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  „Blut” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   September 2010
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Ronald Sandoval sucht nach dem Entführer.
Zeitpunkt:  dritte Staffel, nach der Episode Blutsverwandte
Charaktere:  Ronald, Liam, Dr. Belman, Joyce, (Augur, Da'an)
 

 

BLUT

Kapitel 3: Blut III

 


Eine Druckwelle fegte über Sandoval hinweg und er drückte sich auf den staubigen Boden. Wo war er? Was war passiert? Seine Arme schmerzten höllisch und er fühlte sich als ganzes alles andere als wohl. Als sich der Staub der Explosion legte, rappelte er sich auf und sah sich um.
Industriegebiet, aber nur lauter Lagerhallen und wenige tatsächliche Fabrikgebäude. Hinter ihm war eine weitere Halle gewesen, nun waren dort allerdings nur mehr einzeln stehende Mauerreste und ansonsten Trümmer, zudem begann soeben eine instabile Interdimensionsanomalie zu kollabieren - Ron rannte, da wollte er auf keinen Fall in der Nähe sein.
Er hatte die Anomalie überschätzt, sie sog nur ihre unmittelbare Umgebung in die Interdimension, Sandoval selbst war mit sehr viel Sicherheitsabstand definitiv weit genug weg. Dort, wo zuvor Trümmer gewesen waren, gab es nun praktisch gar nichts mehr, Ron widmete sich also seinem vordringlichen Problem: Wo war er und wie kam er zur Botschaft?
Dieses Problem löste sich glücklicherweise sehr einfach. Eine derartige Explosion blieb nicht unbemerkt und nach kurzer Zeit kamen mit viel Tatütata Feuerwehr und Rettung angefahren. Ron erklärte, was er wusste (was nicht viel war), und liess sich gerne vom Notarzt untersuchen. Aus dem Ergebnis, nämlich, dass er ein Folteropfer war, schloss er, dass er sich in den Händen des Widerstandes befunden und möglicherweise selbst bei seiner Flucht die Explosion ausgelöst hatte.

Sandoval wies das Angebot, die Ringe um die Oberarme und den Metallhaken, der ihm die Verwendung des Skrills verunmöglichte, zu entfernen, zurück, immerhin handelte es sich um Beweisstücke. Ins Krankenhaus fahren liess er sich aber, die Rettungsleitstelle sollte nun auch Major Kincaid informieren. In Anbetracht des gewaltig knurrenden Magens (nun, das war ebenso Folter) nahm Ronald auch durchaus dankbar vom Rettungsfahrer ein Sandwich und eine Halbliterflasche Fanta an.
Im Krankenhaus wurde Sandoval dann die schlichte, weisse, staubige Kleidung los - und erhielt schlichte, weisse, sterile Kleidung. Der Dreck unter seinen Fingernägeln (falls er sich möglicherweise einmal kratzend gewehrt hatte) wanderte in ein Probenröhrchen, von einer Blutspur an seiner linken Schulter wurde ein Abstrich genommen und die Oberarmringe und der Metallhaken wurden entfernt und ebenso auf Spuren untersucht.

Als Kincaid dann ankam (Glücklicherweise brachte er auch Ronalds Ersatzanzug mit.), gerade während eine Schwester Rons Oberarme verband, folgte die Befragung. Wo war Sandoval gewesen? Er nannte die Adresse, die ihm der Rettungsfahrer gesagt hatte. Was hatte er dort gemacht? Das wusste er nicht, er erinnerte sich nicht.
Woran erinnerte er sich denn?
Das letzte, woran er sich klar erinnerte, war jener Tag, an dem ihm Renee Palmer Informationen zur Zusammenarbeit von Doors International mit dem Freiwilligencorps gebracht hatte. Es gab zwar auch Erinnerungsbruchstücke, die er zeitlich danach einordnete, und er hatte auch Erinnerungslücken zuvor, doch dies war das letzte, an das er direkt anschliessen könnte.

„Kincaid, wie lange ist das her?”
„Sechzehn Tage, zwei davon waren Sie verschwunden.”
Eine derartige Amnesie war heftig und ein mentales Trauma kam nicht in Frage, denn sein CVI würde ihm dennoch die Erinnerung ermöglichen. Auch wenn Elektroschocks ein eigentlich recht geringer Auslöser für einen so grossen vergessenen Zeitraum waren, waren sie die einzige Erklärung, denn auch Drogen schieden aus, da sie im Blut nachgewiesen worden wären.
„Was habe ich die vierzehn Tage lang getan?”, fragte Sandoval, als die Schwester schliesslich gegangen war, „Ich ... kann mich an ein Gespräch mit Miss Palmer erinnern, aber nur bruchstückhaft. Und ich war einmal im Flat Planet”, er hob den Blick, „mit Ihnen. Worüber haben wir gesprochen?”
„Wir haben eine Spur zu einer Widerstandsgruppe erörtert”, sagte Liam, „Diese Gruppe hat offenbar Skrills und kann sie wohl auch verwenden.”
„Das ist gefährlich.”
„Sie forschten weiter und plötzlich waren Sie verschwunden”, fuhr Kincaid fort, „An Ihrem letzten bekannten Aufenthaltsort wurden leere Betäubungsgaskapseln gefunden, allerdings konnten wir uns nicht erklären, wie Sie von dort weggebracht wurden, es gab keinerlei diesbezügliche Spuren.” Er rückte sich auf seinem sichtlich wenig bequemen Krankenhausschemel zurecht. „Wieso vernichtet eine Widerstandsgruppe so gut wie alle Spuren völlig, nur um die Gaskapseln einfach liegenzulassen?”, seufzte er, „Das muss einen Grund haben!”
„Ich stimme Ihnen zu, Major”, nickte Ronald.
„Ein Team ist schon an der Explosionsstelle und untersucht dort die Reste”, fügte Liam hinzu, „Eventuell lässt sich durch Interdimensionstomographie ja aus der veränderten Struktur der Interdimension etwas ableiten.”

Interdimensionstomographie ... Sandoval kniff die Augen zusammen. Orangensaft ... er erinnerte sich an ein Glas Orangensaft auf einem Tomographen zu medizinischer Nutzung. Er hatte auf den richtigen Moment gewartet, um zu ... kämpfen - um zu fliehen? Ein solcher Tomograph konnte eine Interdimensionsexplosion auslösen, wenn die Interdimensionsspule auf die richtige Art manipuliert wurde, und Ron wusste, wie das ging.
„Sandoval?”, fragte Kincaid.
„Ja ... ja, ich glaube, ich erinnere mich möglicherweise, wie ich geflohen bin.”

Zunächst blieb es dabei. Liam lieferte hilfsbereit Stichwörter aller Art, doch mehr als dieses eine Erinnerungsbruchstück wollte sich bei Ron nicht einstellen. Schade. Wenigstens dem noch immer knurrenden Magen konnte aber in der Krankenhauscafeteria gut geholfen werden.
„Schmeckt es?”, fragte Kincaid.
„Nein”, schüttelte Ronald den Kopf, „aber ich habe Hunger. Offenbar hatte ich vor zwei Tagen zuletzt eine anständige Mahlzeit.”
„Indisch.”
„Bitte?”
„Wir waren in einem indischen Lokal”, sagte Liam, „Es war mir zu scharf, ich habe gekeucht wie Darth Vader.”
Nein, keine Erinnerung daran, Sandoval schüttelte den Kopf. „Ich bin überrascht”, bemerkte er dann, „Das soll keineswegs gegen Sie gerichtet sein, aber weshalb waren wir gemeinsam essen?”
„Wir haben die Vorgehensweise gegen die Widerstandsgruppe besprochen.”
„Ah.” Aber wieso ausgerechnet beim Essen? Ron war doch noch nie zuvor mit Kollegen essen gegangen, es sei denn es handelte sich um eine Weihnachtsfeier! Er schob diese Merkwürdigkeit als irrelevant beiseite und widmete sich seinem labbrigen ... Essen. Nein, er wollte gar nicht wissen, was das eigentlich sein sollte. „Zu welcher Vorgehensweise kamen wir?”, fragte er schliesslich.
„Da sich Hinweise auf den Aufenthaltsort der Gruppe kaum fanden, blieb das Hauptaugenmerk auf dem Portalsystem”, erklärte Kincaid, „Personen mit Skrill aber ohne CVI werden umgeleitet - allerdings gab es keine Treffer, sie meiden die Portale offensichtlich.”
„Wie kam dann aber ich dazu, sie zu finden?”
„Das weiss ich nicht”, schüttelte Liam den Kopf, „Als wir beide erstmals bei dieser jetzt gesprengten Halle waren, fanden wir dort überhaupt nichts. Sandoval, Sie müssen Informationen gehabt haben, die mir nicht zugänglich waren”, kurze Pause mit Stirnrunzeln, „oder diese Gruppe hatte speziell Sie im Visier.”
„Möglich”, nickte Sandoval, „bleibt aber die Frage, wie wir auf diese Halle kamen ... offensichtlich waren wir dort, bevor diese Gruppe dort war.” Er schob den letzten Rest seiner Mahlzeit auf die Gabel und seufzte. „Vielleicht vermuteten sie, wir würden nicht zweimal dasselbe Gebäude durchsuchen.”
„Als Vermutung wäre es riskant”, stellte Kincaid fest, „Das gekonnte Versteckspiel legt eher nahe, dass sie genau wissen, wo sie sich verstecken können.”
Absolut korrekt - und somit ergab es für den Widerstand überhaupt keinen Sinn, Ron ausgerechnet dort gefangenzuhalten. „Wann waren wir dort, Kincaid?”, fragte Sandoval.
„Vor vier Tagen”, sagte Liam, „daran anschliessend waren wir im Flat Planet.”
„Am Tag darauf?”
„Folgten wir den spärlichen anderen Hinweisen und assen indisch, und am darauf folgenden Morgen erschienen Sie nicht zur Arbeit.” Liam deutete ein schiefes Grinsen an. „Ich würde Sie ja gerne fragen, weshalb sie mitten in der Nacht, ohne jemandem Bescheid zu geben, auf Widerstandsjagd gehen ...”
„Ja, das würde ich mich auch gerne fragen, Kincaid.”

Sie warteten nur noch den Segen des Oberarztes ab, dann begaben sie sich in die Taelonbotschaft. So viel war zu überprüfen! In Kincaids Büro hing ein Plakat an der Wand, das Sandovals bekannte Aufenthaltsorte und einige andere Informationen über den gesamten Zeitraum darstellte. Liam zückte einen Stift und fügte zum Zeitpunkt neun Uhr 38 des aktuellen Tages den Platz vor der zerstörten Lagerhalle hinzu - alles danach war für diese Ermittlung nun unwichtig.
Die Informationen waren dürftig. Das Funknetzlogbuch für Ronalds Global bot immerhin noch den Weg zum Innenhof des alten Bürogebäudes, wo die Betäubungskapseln gefunden worden waren, doch ab da war das Global fast völlig aus dem Funknetz verschwunden gewesen, nur ein paar kurze Signale hatte es später noch gegeben, allerdings zu kurz um mehr als die Funkzelle herauszufinden. Es prangte eine Lücke von zwei Tagen.
Kincaid vermutete, dass die Signale ein Ablenkungsmanöver gewesen waren, denn die 150 Gebäude, die sich in dieser Funkzelle befanden, waren wenig zur Freude ihrer Besitzer und Bewohner oder Betreiber gründlich durchsucht worden. Sandoval stimmte zu, schliesslich musste ein Global ja absolut nicht in der Nähe seines Besitzers sein.
Im Laufe dieses Tages stellte Ron fest, dass sein Gedächtnis bei weitem nicht zuverlässig funktionierte. Was er sonst dank seines CVI eigentlich niemals wieder vergessen hätte sollen, sickerte nun einfach davon. Im Krankenhaus fehlte ihm ein Zeitraum von etwa einer Viertelstunde, er hatte nur die vage Ahnung von einer Frau, die ihm die Fingernägel säuberte - Spuren nahm, vermutete er.
Sicherheitshalber liess er sich von Kincaid einen Schreibblock leihen und begann, sich detaillierte Notizen zu allem zu machen wie ein gewöhnlicher Mensch. Mitte des Nachmittags stellte sich dann heraus, wie gut er daran tat, denn er vergass: Er erinnerte sich kaum mehr an die Fahrt im Rettungswagen, doch auf seinem Schreibblock waren die Details in seiner Handschrift notiert.

So konnte er nicht arbeiten!
Er teilte Kincaid mit, dass er Dr. Belman aufsuchen würde, und verliess die Botschaft.

* * *

Dr. Julianne Belman war sichtlich wenig davon angetan, ihr Wartezimmer umpriorisieren zu müssen, doch als Angestellte der Taelons hatte sie ihn als CVI-Träger bevorzugt zu behandeln. Kaum hatte sie die Türe geschlossen, fiel er mit selbiger ins Haus und zählte die Gedächtnislücken, Erinnerungsbruchstücke und vergessenen Details im zeitlichen Zusammenhang, sowie die möglichen Ursachen, die von seiner Folter herrührten, auf. Sie schien etwas Mühe zu haben, ihm zu folgen, mehrmals fragte sie nach Details, die er schon genannt hatte.
„Wie kann ich trotz des CVI vergessen?”, schloss Ron schliesslich mit einer Frage.
„Nun”, runzelte sie die Stirn, „Ihr CVI ermöglicht Ihnen grundsätzlich, sich an alles zu erinnern, woran sie sich auch sonst irgendwie erinnern könnten, und sei es in Ahnungen oder unzusammenhängenden Bruchstücken, durch irgendwelche Auslöserreize.”
„Genau das geschieht aber, Dr.”, widersprach Sandoval, „Ich konnte mich allein durch die Erwähnung eines Wortes an eine Situation in meiner Gefangenschaft erinnern!”
„Sie haben diese Situation zuvor nicht von Ihrem CVI abgefragt”, sagte sie, „Die Steuerung obliegt Ihnen, Agent Sandoval, nicht dem CVI, und wenn Sie es nicht fragen, antwortet es nicht. Sie müssen also die Frage kennen!” Sie blickte auf ihren Computerbildschirm und dann zu ihm. „Ich würde gerne eine ID-Tomographie machen, dann finden wir eventuelle organische Ursachen.”
Er hatte nichts dagegen, aber leider musste er etwas warten, bis die Tomographie eines anderen Patienten fertig war. Schliesslich nach einigen Minuten legte er sich hin und der Arzthelfer erklärte ihm, was er in der Röhre alles zu unterlassen hatte, und Ron liess diese ihm natürlich bekannte Litanei zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus.
Acht Minuten lang ertrug Sandoval absolute Stille, denn er durfte sich so überhaupt nicht rühren, dass nicht einmal sein gestärkter Hemdkragen am Sakko rieb. Wie schafften es normale Menschen, dabei wachzubleiben? So wenig Probleme ihm das Stillliegen und dennoch Wachbleiben bereiteten, war er doch froh, wieder aufstehen zu dürfen.
„Warten Sie bitte vorne, bis Dr. Belman Ihre Daten ausgewertet hat”, sagte der Arzthelfer freundlich, bevor er dem nächsten Patienten recht monoton die zu beachtenden Dinge erklärte.
Ron seufzte leise und nahm im Wartezimmer Platz. Hoffentlich brauchte sie nicht zu lange.

Er wartete eine geschlagene halbe Stunde, bis Dr. Julianne Belman, die Koryphäe der Neurologie, ihn zu sich rufen liess. Sie zeigte leichte Sorgenfalten auf ihrer Stirn und bot ihm einen Sitzplatz an. „Agent Sandoval, es gibt organische Schäden an Ihrem Gehirn”, kam sie sofort zur Sache, „Zunächst einmal verschreibe ich ihnen ein Medikament, das Ihren Hirndruck etwas senkt. Zur Sicherheit, keine Sorge, weit drüber sind Sie nicht.”
„Welche organische Schäden?”
„Nichts Gravierendes, sie haben eine Gehirnerschütterung, wohl schon seit etwa zwei Tagen”, erklärte sie, „ansonsten leiden Sie an den Nachwirkungen einiger Elektroschocks.” Sie beugte sich etwas nach vorne. „Zum Beispiel retrograde und anterograde Amnesie, aber das weiss ich ja von Ihnen.”
Ron konnte mit Hilfe seines CVI die Fachbegriffe übersetzen. „Werde ich mich wieder erinnern?”, fragte er.
„Das kann ich nicht sagen”, schüttelte sie den Kopf, „aber ich kann Ihnen sagen, dass sich Ihre Vergesslichkeit legen wird, sobald Ihr Gehirn organisch wieder in Ordnung ist. Eine Woche etwa, schätze ich.”
Sehr erleichternd!
„Kann ich aktiv etwas tun, dass ich mich erinnere?”, fragte er, „Stichworte? Ähnliche Situationen? Hypnose?”
„Stichworte und ähnliche Situationen können helfen, ja”, nickte Julianne, „aber es gibt leider keine Garantie. Hypnose hingegen wird keine Wirkung haben, da das CVI denselben Assoziationsmechanismus nutzt.”
„Verstehe.”
„Agent Sandoval, ich rate Ihnen, sich zu schonen!”, erklärte sie, „Lassen Sie es ruhig angehen, idealerweise legen Sie sich ins Bett und schlafen sich so richtig aus.” Sie sah ihn prüfend an und erkannte offensichtlich durchaus, dass er nicht vorhatte, die Ermittlung hintanzustellen. „Kommen Sie morgen wieder zur Kontrolle!”, seufzte sie und stand auf, „Und wenn Sie schon unbedingt arbeiten müssen, lassen Sie sich wenigstens nicht zu irgendwelchen Schlägereien hinreissen.”
„Ich werde daran denken, Doktor”, nickte er und erhob sich, „Vielen Dank.”
Schnell hatte er von der Sprechzimmerdame dann einen genauen Termin für den nächsten Tag erhalten, dann machte er sich auf den Weg zurück zur Botschaft. Zum Portal nahm er eine Abkürzung und zunächst glaubte er zu halluzinieren, als er freundliches Winken aus einem Strassencafé sah, das definitiv ihm galt, denn die Strasse war leer - die Strasse war leer? Zu dieser Tageszeit?

Nach einem Augenblick erkannte er sie. Hatte sie etwas mit seiner Entführung zu tun? Seine Füsse warteten seine Entscheidung nicht ab, sie betraten den von einem grünen Zaun abgetrennten Bereich des Cafés.
Wieso war sie überhaupt hier?

„Joyce Belman”, begrüsste er sie, als er sie inmitten des völlig leeren Strassencafés erreicht hatte.
Sie stand hinter dem Pult, auf dem die Speisekarten lagen, und stützte ihre Ellbogen auf. „Agent Sandoval”, lächelte sie freundlich, „ich habe Sie erwartet.” Sie wies auf einen Tisch gleich neben ihr, der mit Kaffee und Kuchen gedeckt war. „Setzen Sie sich doch.”
Er blieb noch stehen und musterte sie. Wie damals strahlte sie nicht nur im übertragenen Sinne, sondern es war tatsächlich ein leichter Schimmer an ihr wahrnehmbar. Sie trug ihre Haare offen, lächelte zauberhaft und war in ein elegant-sportliches weisses Herbstkostüm gekleidet. Insgesamt machte sie einen harmlosen Eindruck, aber Sandoval wusste, dass dieser Eindruck täuschte.
Nach einigen Augenblicken folgte er ihrer Aufforderung und nahm am Tisch Platz, sie setzte sich ihm gegenüber, auf jene etwas unbeholfen aussehende Art, wie sie ihrem dicken Bauch entsprach. „Sie sind schwanger?”, fragte er verblüfft.
„Ja, das kommt manchmal vor, nicht wahr?”
„Wie?”
Joyce lachte kurz hell auf. „Ich soll Sie aufklären?”, fragte sie, „Agent Sandoval, Sie sind doch kein Kind mehr. Ich bin sicher, auch Sie hatten Sexualkundeunterricht.”
Ron verzog das Gesicht etwas. „Ja, auch ich”, sagte er kühl. Er griff nach der Kuchengabel und versuchte den Schokoladekuchen, der sich als ausgezeichnet entpuppte. „Im neunten Monat?”
„Tatsächlich im fünfzehnten, die Taelon-DNS zögert alles etwas hinaus.”
„Weshalb sind Sie hier?”, fragte er.
„Oh, ich wollte nur ein bisschen nach alten Bekannten sehen”, erklärte sie und löffelte drei Löffel Zucker in ihre Kaffeetasse, „Ich sollte mich bei Ihnen entschuldigen. Dass ich damals auf Sie geschossen habe, war für Sie zweifellos nicht sehr angenehm.” Sie rührte energisch um und goss einen Schluck Milch dazu.
„So ist es”, nickte er, „Ich nehme Ihre Entschuldigung an.” Was sollte er sonst tun? Sie war übermächtig und leicht reizbar. So gern er Joyce in einem Fesselfeld in einer Verhörzelle sähe, er könnte sie niemals überwältigen, sondern würde dabei nur sein Leben für rein gar nichts riskieren. „Hatten Sie etwas mit meiner Entführung zu tun?”, wagte er dennoch zu fragen.
Sie trank einen Schluck Kaffee und schüttelte dann den Kopf. „Nein”, sagte sie, „daran war ich gänzlich unbeteiligt.”

„Aber Sie wissen, wer es war.”

Joyce lächelte strahlend. „Natürlich”, sagte sie, „aber da ich mich soweit entwickelt habe, steht es mir nicht mehr zu, mich hier über Gebühr einzumischen. Das wurde mir klar.” Sie nahm noch einen Schluck Kaffee, dann einen Bissen vom Kuchen, Ron probierte nun selbst den Kaffee, der sehr aromatisch war. „Ich bin sicher, Sie werden Ihre Entführung aufklären”, sagte Joyce.
„Sind Sie?”, sah er sie kritisch an, „Können Sie etwa in die Zukunft sehen?”
„Vielleicht”, lächelte sie, „Nun, nein, die Zukunft ist ungeschrieben, aber manche Dinge sind unausweichlich. Manche sagen Schicksal, aber mir ist diese Sichtweise auf konvergente Pfade fremd.”
„Weshalb sind Sie hier?”, wiederholte Sandoval seine Frage mit einem Anflug von Ärger in der Stimme, „Doch wohl nicht alleine, um sich bei mir zu entschuldigen!”
„Natürlich nicht, Agent Sandoval”, erklärte sie, „Ich werde zunächst einmal Zo'or einen Schrecken einjagen, dann mit meiner Mutter spazieren gehen und ein Querflötenkonzert besuchen. Und vielleicht noch andere Dinge, das wird sich zeigen.” Sehr reizbar und zerstörerisch wirkte sie ja nicht mehr. Offenbar hatte sie sich seit ihrem Versuch, das Mutterschiff auf die Erde stürzen zu lassen, verändert, wenngleich sie Zo'or, den Synodenführer, immer noch nicht für voll zu nehmen schien. „Sie mögen Ihren Kuchen nicht?”
Sandoval runzelte seine Stirn ein wenig und sagte: „Er ist köstlich, aber ...”
„Aber?” Sie lächelte nur freundlich.
Er schob den Teller etwas von sich und straffte sich. Sie lenkte ihn doch nur von seiner Arbeit ab! Er konnte ja auch nicht ausschliessen, dass sie mit seinen Entführern näher zu tun hätte. Ihre Beteiligung würde den Mangel an Spuren bestens erklären. „Ich habe zu tun”, sagte Ron und stand auf, „Entschuldigen Sie mich, ich kehre in die Botschaft zurück.”
„Oh, ich bringe Sie hin”, sprang sie auf, sie huschte um den Tisch und griff nach seinem Arm.
„Miss Belman!”, entzog er sich ihr ärgerlich.
Sie griff noch einmal nach seinem Arm und korrigierte ihn: „Dr. Belman bitte! Ja?”, dann zog sie ihn zwei Schritte mit - durch helles Licht, das sich ähnlich wie ein Interdimensionsportal anfühlte.

Ronald Sandoval fand sich in der Botschaft wieder. Joyce liess seinen Arm los, lächelte freundlich und winkte kurz, bevor sie aufglühte und in Licht verschwand. Doch sowie Ron sich in Bewegung setzte, kam Kincaid um die Ecke und sah ihn verwirrt an. War seine Krawatte schief oder was war so merkwürdig?
„Ich dachte, ich hätte ein Licht gesehen”, entschuldigte sich Liam.
„Das haben Sie”, bestätigte Sandoval, „Dr. Joyce Belman war hier. Ich frage mich, was sie vorhat, immerhin war sie lange nicht mehr auf der Erde.”
Joyce?”, entgleisten Liams Gesichtszüge, nach einem Augenblick fügte er hinzu: „Die Mutterschiffkollidiererin! Wir müssen Zo'or informieren!”
Ronald bremste ihn etwas: „Er weiss es mit Sicherheit schon. Ausserdem gibt es wohl kaum etwas, was wir gegen sie tun können.” Kincaid nickte seufzend, Sandoval strich seinen Anzug glatt. „Es schien mir, wenn sie mit jemandem in Ruhe reden will, sorgt sie einfach dafür, dass niemand stört”, erklärte Ron, „Jedenfalls habe ich die Passage noch niemals so leer gesehen.”
„Ah”, zeigte sich Liam irritiert, „Worüber haben Sie gesprochen?”
„Zusammengefasst nur sehr wenig, Major”, sagte Ronald, „Sie sagte, dass ich meine Entführung aufklären werde, dass sie nichts damit zu tun hat und im fünfzehnten Monat schwanger ist und dass sie hier ist, um nach alten Bekannten zu sehen.” Er wollte noch hinzufügen, dass er die Einstufung seiner Person als alten Bekannten bezweifelte, doch da Kincaid aussah, als habe er einen Geist gesehen, verzichtete er darauf und musterte seinen Kollegen besorgt. „Ist alles in Ordnung, Major?”

Liam schien aus tiefen Gedanken auftauchen zu müssen, er runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf, dann fragte er: „Im fünfzehnten Monat?”
„Ja”, bestätigte Sandoval, „sie sagte, die Taelon-DNS wäre für diese Dauer verantwortlich.”
„Ah so”, murmelte Liam, dann sah er Ron an und schlug vor: „Gehen wir wieder an die Arbeit, die Ergebnisse der Interdimensionstomographie der zerstörten Halle sind endlich da.” Ronald nickte knapp und folgte dem Major in dessen Büro.

Sehr viel boten die Tomographieergebnisse zwar nicht, aber der einzigen halbwegs deutlichen Spur ging Sandoval gewissenhaft nach. Seine Vergesslichkeit legte sich, er erinnerte sich an weitere Fragmente seiner Gefangenschaft (das Anbringen der Armringe beispielsweise) und auch Dr. Belman betonte, dass er sich gut erholte. Liam wurde unterdessen aufs Mutterschiff beordert, um Rons Aufgaben dort zu übernehmen, solange dieser selbst an der Entführung ermittelte. Angeblich hatte Da'an auf die immense Motivation eines persönlich betroffenen verwiesen - interessant, dass Zo'or das gelten liess.
Die eine Spur war die Signatur eines Energiefeldgenerators, wie er zur Abschirmung von Signalen diente, eine Signatur, die sich von der Herstellerfirma bis zu einer Firma namens Neetol Signals verfolgen liess. Allerdings bei Neetol Signals war die Spur zunächst zu Ende: Das Gerät war gestohlen worden.

Es war ja wirklich immer so! Ermittlungen, die sich nicht auch um den Diebstahl von technischen Gerätschaften drehten, gab es scheinbar überhaupt nicht.

Ron kannte die Tricks, die man brauchte, um jemanden zu finden, der sich nachts in dunklen Gassen herumdrückte. Ob es hier gelang, würde sich zeigen, denn beim Lieferanten des Spenderblutes war Sandoval ja gescheitert. Aber auf exakt dieselbe Art wie damals hielt er auch diesmal den Besitzern der Überwachungskameras seinen Ausweis vor die Nase und verlangte einfach, und bekam auch.
Von Tag zu Tag wurde sein dreidimensionales Bild der Umgebung des Firmenstandortes vollständiger und detaillierter und nach acht Tagen hatte er schliesslich ein Gesicht zum Dieb.
Ein bekanntes Gesicht!
Francis Frederik Tate Junior!
Ron hatte sehr häufig mit ihm zusammengearbeitet und doch niemals den Widerstand hinter ihm vermutet. - Wie auch? Frank Tate hatte stets einen so dümmlichen Eindruck vermittelt, dass jeglicher Gedankengang, der länger als sein kleiner Finger war, als für ihn schlicht unmöglich angesehen werden musste.
Offensichtlich hatte dieser Verräter sich allerdings nur so blöd gestellt.
Ronald schrieb ihn zur Fahndung aus und machte zufrieden knapp vor Mitternacht Feierabend.

* * *

Es tat sich nichts.
Frank Tate war verschwunden, Joyce Belman tauchte nicht wieder auf, weitere Spuren gab es nicht, wenngleich Ronald jeden Stein umdrehte. Es war Kincaid, der schliesslich nach drei Wochen doch noch einen Hinweis auftrieb: Er hatte die Elektrodenringe verfolgt.
Sie stammten aus einer Fehlserie, deren Materialzusammensetzung sich geringfügig von jener der anderen Serien unterschied. Zwar blieben dennoch zweitausend Exemplare nachzuverfolgen, doch im Vergleich zu gar nichts war dies eine gute Spur.
Die Vorgehensweise war einfach. Sie liessen sich die Elektrodenringe zeigen, analysierten die Zusammensetzung - und stellten zerknirscht fest, dass alle da waren. Wieder waren fünf Tage ohne Fortschritt vergangen. Es war zermürbend. Derart unauffindbar hatte Ron den Widerstand selten erlebt.
Kincaid schien dennoch zuversichtlich wie immer. Ja, er war wirklich immer zuversichtlich, so als wisse er immer einen Plan B - oder als ginge ihm nie etwas schief.
Es ging tatsächlich kaum eine von Liams Bemühungen schief, er schien weitaus erfolgreicher als Ron, was diesen dazu brachte, an sich selbst zu zweifeln - immerhin war er implantiert, verbessert, und der Major nicht.
Sandoval beschloss, auf keinen Fall locker zu lassen - und das ohne Kincaid. Er überprüfte noch einmal die Besitzer der Fehlserienexemplare und dann noch die Herstellerfirma. Es dauerte zwar Tage, aber er fand etwas.

Ein ehemaliger, jedoch schon vor Monaten verschwundener Mitarbeiter der Fabrik hatte zum Widerstand gehört. Offensichtlich hatte er damals erfahren, dass er verhaftet werden sollte, und sich aus dem Staub gemacht - und dabei noch seine Firma um einige Dinge erleichtert. (Da war er wieder, der Diebstahl von technischen Gerätschaften!)
Alles in allem war dies zwar eine Erklärung, aber eine wenig zufriedenstellende Spur, denn dieser Mitarbeiter war ja seit Monaten verschwunden. Überraschenderweise war es aber gar nicht so schwer, ihn aufzuspüren. Schwer war es erst, ihn in der Kleinstadt in Maryland wirklich zu finden. Jeder sagte nur, er sei weg, ausser dem Sheriff, der sich sicher war, dass der kleine Gauner sich irgendeinen Keller gesucht hatte.

Tatsächlich hatte der kleine Gauner sich einen Keller gesucht - und Ron und der Sheriff gerieten samt der drei Freiwilligen mitten in eine Schiesserei.
Sandoval hätte Kincaid doch mitnehmen sollen. Der Major schien Glück zu bringen.

Ron hockte unbequem halb unter einer späneübersäten Werkzeugbank, ein Freiwilliger drückte sich ganz in der Nähe in eine Nische, in der verschiedenste Holzlatten lehnten, der Sheriff und die beiden anderen Freiwilligen hatten hinter Waschmaschine und Wäschetrockner Deckung gefunden und dabei offensichtlich eine Wasserzuleitung abgerissen, denn sie hockten in einer immer grösser werdenden Pfütze und auf der Waschmaschine blinkte von Pieptönen begleitet no water.
Sandoval und der Freiwillige bei den Holzlatten sassen definitiv fest. Der Weg zurück zur Treppe führte genau durch den absolut deckungsfreien Bereich bis zur Waschmaschine, wenngleich von dort aus das Entkommen ein Kinderspiel wäre, aber Ron konnte seine Gegner noch nicht einmal sehen. Er vermutete einen hinter dem Heizkessel und einen zweiten auf der anderen Seite entweder zwischen Tiefkühlschrank und einem mit Konservendosen vollgestellten Regal oder etwas weiter hinten im Aufgang zu einer Hintertüre. Eventuell gab es auch einen dritten Gegner, da war sich Ronald nicht ganz sicher.
„Laufen Sie!”, wisperte er dem Sheriff zu, kombiniert mit einer entsprechenden Handbewegung, dann wies er auf die Hintertüre, „Umgehen Sie sie!” Er und der Freiwillige bei ihm eröffneten das Sperrfeuer und zwangen die Gegner, in Deckung zu bleiben, während der Sheriff und die beiden anderen Freiwilligen eiligst die Treppe hochliefen.
Von oben war Scheppern und Krachen zu hören, dann purzelte der Sheriff gefolgt von einem halb zerbrochenen Holzstuhl mit Plüschbespannung die Treppe wieder herunter.

Wie zum Teufel konnte sich ein Kampf in einer derart normalen Umgebung so katastrophal entwickeln?
„Sir”, sagte der Freiwillige und drückte Ron die Waffe in den Rücken, „senken Sie Ihren Skrill.” Verdammt! Das war doch nicht möglich! „Sir! Senken Sie Ihren Skrill!”
Sandoval gehorchte widerwillig. Der Widerstand war ja überall! - Und der Sheriff entpuppte sich auch als Mitglied des Widerstandes, er zielte nicht auf den Freiwilligen, sondern auf Ronald.
„Bess? Alles okay da oben?”
„Ja, Sheriff, sie schlafen wie Babys”, rief von oben eine Frau zurück, „Aber mussten Sie da runterfallen?”
„Bess!”, rollte er mit den Augen, „Das war die zusätzliche Ablenkung, und ich war Stuntman, ich kann das!”
Ron blickte langsam über seine Schulter zurück. Im Gegensatz zum Sheriff war der falsche Freiwillige so wachsam wie es bei den beiden richtigen Freiwilligen zu hoffen gewesen wäre. Sandoval liess seinen Skrill also brav gesenkt und rührte sich nicht.

Verdammt! Er hätte Kincaid mitnehmen sollen. Dem passierte so etwas nie.

Als seine Gegner sich hinter ihrer Deckung hervorbequemten, wurde Sandoval sein schwerer Irrtum allerdings bewusst: Der Major wurde vom Widerstand nicht bekämpft, er gehörte dazu! Kincaid war einer der beiden Gegner, der zweite war ein dunkelhäutiger Krimineller namens Augur.
Während Sandoval vom Freiwilligen zum Hinterausgang geschoben wurde, erkannte er auch die zusätzlichen Schutzvorrichtungen, mit denen Kincaid und Augur auch immensen Beschuss lange Zeit durchgehalten hätten, und die exakt ausgerichteten und mit einem Steuersystem verbundenen Waffen, dank derer sie sich wohl nie aus ihrer Deckung herauswagen hatten müssen. Sie hatten ihn hier erwartet, in eine Falle gelockt!
Liam Kincaid erlebte als Companionbeschützer nie kritische und nur sehr selten unbequeme Fehlschläge! Natürlich nicht, denn es war das Ziel des Widerstandes, ihn als absolut taelontreuen Beschützer aufzubauen. Glück hatte damit überhaupt nichts zu tun. Es war wie in diesem chinesischen Film, in dem sich Attentäter von einem Verbündeten töten liessen, damit dieser zur Belohnung näher an den König herantreten durfte.

Nur: Was hatte Kincaid noch vor? Er genoss Zo'ors Vertrauen bereits so sehr, wie es einem Nichtimplantanten nur möglich sein konnte. Was wollte er?

„Ich sage dir, Liam, das war das letzte Mal, dass ich mich von herabrieselndem Putz panieren lasse!”, zeigte Augur seinen Unmut über die verstaubte Kleidung, sorgfältig bürstete er sein gelb-rot-blaues Hemd quadratzentimeterweise sauber, „Und überhaupt kriegt mich niemand mehr in einen staubigen Raum, es sei denn es ist Goldstaub!”
„Los, gehen wir”, sagte Kincaid nur und ging voran die Treppe zur Hintertüre hoch und aus dem Haus, der Sheriff bedeutete Sandoval, ihm zu folgen.
Draussen ging es zunächst der Hauswand entlang, Ron immer mit einer Waffe im Rücken, doch als eine Hecke eine Richtungsänderung erzwang, schlug er dem Freiwilligen den Ellbogen in den Bauch und rammte den Sheriff mit der Schulter, während er seinen rechten Arm auf Kincaid richtete und schoss.
Und traf.
Im nächsten Augenblick sah er noch kurz den Boden einer gusseisernen Pfanne, dann gar nichts mehr.

* * *

Zögernd wich die Dunkelheit zurück, es blieben ein pochender Kopfschmerz und leichter Schwindel. Ronald lag weich und war ebenso weich zugedeckt. In einem Bett? Er öffnete die Augen und identifizierte die Umgebung als Krankenzimmer.
„Hey, Sie sind ja endlich wach”, grinste ihn der Kriminelle Augur an.
Was ist passiert?
„Sie standen unter dem Küchenfenster und Bess hat Ihnen ihre grösste Pfanne übergebraten”, erklärte Augur, „Sie haben auch auf der Stirn jetzt eine zweite Nase.”
Ron spürte immense Verwirrung, hier passte nichts wirklich zusammen. Augur war einer der Gegner gewesen und grinste jetzt freundlich? Widerstand gegen Companion-Agent - warum das denn eigentlich? Die Taelons hatten eine ganze Menge angestellt, warum hatte Sandoval sich nicht auch schon lange gegen sie gewandt?
„Kincaid!”, fiel ihm ein, „Wie ...” Sich aufzusetzen war eine schlechte Idee, alles drehte sich um ihn und sein Kopf geriet unversehens in eine unsichtbare Schraubzwinge.
„Der wird schon wieder”, beruhigte Augur ihn, „Er ist ziemlich hart im Nehmen.” Wieso beruhigte er ihn? Immerhin hatte Ronald auf den Major geschossen! „Also, Sie haben sich sicher schon gedacht, dass wir Ihnen eine Falle gestellt haben”, grinste Augur. Ron nickte vorsichtig und langsam in Anbetracht der unsichtbaren Schraubzwinge. „Ja, war auch so”, erklärte der Schwarze, „Sie haben dem übrigens zugestimmt, bevor Ihr Gedächtnis gelöscht werden musste. Und jetzt haben Sie ein neues CVI, ohne Motivationsimperativ.”
„Ah!”, war Sandoval überrascht. Sein CVI musste zusammengebrochen gewesen sein. Er hatte schon zuvor, als sein erstes CVI zusammengebrochen war, nach dem Widerstand gesucht - mit dem Ziel, sich für seine kurze verbleibende Lebenszeit anzuschliessen.
Jetzt, über zwei Jahre danach, hatte er diese Chance tatsächlich. Kein Imperativ in seinem dritten? - vierten? CVI zwang ihn mehr, den Taelons zu dienen.
„Ihre ... Kincaids? Planung war offensichtlich sehr gut”, stellte Ron fest, „Nur ein paar mehr Leute, um mich in Schach zu halten, hätten nicht geschadet.” Er legte sich seine angenehm warme rechte Hand auf die ausgebeulte Stirn und für einen Augenblick verschwanden die Kopfschmerzen tatsächlich, jedenfalls aber waren sie deutlich gelindert.
„Stimmt”, nickte Augur, „aber Liam wird ja wieder. Ausserdem bot das Märchen über skrilltragende Widerständler ja bestens eine sehr schöne Erklärung für seinen Zustand.”
„Die Skrillsignatur!”, wandte Sandoval ein.
Augur grinste bis zu den Ohren und sagte: „Ein Verzerrer macht problemlos eine nicht taelonisch markierte Skrillsignatur daraus.”
„Das geht?”, staunte Ron.
„Wir sind der Widerstand, wir haben ziemlich viele Gegenmassnahmen gegen die taelonische Überwachung und Kontrolle entwickelt.” Der Stolz war deutlich herauszuhören - und mehr als gerechtfertigt. Schon allein die Skrillsignatur zu neutralisieren - und dann auch noch den Motivationsimperativ eines Implantats zu entfernen ...

Grandios!

Ronald genoss noch etwas das Gefühl, dass der Widerstand wirklich eine Chance gegen die Taelons hatte, gestört wurde er ohnehin. Dr. Julianne Belman fuhr einen Krankenhausrollstuhl herein und lächelte freundlich. Kincaid war wach und fragte nach ihm.
Mit einem wenig dezenten „Also, ich gehe dann mal.” stahl sich Augur davon, dass Julianne Ron ins Nebenzimmer fahren musste, aber auch sie blieb nicht.
Liam war zwar etwas blass, aber er war fröhlich wie immer. „Die Implantation ist also gut gelungen”, stellte er fest, „aber das ist bei Dr. Belman natürlich zu erwarten.” Mit der linken Hand - die rechte war in einer Schlinge - stellte er das Kopfende fast ganz hoch. „Eine heftige Beule haben Sie da.”
„Ja.” Ron tastete über seine Stirn. „Habe ich Sie schwer verletzt?”, fragte er dann.
„Die Schulter nur, ich konnte etwas ausweichen.”
Sandoval senkte den Kopf ein wenig. „Mag sein, dass es alles nur am Motivationsimperativ lag, aber ... Sie scheinen mir ja überhaupt nicht zu zürnen!”, bemerkte er, „Das erstaunt mich.”
Liam grinste und sagte: „Sie haben sich entschuldigt.” Mit etwas gerunzelter Stirn blickte er auf seine linke Handfläche, dann bedeutete er Ron, näherzukommen. „Geben Sie mir Ihre rechte Hand.”
Ronald stemmte sich hoch und zog den Rollstuhl mit sich näher zum Kopfende, dann streckte er dem Major die Hand wie zum Gruss hin. Liam grinste schief, richtete Rons Hand senkrecht aus und drückte dann Handfläche gegen Handfläche.

Wie bei den Taelons!

Mit einem Mal strömte Hitze von der Hand aus durch Ronalds ganzen Körper und alles drehte sich in sanftem Licht. Das Sharing war nur kurz, doch die Lücken in Rons Gedächtnis schlossen sich. Er erinnerte sich an alles, die Suche, seinen Kimera-Sohn Liam, den regenerierten Motivationsimperativ, Tate und das Schokoladehörnchen ... an alles!
An alles! Auch daran, was Liam über Joyce gesagt hatte - und an Liams Reaktion auf die Schwangerschaft ...
„Sie wussten es nicht!”, flüsterte Sandoval.
„Ich erfuhr es erst von Ihnen”, bestätigte Liam, „... Opa.”
Ron stellte sofort unangenehm fest, dass Lachen in seinem Zustand Kopfschmerzen verursachte, aber in seinem Alter Grossvater zu werden war rekordverdächtig jung. - Liams Alter als werdender Vater hingegen definitiv Rekord.

„Sie haben mich gekonnt an der Nase herumgeführt”, stellte Ronald lächelnd fest, „Man bedenke, ich hielt Tate für ein schlaues Widerstandsmitglied. Was ist überhaupt jetzt mit Tate?”
Liam schmunzelte: „Er hat beschlossen, dass es zwischen Widerstand und Taelons zu gefährlich ist. Der Widerstand füttert ihn durch und mehr scheint er sich ja auch nicht gross zu wünschen.” Oh, wie das zu Tate passte!
„Wie haben Sie es geschafft, dass ich mich an einzelne Dinge dann wieder erinnern konnte?”, wechselte Ron das Thema, „Die Fragmente gab es ja alle, aber alleine gaben sie ein völlig falsches Bild ab.”
„Kimera”, zwinkerte Liam und liess sein Shaqarava leicht Schimmern, „Das meiste habe ich völlig aus den Assoziationen gelöst, aber die Fragmente wurden nur ... unsichtbar gemacht, so konnte das CVI sie bei einem Schlüsselreiz wieder finden.”
„Den Sie mir zukommen liessen.”
„Sofern es nicht zufällig jemand anderes zuvor getan hat, ja”, nickte Liam.
Sandoval lehnte sich zurück und seufzte: „Wenn ich denke, dass ich erst kürzlich zweimal versucht habe, Sie umzubringen ... schrecklich.” Er betrachtete seinen Skrill. „Sie haben sich mehr in Gefahr gebracht, als es hätte sein müssen.”
„Vielleicht, aber verbleiben wir dabei, dass meine Reflexe schnell genug sind.”
„Kimeraerbe?”, fragte Ron.
„Könnte sein, aber tatsächlich zweifle ich daran”, schüttelte Kincaid den Kopf, „Nach menschlichen Massstäben bin ich im sehr lernfähigen Alter eines Kleinkindes, noch fast ein Baby - und so sieht mein Gehirn auch aus.” Er schob seine blossen Füsse unter der Decke hervor und stand auf. „Die kleinkindtypischen Fehlverknüpfungen treten bei mir ja auch auf”, fügte er hinzu, „In solchen Situationen mache ich mitunter einen richtig dämlichen Eindruck, aber glücklicherweise hält es sich in Grenzen.”
„Hm, ja, das erklärt, warum ich Sie höflich ausgedrückt nicht gerade für eine Intelligenzbestie gehalten habe.”
„Ach du Schreck, mein Vater hält mich für einen Idioten”, grinste Liam und als es klopfte, rief er laut: „Herein!”

Julianne trat ein und schloss die Türe hinter sich. „Major, Sie sollten doch noch nicht aufsteh... was zum ...” Ron verrenkte sich etwas, um ihrem Blick zu folgen, und traute seinen Augen nicht, Liam, der neben ihn getreten war, klappte verdutzt den Mund auf.
Da lag ein Baby in einem Körbchen! Ein zerknautschtes, aber dennoch sichtbar asiatisch angehauchtes Gesichtchen, ein hellgrüner Strampelanzug und eine zur Hälfte fortgestrampelte tiefblaue Decke - die linke Hand hielt ein eingerolltes Stück Papier fest umklammert.
Liam hockte nieder und zog vorsichtig daran, dann rollte er das Blatt auf.

Hallo Liam, Hallo Mutter, Hallo Ronald (Ich hoffe, da wir ja eine Familie sind, ist der Vorname OK.)

Zunächst einmal: Schön, dass ihr gerade zusammen diesen Brief lest.
Dann, Liam: Ich soll dir einen schönen Gruss von Ha'gel ausrichten. Er ist stolz auf dich.
Was mich angeht, ich kann nicht auf der Erde bleiben. Einmischung dieser Art ist jenen, die soweit entwickelt sind wie ich, nicht gestattet, und ich habe mit dem Versuch, die Menschheit auszulöschen, den Bogen sowieso ziemlich überspannt. Zur Beruhigung: Sie hätten sich eingemischt, wenn Captain Marquette es nicht geschafft hätte, den Interdimensionsantrieb in Gang zu bringen.
Jedenfalls kann ich nicht bleiben - und meine und Liams Tochter kann nicht mit mir kommen, ihr fehlt (zumindest noch) die Fähigkeit, frei zwischen Normalraum und Interdimension zu wandeln. Um ihr ein möglichst normales Leben zu ermöglichen habe ich mit Ha'gels Hilfe ihre Alterung von Mensch-Taelon-Jaridian-Kimera-Mischling plus Kimera-Eilzugmodus (der gegen die langsame Taelon-DNS auch nicht so richtig half - und verzeiht bitte die saloppe Wortwahl) auf normalmenschliche Entwicklung umgeprägt.
Sie hat übrigens noch einen Brief in der anderen Hand.
Liam, da Nichterinnern wenig schmeichelhaft wäre: Die vermeintliche Absenderin ist Irina Colby, 26, Archäologiestudentin in New York. Sie existiert nicht, aber ich habe Augur nachgeeifert und dafür gesorgt, dass es ihre Identität gibt - ausserdem erinnern sich ein paar Leute an sie (mich) - im Krankenhaus ein paar, in der Uni ein paar. Ist alles wasserdicht.
Und keine Sorge: So weit weg bin ich nicht.

Joyce

Hallo Liam

Ich bin nicht sicher, ob du dich an mich erinnerst, aber wir sind uns ein paar Mal begegnet. Wir hatten verdammt viel Spass zusammen, ich meine jene Art Spass, die neun Monate später Hand und Fuss hat, du verstehst?
Jedenfalls habe ich der Knirpsin den Namen Harmony gegeben. Wenn er dir nicht gefällt, steh halt bei den Ämtern Kopf, vielleicht ändern sie ihn dann ja. Du kriegst das Sorgerecht, ich bin weg. Ich kann mich sowieso nicht zuverlässig um ein Kind kümmern, aber du kannst das sicher prima, immerhin passt du ja auch auf grosse Taelons auf und das ist bestimmt viel schwieriger.
Viel Erfolg!

Küsschen von Irina

* * *

Es gab keine Probleme. Liam bekam das volle Sorgerecht für Harmony Kincaid ohne grosses Theater zugesprochen. Augur fand ein paar Fotos von Irina Colby, die sich als bildhübsche Asiatin entpuppte - und sofort eingerahmt auf Liams Schreibtisch landete. Einen Babysitter zu finden gestaltete sich prinzipiell auch nicht schwierig, da die Kleine selbst Augur völlig verzaubert hatte und er stolz von sich behauptete, mit teilweise ausserirdischen Kindern einige Erfahrung zu haben (was ja, wie Liam zugeben musste, auch stimmte).
Aber der Vater gab die Tochter nur ungern aus den Händen und wenn überhaupt musste es ein richtiges Kindermädchen sein. Das wiederum war schwierig. Immerhin war Liam eine recht öffentliche Person, der letzte Schritt auf dem Weg zum nordamerikanischen Companion - und ein Kindermädchen mit Sicherheitseinstufung ... nun, das war zwar machbar, aber es dauerte. Und bis dahin wäre Harmony einfach in einem Schaukelwagen mit in der Botschaft.

War sie auch. Ron hörte es deutlich. Im ersten Augenblick sprang er auf und flog förmlich dem Geschrei entgegen, doch rechtzeitig besann er sich, dass er hier in der Botschaft nicht Grossvater sondern Companion-Agent war. Als er den Ort des höchsten Geräuschpegels erreichte, sah er auch schon aus dem Augenwinkel Da'an herbeikommen.
Los, Ron, du musst ein implantierter Agent und Vorgesetzter sein, keinesfalls nett und hilfsbereit!
„Major, lassen Sie Ihren ... Fehltritt gefälligst nicht die ganze Botschaft beschallen!”, fuhr er seinen Sohn an, „Suchen Sie sich ein Kindermädchen!”
„Danke für Ihren Rat, Agent Sandoval”, gab Liam kühl zurück, „Wie Sie möglicherweise schon bemerkt haben, habe ich einige Sicherheitseinstufungen angefordert. - Je schneller die bearbeitet sind, umso schneller ist Harmony nicht mehr hier.”
„Sehr harmonisch klingt das ja nicht ...”
„Agent Sandoval, gibt es ein Problem?”, fragte Da'an, der inzwischen nahe zu ihnen getreten war.
„Es ... ist laut”, sagte Ron und wurde sich mit einem Mal bewusst, dass er nicht einschätzen konnte, wie er mit Motivationsimperativ antworten würde.
Da'an machte eine seiner hübschen Handbewegungen und trat an Sandoval vorbei. „Das höre ich”, sagte er, „Ist das Ihr Abkömmling, Major?” Liam bejahte, immer noch bemüht, das Kind in seinen Armen wenigstens etwas zu beruhigen. Da'an hob eine Hand und strich durch Harmonys kurzes dunkles Haar. „Ein schönes Kind”, sagte er leise, „Behüten Sie es gut.”
„Das werde ich”, nickte Liam.
Da'an drehte sich um und lächelte Ronald an: „Agent Sandoval, ich schlage vor, Sie erwerben ein Paar Ohrenstöpsel.” Dann schlenderte er davon.

Ron hatte gut zu tun, diesen Vorschlag zu verdauen. Er schlug leicht seinen Kopf gegen die Wand und seufzte: „Er ergreift immer deine Partei!”
Liam trat mit inzwischen friedlich dösender Harmony zu ihm, sagte freundlich grinsend: „Tschuldigung”, und klopfte ihm auf die Schulter.
Und damit war nun auch das allerletzte klitzekleine Bisschen verletztes Ego in Ronald Sandoval absolut zufrieden.

 

Ende von Kapitel 3

 

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