte auch gleich die Adresse ein. Ron schickte die Nachricht ab - und das war das letzte, was ihm von Augur gestattet wurde, keine Minute später stand er gezwungenermassen in einem anderen Widerstandsversteck.
Er kannte dieses Versteck nicht, aber es war durchaus nett eingerichtet, allerdings war Ronald nach einer Runde klar, dass es sich um Wohnraum für eine Person handelte - ohne Ausgang. Nur das Portal stand da, allerdings stellte Ron schnell wenig erfreut fest, dass eine ganze Reihe von Verstecken gesperrt war. Alle, wagte er zu behaupten, nach den von ihm bisher häufig bis gelegentlich besuchten Orten gab er einfach auf und rief Liam an - was ihm allerdings auch nur eine Sperrmeldung brachte.
Wundervoll, er war gefangen. Wieder einmal! Diesmal aber wenigstens ohne Fesselfeld, Schmerzgenerator und Tonio Arias, und ohne die Gefahr, als Experiment zu enden. Er machte es sich bequem und wartete, denn anderes blieb ihm ja nicht übrig.

* * *

Es dauerte einige Stunden, bis das Global mit intensiven Furzgeräuschen (wer hatte denn diesen dämlichen Klingelton eingestellt?) einen Anruf meldete, Ron zog das Gerät auseinander und erblickte Kincaids besorgtes Gesicht. „Was ist passiert?”, fragte er erschrocken.
„Wir können es nicht mehr aufhalten, Vater”, sagte Liam, „Versteck dich, und zwar schnell, und sei leise!”
Zu spät!
Ronald blickte auf, als sich das Portal aktivierte und zwei Personen darin erschienen. „Verdammt!”, knurrte er und lud seinen Skrill - Arias tat es ihm gleich und platzierte sich genau vor Zo'or. „Eile bitte! Ich habe hier ein Problem!”
„Agent Sandoval!”, brachte Zo'or hervor und verlor seine Fassade.
Ron blinzelte kurz auf sein nun dunkles Global, dann warf er es aufs Sofa und konzentrierte sich ganz auf seine ungebetenen Gäste. Allerdings sagte er nichts, er war vermutlich der, der am wenigsten über die aktuelle Situation wusste. Hoffentlich wusste Liam bald eine Lösung!
Es dauerte nicht sehr lange, bis sich das Portal noch einmal aktivierte und der Kimera erschien. Ja, der Kimera, das war deutlich sichtbar. Bisher war Liam immer in seiner angeborenen menschlichen Gestalt geblieben, das war nun anders: Die Haut war sichtbar eine Fassade, hinter der die Energiebahnen hervorschimmerten, der Kopf war haarlos, die Kleidung ein weissglänzender Anzug ähnlich derer der Taelons.

Er war kaum wiederzuerkennen.

Tonio, der immer noch zwischen Zo'or und Ronald stand, zielte nun auf den Kimera, der nur beiläufig eine glühende Hand hob und auf den Latino richtete.
„Ha'gel”, stellte Zo'or fest.
„Nein”, widersprach Liam, „ich bin sein Kind.” Seine Stimme hatte sich verändert, er klang nicht mehr wie ein Mensch, sondern vielmehr fast wie ein Taelon. „Weshalb bringst du diesen Kämpfer mit?”, fragte er und wies mit einem leichten Neigen seines Kopfes auf Tonio.
„Kind einer menschlichen Mutter”, fauchte Zo'or, „bist du nicht in der Lage, dich einer höheren Sprache zu bedienen?”
„Du bist es nicht!”, gab Liam zurück, „Du sprichst die primitive Sprache der jungen blauen Lichter, nichts weiter. Antworte, Taelon!” Meister Hochnase blieb seinem Spitznamen treu, er hob seine Nase und schwieg.

Nicht zu lange.

„Colonel Arias ist mein Beschützer”, erklärte Zo'or schliesslich.
Liam wirkte amüsiert. „Kann er dich denn beschützen?”, fragte er.
„Einer wie er hat deinen Vater getötet, Mischlingskind”, sagte der Taelon, „und du deutest an, er könne mich nicht beschützen?”
Liam liess sich nicht auf eine lange Diskussion ein, stattdessen warf er Tonio mit wenigen Kampfgriffen auf den Boden. Ron glaubte den Stil als waffenlose Pa'dar-Variante zu erkennen, doch sicher war er nicht, er war nun aber nicht mehr bedroht und senkte den Skrill. Zo'or hingegen verlor vor Schreck seine Fassade, während Arias nur leise ächzte.
„Taelon, du hast unsere Abmachung vergessen”, sagte Kincaid, „Sei dir dessen bewusst, dass du ohne mich ein Atavus wärst!” Langsam verblassten die blauen Energielinien hinter der künstlichen Taelonhaut. „Weshalb bist du hier, Zo'or?”
„Ich sagte es bereits: Mir wurde nahegelegt, diese Ebene zu verlassen.”
„Du hast Angst vor dem Tod”, bemerkte Liam, „Dein Leben ist dir wichtiger als das Anliegen der Synode. Woran liegt das? An mir? Oder warst du schon zuvor so individualistisch?” Einen Moment lang drangen seine Energielinien blassgrün durch seine fast weisse Haut, er umkreiste Zo'or und musterte ihn. „Ich glaube, du hast dich durch die Trennung vom Gemeinwesen nicht sehr verändert.”
„Du kanntest mich nicht, Mischlingskind!”

Der Kimera ignorierte Zo'or nun und widmete sich Tonio. Er zog den Implantanten hoch und lächelte ihn auf jene Art an, wie Ron es von den Taelons kannte. „Dich lasse ich gehen, aber du wirst dich nicht an diesen Ort, ihn”, er wies auf Sandoval, „oder mich erinnern.” Arias riss seine Augen erschrocken weit auf und versuchte sogar, seinen Skrill zu laden, doch kaum hatte Liam ihm seine glühende Hand auf die Stirn gelegt, sackte er bewusstlos zusammen.
Ja, das hatte Ronald auch einmal erlebt. Er trat zu Liam und zog mit ihm gemeinsam den menschlichen Mehlsack ins Portal, aber als er sich dazustellen wollte, bedeutete ihm sein Sohn, hier zu bleiben: Tonio verschwand ohne ihn.
„Bist du sicher, dass ich bleiben soll?”, fragte Sandoval und sah Liam irritiert an.
„Ich bin sicher, Vater”, nickte dieser, „absolut.”
Schon wieder verlor Zo'or seine Fassade, er starrte Ron ungläubig an. „Ha'gel? Aber das ... ist nicht möglich! Der Skrill!”
Hinter Liams Fassade flackerten deutlich amüsiert grüne Linien. „Keine Ahnung von Kimera-Biologie ...”, bemerkte er spöttisch, „Zo'or, ich habe zwei Väter und eine Mutter.”
„Du bist also zu zwei Dritteln primitiver Mensch”, stellte der Taelon das für ihn Negative heraus.
„Ja”, nickte Liam nur fröhlich, „und meine übliche menschliche Gestalt nehme ich jetzt auch wieder an.”

Zo'or wich einen Schritt zurück und beobachtete kritisch, wie grüne Energiebahnen aufleuchteten und sich sichtbar in materielle Blutgefässe umwandelten, Haare wuchsen und sich schliesslich die Fassade verdichtete und Liams menschliches Gesicht zurückliess. Einzig der weissgrüne Anzug war geblieben. „Major Kincaid ...” Wäre Zo'or ein Mensch, wäre er bestimmt in Ohnmacht gefallen.
„Nun, was machen wir mit dir?”, überlegte Liam, „Ich kann dich nicht gehen lassen, das weisst du.”
Zo'or zögerte kurz, dann bestätigte er: „Das weiss ich.”
„Was schlägst du also vor?”
Der Taelon zögerte wieder. „Ich will leben”, sagte er dann aber fest, „was verlangst du dafür, mir Energie zu geben?” Liam umkreiste ihn wieder, wartete schweigend auf ein Angebot. „Zugriff auf meine Projekte”, bot Zo'or nach einigen Momenten.
„Ich ziehe den Vollzugriff auf alle Daten, die du abrufen kannst, vor.”
„Wenn du alle Daten hast, tötest du mich”, sagte Zo'or eisig, „Inakzeptabel.”
„Du glaubst, ich könnte nicht einfach all dein Wissen aus deinem Verstand herausquetschen und dich dann irgendwo liegenlassen?”, musterte Kincaid den Taelon leicht abschätzig, „Aber mir ist Moral nicht so fremd wie dir. Ich töte nicht einfach so, du solltest das inzwischen wissen.”
„Sollte ich?”
„Nun, du lebst.” Er wandte sich Ron zu und bat: „Achte doch bitte kurz auf ihn, ja? Ich ziehe mir schnell etwas an.” Sandoval nickte perplex und hob seinen Skrill, während Liam ins Schlafzimmer ging und schon auf dem Weg seine Kimerakleidung einfach in blassgrüne Energiefetzen aufzulösen begann.
„Verräter!”, zischte Zo'or.
„Und was sind Sie?”, fragte Ronald, „Etwa kein Verräter?”
Die blauen Energielinien schimmerten deutlich durch Zo'ors Fassade durch, doch der Taelon behielt seinen überheblichen Gesichtsausdruck. Na den würde er schon noch los, ganz sicher.

Liam war schnell zurück. Er trug einige Kleidungsstücke von Ron, die ihm zwar nicht perfekt passten, aber auch nicht zu sehr als falsch auffielen, ausserdem trug er die Sporttasche und hob nun auch das Global auf. „Oh, du hast Augurs Ich-mag-dich-nicht-Global?”, grinste Liam, „Es ist gesperrt und macht unanständige Geräusche.”
„Das habe ich bemerkt”, seufzte Sandoval.
Was haben Sie vor?”, fragte Zo'or schneidend.
Kincaid lächelte ihn freundlich an und sagte: „Wir gehen nach Hause, du bleibst hier!” Wie unhöflich, den Synodenführer weiterhin zu duzen. Liam und Ron traten ins Portal, das sie erfasste und unter die Kirche brachte.

* * *

Augur war sichtlich immer noch stinksauer, allerdings auch etwas geknickter als sonst. „Jetzt ist der schon wieder hier”, knurrte er, „Ich hab ihn rausgeworfen und das zu Recht!”
„Ah, da fehlt mir noch etwas”, nickte Liam, „Könntest du mir das erläutern?”
Ronald liess den Hacker nicht zu Wort kommen, sondern ergriff dieses selbst: „Ja, ich habe mich unmöglich benommen. Ich habe Maiya gesehen und bin ihr in den Weg gesprungen.”
„Und ins Auto”, nickte Augur.
„Und ins Auto”, bestätigte Ron, „ich weiss, das war daneben.”
„Genau!”, nickte Augur wieder, diesmal energischer.
„Wenn sie es für nötig hält, wird schon Mabel ihm den Kopf abreissen, da musst du doch nicht vorauseilen.” Ha!, Liam stand auf Rons Seite. Eine gewisse Genugtuung konnte Ronald sich nicht verkneifen, aber wenigstens grinste er nicht zufrieden, zu weiterem Ärger anstacheln wollte er den Hacker natürlich nicht.
„Pah!”, fuchtelte der Schwarze, „Ich tu's aber, basta! Raus mit ihm, ich hab hier Hausrecht!”
Liam holte schon tief Luft, aber als Ron schulterzuckend zum Portal marschierte, blieben ihm die Worte einfach auf der Zungenspitze liegen und nur ein „Häh?” kam heraus. Aber Augur hatte eben wirklich das Hausrecht, da nützte ein Kimera-Sohn auch nichts.
Einige Augenblicke war Liam sichtlich hin und her gerissen, doch dann verabschiedete er sich und stellte sich zu seinem Vater ins Portal. Einfach war es für Ron aber nicht, Kincaid sah ihn arg vorwurfsvoll an. Nach dem Portaltransport nahm Liam Harmony aus dem Schaukelwagen, stapfte knapp grüssend an den drei Jaridians, Lili und Ariel vorbei und verschwand in seinem Schlafzimmer. Ron folgte ihm und schloss die Türe.

Sorgfältig, sanft, aber doch geübt schnell schälte Liam seine Tochter aus dem Strampelanzug, dann gab es eine nette Massage für die Kleine. Fragen stellte er keine, doch Sandoval erklärte dennoch gleich: „Ich weiss ehrlich nicht, was da mich da geritten hat. Aus dem Gebüsch zu springen und eine Frau zu verfolgen ist nicht das, was ich normalerweise mache.”
„Nein?”, sagte Liam, „Ich kann mich an einmal erinnern.” Er klatschte Harmonys Händchen rhythmisch zusammen und fügte dem Erwachsenengespräch ein herzliches Guguduzidu hinzu.
„Sohn, da war ich vierzehn!”
„Oh, ja, stimmt.”
Ron stutzte einen Moment - meinte Liam, er habe sich Maiya gegenüber wie ein Jugendlicher verhalten? - Es gab allerdings wesentlich verrücktere Aussagen. „Ich habe sie auf den Widerstand angesprochen”, fuhr er fort, ohne darauf einzugehen, „Sie ... wirkte erschrocken. Sie weiss nichts von meinem neuen CVI?”
„Doch, aber sie traut der Sache nicht”, korrigierte Liam, „Ihr Veto, wir durften dir nicht sagen, dass sie noch lebt.”
„Und dass ich noch lebe habt ihr ihr auch nicht gesagt.”

Kincaid seufzte laut auf und hielt inne, worauf Harmony sich sofort lautstark beschwerte. Sogleich fuhr er mit der Babygymnastik fort. „Davon haben wir niemandem etwas gesagt, der nicht direkt damit zu tun hatte”, erklärte er, „Inzwischen macht es aber langsam die Runde, es kommen immer mehr Anfragen herein, was denn wirklich passiert ist.”
„Verstehe.” Ron ging quer durch den Raum, drehte sich um und ging denselben Weg zurück. „Ich habe einen Entschuldigungsbrief verfasst, aber ... wenn du sagst, das Global ist gesperrt, dann bin ich nicht sicher, ob er angekommen ist.”
„Wahrscheinlich nicht.”
„Ja ... wahrscheinlich nicht”, runzelte er die Stirn. „Leih mir dein Global, dann schicke ich ihn noch einmal. Oder kannst du herausfinden, ob die Nachricht durchging? Doppelt sollte sie nicht ankommen.”
Liam nickte: „Kann ich, ja.” Er hob Harmony hoch und drückte sie Ron in die Arme. „Bring das müde Flöckchen bitte ins Bett”, lächelte er, „Ich sehe nach, wo dein Brief steckt.”
Das müde Flöckchen zog offensichtlich eine Fortführung der Babygymnastik vor und liess Ron die Unzufriedenheit deutlich hören. Also hüpfte er mit der Kleinen auf den Armen ins Bad, was ihr auch zu gefallen schien, der Windelwechsel hingegen liess sich nicht zu ihrer Zufriedenheit erledigen, musste aber trotzdem sein.
Schnell zog er ihr einen weissen Strampelanzug an, dann griff er nach ihren Füsschen und spielte Fahrradfahren. „Den Berg hinauf, den Berg hinunter, der Bahnlinie entlang, oh, dort ist ja ein Häschen!” Ronald schob die Schneidezähne über die Unterlippe und Harmony machte den Gesichtsausdruck nach, so gut sie es ohne Zähne konnte.
Ron hob sie unter den Achseln hoch und liess sie, samt Geräuschkulisse eines Shuttles, in ihr Bettchen fliegen. Ja, der Flug gefiel ihr, das Bettchen nun allerdings weniger, sie brüllte herzzerreissend los und selbst intensives Knuddeln half nicht. Sie wollte da raus!

Oder zumindest weiter Fahrradfahren, denn das half.

Harmony durfte an einer Katze (Ronald sagte: „Miaaau”), einem Zug („Tsch-tsch”) und einem Elefanten („Prüüt”) vorbeiradeln, denselben Weg zurück nehmen, inklusive Hase, und dann das Fahrrad an seinen Platz hängen - Ron nahm das knapp fünfzehn Zentimeter lange rote Fahrrad vom Nachttisch und klipste es zwischen dem Mutterschiff und dem blauen Elefanten ans Mobile, dann stupste er selbiges leicht an.

Harmony war trotzdem nicht zufrieden.

Wieso nur war sie im Schaukelwagen still und glücklich und plärrte dann im Bett los? „Schon gut, Spätzchen, na komm”, seufzte er und hob sie wieder heraus, „Was machen wir jetzt?” In Harmonys Fall: Zufrieden schweigen. Ron schlenderte durchs Zimmer und murmelte leise vor sich hin: „Schön einschlafen, Harmony, du bist doch müde. Ja, du bist müde, ich sehe dich doch müde blinzeln. Kleine, ich will auch ins Bett, es ist schon spät.”
Spät, oh ja. Inzwischen war es fast Mitternacht und er war zudem noch Frühaufsteher. - Senile Bettflucht, wie es sich für einen Grossvater gehörte. Er musste grinsen.
Bald war Harmony ganz ruhig und er legte sie äusserst vorsichtig in ihr Bett, doch kaum deckte er sie zu, ging das Geschrei wieder los - und hörte auch diesmal erst auf, als er sie wieder hoch nahm. Er wiegte sie hin und her und tigerte durch Liams Schlafzimmer. Wieder wurde sie ruhig ... und wieder protestierte sie, als er sie hinlegte.

Aus! Basta! Ron legte aus einem Kamm, einem Kugelschreiber und einer Zahnpastatube einen Pfeil aufs Bett und trug Harmony ins Nebenzimmer, wo er sie dann straffrei alleine auf dem Bett liegenlassen durfte, bis er selbst bettfertig war und unter die Decke schlüpfte.
Definitiv, Harmony hatte ihren eigenen Kopf!

* * *

Jetzt verstand Ronald Sandoval wirklich, was Liam mit seiner Äusserung zum Durchschlafen gemeint hatte. Knapp zweieinhalb Stunden nach der üblichen Aufstehzeit wurde er von seinem Sohn geweckt und blieb wie ein nasser Sack völlig kaputt liegen.
Was gäbe er für weitere fünf Stunden Schlaf am Stück!
Immer wieder war er in dieser Nacht mit hängenden Augenlidern durchs Zimmer gewankt und hatte aus den Tiefen seines Gedächtnisses ein Schlaflied ausgegraben, das er dann vor sich hin gesummt hatte, wobei er stets müder geworden war und Harmony bestenfalls temporär leiser. Einmal hatte er ihr auch ein Fläschchen gemacht und, unter lautstarkem Protest, die Windel gewechselt.

Wie schaffte Liam das jede Nacht?

„Ich bin tot”, stöhnte Ron.
„Aber auch schon seit Montag”, gab Liam grinsend zurück und hob seine unschuldige, niemals schreiende Tochter aus dem Bett, „Es gibt Frühstück.” Er ging zur Türe, drehte sich aber noch kurz um: „Ach ja, du hast eine Mail bekommen.” Mit diesen Worten war er weg.
Plötzlich war Rons Verstand wie angeknipst und mit einem Mal sass er senkrecht im Bett. Sie hatte geantwortet, Maiya hatte geantwortet! - Sofern die Mail von ihr war. Es war Augur leider zuzutrauen, eine Mail mit dem Inhalt „Ätsch” zu schicken.
Sandoval wälzte sich aus dem Bett und warf sich als erstes mehrere Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, wenig später starrte aus dem Spiegel kein unrasierter Zombie mehr zurück und schliesslich gesellte sich Ron zu den Frühstückenden. Es war Samstag und Liam hatte nur Bereitschaft, ebenso Julianne. Ron und Lili hatten als Tote sowieso frei und den Jaridians konnte auch kein Arbeitgeber etwas vorschreiben.
Ein Zweifamilienfrühstück quasi, wenngleich die drei Jaridians vermutlich nicht verwandt waren.

„Guten Morgen, Ron”, grüsste Julianne und reichte ihm einen Cappuccino.
„Danke”, murmelte er und nahm das schöne Koffein mit wenigen Schlucken auf, auch wenn das den herrlichen Geschmack wenig würdigte.
„Liam wollte gerade erzählen, was bei den Taelons genau los war”, sagte sie, „Ich denke, das interessiert dich auch.” Ja, das tat es - die primäre Aufmerksamkeit war aber dennoch auf die Erlangung einer weiteren Tasse Kaffee gerichtet.

„Zo'or hat tatsächlich offengelegt, dass er mit einem Kimera verbunden ist”, erklärte Liam, „entsprechend wurden sein Geisteszustand und die möglicherweise von ihm ausgehende Gefahr in der Synode diskutiert.” Er lehnte sich über den Tisch und griff nach einem Marmeladeglas. „Da'an hat dem Vorschlag, Zo'ors Ersatzgemeinwesen per Sharing zu untersuchen, entgegengesetzt, dass sich dadurch der Kimera-Einfluss ausweiten würde, und die Synode hat dieser Meinung schliesslich zugestimmt”, fuhr er fort, während er ein Brötchen mit der süssen Masse überhäufte, „Als Ersatz für ein Sharing kam die Synode dann fast geschlossen überein, Zo'or als äusserst gefährlich zu betrachten und umzubringen. Nur Da'an war dagegen.”
„Wie kam Meister Hochnase dem davon?”, fragte Ron.
„Er hat Arias als Fluchthelfer angeworben”, grinste Liam, „allerdings keineswegs ohne Da'ans Wissen und heimliche Unterstützung. Colonel Arias' CVI ist nämlich intakt.”
„Also freut sich Da'an heimlich, während der Rest der Synode vor Wut kocht?”, hob Sandoval die Brauen, Kincaid nickte, zog die Mundwinkel bis zu den Ohren und biss von seinem Marmeladebrötchen ab.
Jetzt ergriff Lili, die gerade Ariel stillte, das Wort: „Und was ist mit Zo'or?”
Kincaid wedelte mit seinem Brötchen und kaute schneller, dann erklärte er: „Er überlegt noch, ob er mir seine Zugangsberechtigung für die Datenbank des Mutterschiffes übertragen soll, aber eigentlich hat er keine Wahl, wenn er leben will.”
Ronald nickte: „Er will leben, sonst wäre er nicht der Synode ausgebüxt.”
„Genau”, bestätigte Liam, „Er sollte nur nicht zu lange überlegen, denn sowie Arias sich auf dem Mutterschiff zurückmeldet, weiss die Synode, dass Zo'or nicht tot, sondern weg ist.” Er biss wieder ab, kaute und schluckte. „Arias schläft wohl noch etwa zehn Stunden, Zo'or gebe ich aber sicherheitshalber nur fünf. Man weiss ja nie.” Er ass noch den letzten Bissen und nahm von Julianne Harmony samt Fläschchen entgegen.

Ron planierte eine Brotscheibe schnell mit Butter, er hatte es eilig. Er sah drei Globals auf der Kommode liegen, vermutlich war eines davon jenes, das er zuletzt verwendet hatte. Nur anstandshalber schlang er sein Frühstücksbrot hinunter, dann entschuldigte er sich flüchtig und hechtete durch den Raum.
Liams grünes Global war offen und zeigte vier tanzende Orgelpfeifen-Dalton-Brüder als Bildschirmschoner, das zweite Global war geschlossen, aber mit dem sternenhimmelgemusterten Gehäuse unschwer als Juliannes zu erkennen, blieb das dritte in wenig eleganter brauner Farbe - Ron zog es auf.
Er hatte eine neue Nachricht von Isabel Martínez.

Maiya, Mabel, hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine hochliterarische Antwort zu verfassen. Ein kurzer Vermerk, dass sie ihm möglicherweise doch trauen könnte, war aber genauso gut. - Auf jeden Fall besser als eine hochliterarische Abfuhr.
Treffen wollte sie ihn aber wohl nicht, was er zwar schade, aber auch verständlich fand.
Ron schob das Global zu und kehrte an den Tisch zurück. Die Leere, die sich plötzlich in ihm aufgetan hatte, füllte er so gut er konnte mit Marmeladebroten und Kaffee, doch Maiyas Anwesenheit hätte das zweifellos viel besser gekonnt. Die Umgebung kam ihm so gewöhnlich vor ohne sie - und das obwohl er an diesem Tisch als Mensch in der Minderheit war.
Er nahm Liam das inzwischen leere Fläschchen aus der Hand und ging in die Küche, eine weitere Portion zuzubereiten. Das hatte er sehr schnell gelernt: Eine leere Flasche hiess nicht, dass Harmony satt war, und wenn sie satt war, blieb garantiert eine halbvolle Flasche übrig. Und wohin mit der übrigen Babymilch? In den Blumentopf - schien kein zu schlechter Dünger zu sein. Ronald brachte eine volle warme Flasche zurück an den Tisch und bekam gleich das hungrige Spätzchen in die Arme gedrückt.
Seine Enkelin konnte die Leere auch gut füllen, aber eben anders.

Das sonst zu kurze Familienfrühstück zog sich diesmal, obwohl es objektiv kürzer war als sonst. Liam wollte Zo'or auf den Zahn fühlen, Julianne wollte von einigen toten Widerständlern eine Meinung zu einer richtigen Widerstandsstadt einholen und Lili wollte ihre Schwester treffen.
Lili hatte eine Schwester?
Ronald spürte den harten Aufprall, an den er sich erinnerte. Er spürte den Druck eines starken Gravitationsfeldes, er hörte Shuttles, Waffenfeuer, Schreie. Das war die Niederlage, die er stets gefürchtet hatte. Freiwilligenstiefeln entlang blickte er, Jason, hoch und sah Kayla - Maiyas Schwester.

Lili sprach von Mabel! Lili Marquette und Isabel Martínez waren Schwestern - wie ihre Entsprechungen im anderen Universum!

Sandoval entschuldigte sich schnell und hastete mit Harmony auf den Armen ins Bad. Alibihalber wechselte er ihr die Windeln, aber vor allem grinste er sehr breit sein Spiegelbild an. Maiya wusste zweifellos sehr gut, wie sehr der Motivationsimperativ einen Menschen veränderte.
Diesmal dachte Ron aber gründlich nach, bevor er handelte. Er würde Maiya fern bleiben, Eile brachte nichts. Ein gewisser Plan musste aber sein, ein gewisser Hauch seiner Anwesenheit, nur nicht übertreiben. Was alles schiefgehen konnte, sah man zuhauf in allerlei peinlichen Fernsehszenen.
Da Lili auch die neugeborene Nichte und deren Vater vorstellen wollte, würde Maiya in ein Widerstandsversteck kommen, und zwar in Augurs unter der Kirche. Das war ganz gut, immerhin hing dort das eine oder andere Familienfoto an der Wand und Ronald bezweifelte sehr, dass Augur seinetwegen Fotos von Harmony entfernen würde.
Er hoffte sehr, dass Augur die Fotos nicht entfernen würde. Eigentlich war es dem Hacker doch zuzutrauen.
Deshalb genügte es ja auch nicht, einfach abzuwarten. Allerdings waren Sandovals Möglichkeiten doch sehr beschränkt, zumal er natürlich nicht wollte, dass es auffiel. Nur was sollte er tun? Ihm fiel nichts ein. Ihm musste etwas einfallen!

Ihm fiel nichts ein.

Immer wieder seufzend trug er seine Enkelin herum und wiegte sie hin und her. Warum nur fiel ihm nichts ein? Er hatte ein CVI, das ihm solche Pläne erleichtern sollte, aber es half ihm überhaupt nicht! Resignierend legte er Harmony in ihren Schaukelwagen und machte sich daran, die Geschirrspülmaschine zu befüllen. Dann noch die Kaffeebohnen in der Espressomaschine auffüllen, das bekleckerte Tischtuch zur Wäsche geben und da selbige ohnehin überquoll konnte er auch gleich die Waschmaschine anwerfen. Und überhaupt guckten schon Staubmäuse aus den Zimmerecken, dass der Staubsauger auch noch herhalten durfte.

Welche Ironie, dass ein durch ein ausserirdisches Implantat verbesserter Mensch sich nur um den Haushalt kümmerte.

Harmony hielt nicht viel vom Staubsaugerlärm und übertönte ihn gekonnt, dass Ron sich sofort ihr widmete und sie aus dem Schaukelwagen hob. „Schsch, Spätzchen, es ist ja schon wieder leise, es tut mir leid”, lächelte er sie an, „Na? Geht es wieder?” Er trug sie durch den Raum und hörte das furzende Global erst, als Harmony wieder ruhig war. Durch energisches einhändiges Schütteln löste er die Klammern des Globals und es sprang auf.
„Sie, kommen Sie unter die Kirche!”, wurde er von Augur angefaucht.
„Womit habe ich das verdient?”, murmelte Sandoval perplex.
„Haben Sie nicht”, und damit war der kleine Bildschirm schwarz.
Was immer Augur veranlasst hatte, das Hausverbot auszusetzen, war zweifellos wichtig. Ron spürte die bekannte Unruhe, die er als Companionagent immer mit extra viel Eis bedeckt hatte. Natürlich konnte er Harmony nicht alleine hier lassen, er musste sie mitnehmen, was auch immer unter der Kirche los war. Sorgfältig gab er das Portalziel ein, dann stellte er sich zwischen die Streben und spürte, wie er fortgetragen wurde.

* * *

Sein erster Blick in Augurs Versteck fiel auf Zo'or, der von Vorjak bewacht wenige Schritte vom Portal entfernt stand, dann sah Sandoval den hinter flackernder Fassade matt leuchtenden Kimera. Liam lag bewusstlos auf dem Boden, nur seine zentralen Energiebahnen waren zu sehen, Lili kniete neben ihm und bediente wütend eine von Juliannes medizinischen Gerätschaften, wobei Augur ihr nervös zu helfen versuchte.

Was war mit Liam?

Die wachsende Sorge zog Ron fast den Boden unter den Füssen weg. Was war mit Liam? Er lief zu seinem Sohn und drückte auf dem Weg irgendjemandem Harmony in die Hände, plumpste auf die Knie und griff nach Liams Schultern. Nichts, die dünne Fassade liess sich kaum anfassen, stattdessen berührte Sandoval die Energiebahnen darunter und zuckte zurück. Was, wenn er seinen Sohn dadurch verletzte? In den Körper hineinzugreifen konnte für diesen nicht gesund sein.
„Sein Energielevel nimmt rapide ab”, sagte Lili leise, „Vorjak konnte ihm nicht helfen und ...”
„Zo'or?”, richtete Ronald sich mit einem Anflug von Hoffnung auf.
Sie schüttelte den Kopf: „Auch nicht.” Sandoval war zunächst überrascht. Zo'or hatte versucht, Liam zu helfen? Aber natürlich war sein taelonisches Leben von Liams Leben abhängig. „Er sagt, dass es Kimeraenergie oder menschliche sein muss, nur wüsste ich nicht wie”, fügte Lili hinzu, „Augur weiss auch nicht, wie.”
„Vielleicht ... Harmony?”, flüsterte Ron. Er wollte nicht akzeptieren, was Lili andeutete. Liam durfte nicht sterben, was sollte Ronald denn ohne ihn machen? Aber natürlich konnte Harmony nicht helfen, sie war viel zu jung und wenn es zu einer Energieverbindung käme, könnte diese sie womöglich töten. „Nein ... nein ...”
„Er stirbt, Ron”, sagte Lili gefasst und ruhig.
Nein! Sandoval betrachtete die durchschimmernden zentralen Energiebahnen, die immer mehr erloschen. Nein, Liam durfte nicht sterben!

Energisch straffte sich Ronald und überlegte laut: „Er braucht menschliche Energie. Wie können Menschen Energie übertragen?” Nein, das war die falsche Frage, das konnten Menschen nicht. „Anders: Wie können Menschen eine Übertragung initiieren? Menschen haben den dafür nötigen Energiekanal ... für Sharing wird der ja auch gebraucht ...” Ron spürte, wie sein CVI anlief und ihm quasi vorausdachte. Es nützte ihm also doch noch, gerade in der Verzweiflung hielt es ihn bei Verstand.
„Menschen können einen initiierten Transfer steuern, aber mehr auch nicht”, erklärte Zo'or erstaunlich wenig überheblich.
Da, da war der Gedanke! Sandoval griff zu wie nach einem Strohhalm und drehte sich zum Taelon um. „Können Taelons einen Transfer an einen Menschen übergeben?”, fragte er. Sein Blick, vom CVI geschärft, fiel auf Maiya, die Ariel und auch Harmony auf den Armen trug und sehr erschrocken und verwirrt aussah. Ihr hatte er die Kleine also gegeben, ohne es überhaupt näher zu bemerken.
Zo'or zögerte noch einige Augenblicke, doch schliesslich neigte er den Kopf: „Das ist möglich. Ich werde Ihnen helfen.” Er trat zu Ronald, weiterhin von Vorjak bewacht.

Der Taelon legte seine Handfläche auf Rons Handrücken und drückte die Hand des Menschen gegen Liams. Prickelnd, brennend und schliesslich sehr schmerzhaft drang Zo'ors Energie durch Sandovals Hand, ein Sog riss an jedem Funken und verschwand nicht, als der Taelon sich zurückzog.
„Nimm, Liam, nimm schon!”, und die Energie floss.
Die schwachen Energiebahnen gewannen an Kraft, im Gegenzug verhielt sich zunächst Rons Hand, dann auch sein Unterarm wie in einem Dörrofen: Der Arm schrumpelte auf das gefühlte Alter von dreihundert Jahren, die Adern traten hervor, die Gelenke krümmten sich und liessen sich nicht mehr strecken, und alles tat weh. Verdammt weh!
Gleichgültig! Es half Liam, da spielte der Schmerz keine Rolle.
Den Schrei konnte Ronald Sandoval aber nicht schlucken. Und wie er schrie, er wurde fast selbst taub dabei. Der Schmerz wanderte höher, erreichte die Schulter, das machte nichts. Liams Energiebahnen leuchteten hell und langsam war das filigrane Netz von weissen Energielinien im Energiekörper wieder zu sehen.
Schmerz! Ron konnte nicht mehr atmen, der Schrei verstummte.
„Lassen Sie ihn los!”, schrie ihn Lili an, „Sie bringen sich um!” Sie riss an ihm und er prallte mit dem Rücken auf den Boden. In seiner rechten Hand glühte es einen Moment lang matt nach, und dann konnte er wieder atmen, wenn auch mit Anstrengung.

„Sehen Sie nach ihm!”, krächzte er.
Lili wandte sich um und griff nach dem medizinischen Gerät. „Er ist stabil”, sagte sie dann.
Liam würde nicht sterben. Müde lächelnd schloss Sandoval die Augen.

* * *

Dumpf aber bewusst hörte er. Es waren drei Stimmen, zwei weibliche, eine männliche. Liams Stimme erkannte Ronald sofort, also lebte der Kimera. Erleichterung machte sich in ihm breit, er hatte seinen Sohn nicht verloren.
Wer waren die anderen beiden? Ron konzentrierte sich auf die Sprachmelodie und versuchte, zu verstehen.
„Du wirst es nicht glauben, aber in seinem rechten Arm hat er poröse Knochen, verkürzte Bänder und Sehnen und Arteriosklerose.” Ah, Julianne. Liam sagte wieder etwas, aber zu leise. Ron verstand nur etwas von Shaqarava und helfen. „Nichts da!”, wurde Julianne lauter, „Du tust gar nichts ausser essen, essen und noch mal essen. Und jetzt nimm endlich dein verordnetes Sandwich ein.”

Daraus schloss Sandoval, dass Liam noch nicht wieder ganz auf der Höhe war. Der unverbesserliche Weltretter sollte sich wirklich zuerst um sich selbst kümmern, Arteriosklerose in Rons Arm war absolut nebensächlich. Mühsam zwängte Sandoval seine Augen auf, was gut drei von Juliannes Sätze lang dauerte, und dann sah er trotzdem nichts. Wo sah er überhaupt hin? Deckenputz - in schwarz? Das konnte nicht sein. Nein, er musste die Augen noch zu haben. Im Dunkeln standen seine Besucher ja bestimmt nicht.

„Er ist wach, Dr. Belman, Liam, er ist wach!” Maiya? Das war Maiya! Ein etwas hellerer Fleck war in seinem Sichtfeld, das musste ihr Gesicht sein.
War es aber nicht. „Pupillenreaktion, aber kein Lidschluss”, sagte Julianne, „Er kann uns nicht sehen.” Ihr ärztliches Lämpchen also, das war es.
„Kann ich nicht vielleicht doch ...?”, fragte Liam vorsichtig, worauf er von beiden Frauen energisch angefahren wurde - und von Ron auch, wenngleich das leise Flüstern nicht als sehr energisch durchging. „Du bist wach!”, rief Liam hörbar euphorisch, „Ich bin so froh!”
Du ... lebst ... gut ...”, brachte Sandoval heraus, „Was ... was ist ...”
„Was passiert ist?”, seufzte Kincaid, „Ich habe Zo'or zuviel Energie gegeben. Er war so was von ... leer, dass ich ihm immer mehr gegeben habe, bis ich zusammengeklappt bin.”

Ron fand, dass sein Sohn viel zu riskant lebte und viel zu wenig dagegen tat. Er blickte ziellos umher, immer noch war alles schwarz, aber er konnte Liam anhand der Stimme orten und sah hoffentlich ungefähr in die richtige Richtung. „Zo'or hat Panik bekommen und sämtliche Kameras angeschrien”, fuhr der Kimera fort, „und dann hat Augur ihm den Portalcode gegeben.”
Zo'or ... dich getragen ... Hochnase?”
„Nennt er gerade mich Hochnase?”
„Ach Liam”, seufzte Julianne, „Er will wissen, ob Zo'or nach der Schlepperei die Nase immer noch so hoch trägt.” Sie kam gut hörbar näher und fuhr fort: „Und das tut Zo'or tatsächlich nicht. Er hat einen gesunden Dämpfer bekommen und ist ganz annehmbar.”
„Für einen Taelon sogar sehr annehmbar”, fügte Maiya hinzu, „geradezu freundlich.”

Langsam begann Ron, Schemen zu erkennen, er wusste nur nicht, ob das Gesicht vor ihm Maiyas, Juliannes oder Liams war. Er blinzelte und versuchte, auf den Schemen zu fokussieren. Dunkle Haare, also schon mal nicht Liam.
„Was ist mit ihm los, Julianne?”, fragte Kincaid.
„Du hast seinem CVI die primären Verarbeitungsfunktionen verdreht, die brauchen ein paar Minuten, bis sie wieder richtig mit dem Hirn verknüpft sind”, sagte sie von der Seite, „Keine Sorge, Ron, das wird wieder ganz normal.”
Gut zu wissen. Und da ihre Stimme von der Seite kam, war der Schemen vor ihm also Maiya. Er hob seine linke Hand und flüsterte: „Maiya ...” Sie ergriff seine Hand. Sie hielt seine Hand fest, sie sprintete nicht davon, fuhr nicht mit quietschenden Reifen ab.

Maiya! Er konnte sie sehen! Sie lächelte. Er lächelte auch.

„Ron?”, störte Julianne seine Euphorie (bekam er eigentlich irgendwelche Morphine?). Er blickte zu ihr, die sich von der Seite in sein noch immer unscharfes Gesichtsfeld bewegte. „Ron, den Skrill mussten wir abnehmen, er hätte an deinem uralten Arm nicht lange überlebt”, sagte sie, „Es geht ihm aber gut.” Erleichternd, an den Skrill hatte er nämlich gar nicht gedacht, nur an Liam.
„Ich kann deinem Arm ganz bestimmt helfen”, ergriff dieser das Wort, „nur lässt mich das jetzt keiner.”
Ron zog erfolgreich eine Grimasse, rollte mit den Augen und knurrte: „Iss!” Liam grummelte erst leise, dann begann er hörbar sein Sandwich einzunehmen. Ronald fokussierte wieder auf Maiya.
Sie lächelte immer noch und sagte sanft: „Alles wird gut.”
Sie hatte Recht.

Liam kam dank vieler Sandwiches und anderer Leckereien recht schnell wieder zu Kräften, Rons Arm wurde nach fünf Tagen Bewusstlosigkeit und vier Tagen dauerzitternden Fingern endlich geheilt und Julianne schaffte es, innerhalb zweier Wochen eine ganze immens gesicherte Widerstandsstadt aufzubauen, wenn auch nicht von Grund auf. Ronald kannte die Stadt, dort hatten Liam und Augur ihn damals, fünf Wochen nach der Gedächtnislöschung, eingefangen, um ihm den verdammten Motivationsimperativ ein für alle mal auszubauen.
Es gab mehr als genug Leute, die auf Fahndungslisten standen oder gar offiziell tot waren, und noch weitere Leute, die einfach so dort leben wollten.
Wie Mabel, die Ron eines Tages sagte, dass er Jason sehr ähnlich war und dass auch sie, die nicht nur Maiya war, sich dem nicht entziehen konnte. Sie fanden zusammen, sie beide, die so viele Erinnerungen aus einer anderen Welt teilten.
Zo'or, der ebenfalls in der Widerstandsstadt einquartiert wurde, benahm sich. Zwar war er verständlicherweise ein Aussenseiter, aber Überheblichkeit und Arroganz zeigte er kaum. Sandoval war sich aber sicher, dass diese Charaktereigenschaften nur von einer dünnen Schicht aus distanzierter Freundlichkeit überdeckt waren und leicht wieder zum Vorschein kommen konnten.
Aber der Taelon wollte leben, also lebte er in der Stadt und traf sich jeden Samstag mit Liam, um seine Energieration zu erhalten.

Auch Lili wohnte in der Stadt mit Partner und Kind, die beiden anderen Jaridians allerdings waren mit dem inzwischen reparierten Shuttle unterwegs zurück nach Jaridia. Liam wohnte mit Harmony allerdings nicht hier, er musste ja Da'an beschützen. Aber er kam häufig zu Besuch, ebenso wie Julianne und Augur.
Und dann war da Tate. Der untergrosse Kerl mit schweren Knochen war recht beliebt, vor allem, weil er kochen konnte wie ein Gott. Man munkelte, er könne sogar aus einer Schuhsohle und einer halben Tube Senf ein 5-Gänge-Menü zaubern. Dass Tate das Essen liebte, war Ron immer klar gewesen, aber diese fähige Seite an seinem ehemaligen Handlanger war ihm neu.
Die Taelons auf dem Mutterschiff waren mit der Situation nicht ganz so glücklich, denn irgendwie waren ihre Projekte an die Öffentlichkeit gelangt. Da'ans diplomatische Fähigkeiten hatten ihnen dann immerhin den Hals gerettet, sie wurden nicht geteert und gefedert und aus dem Sonnensystem gejagt.

Ja, Mabel hatte Recht gehabt: Alles wurde gut.
Ron strich sanft über das Gesicht seiner schlafenden Frau, stand auf und machte Frühstück.

 

Ende von Kapitel 6

 

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