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  „Blut” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   August 2010
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Ronald Sandoval lernt seinen Sohn kennen.
Zeitpunkt:  dritte Staffel, nach der Episode Blutsverwandte
Charaktere:  Ronald, Liam, Augur, (Tate)
 

 

BLUT

Kapitel 2: Blut II

 

Sie benutzten ein Portal, was Ronald zum Gedanken brachte, dass der Kimera durch die genetischen Scans des Portalsystems eigentlich längst entdeckt hätte werden müssen. Warum konnte Liam das System völlig unbehelligt nutzen? Aber Sandoval sparte sich diese Frage, genau wie eine Menge andere, auf später auf, vorerst hielt er Kincaid an einer Kreuzung an, wies in die Querstrasse und sagte: „Ich sollte noch Mr. Augur freilassen.”
Erst machte Liam grosse Augen, doch kaum später nickte er verstehend. Er folgte Ronald die Strasse entlang und betrat mit ihm einen kleinen Hof und von dort durch die Hintertüre das Lager eines seit Wochen geschlossenen Gemischtwarenladens.
Augur war sichtlich wenig erfreut, Sandoval zu sehen, und was er von Liams Anwesenheit halten sollte, war ihm wohl auch nicht ganz klar. Aber er packte die Gelegenheit beim Schopf und verzog sich eilig, nachdem ihm Kincaid für später eine Erklärung zugesagt hatte. Ron hingegen konnte kaum erwarten, Liam gegenüber an einem Tisch im Flat Planet zu sitzen.

Kincaid hatte Einfluss, dank ihm wurde das von Augur noch an der Pinnwand notierte Hausverbot nicht durchgesetzt. Dieses Lokal musste eine wahre Widerstandshochburg sein, aber es sassen hier auch nicht wenige Freiwillige - die das alle nicht bemerkten? Aber Ronald hatte es auch nicht bemerkt.
Wieviel hatte sich allein durch das Wissen, dass Liam sein Sohn war, verändert!
Liam? Oder Kieran?
Vermutlich doch Liam, und Augur hatte nur einen Namen genannt, der nicht auf Liam Kincaid hinwies. Dass Augur sehr viel weniger die Wahrheit gesagt hatte, als Ronald gedacht hatte, war ja nun auch klar.

„Ich nehme an, Sie sind nicht nur zum trinken hier”, riss Liam ihn aus seinen Gedanken und trank einen Schluck Bier.
Ron schüttelte den Kopf. „Nein”, sagte er, „Ich wüsste gerne, wie Sie der Entdeckung entkommen sind.”
„Das ist einfach”, zuckte Kincaid mit den Schultern, „Meine genetische Ausstrahlung entspricht nicht meinem eigentlichen Genom, und meine Kimera-Gene sind viel schwieriger biochemisch zu sequenzieren als meine menschlichen.”
Das erklärte es tatsächlich. „Ah”, nickte Ron nur und starrte in sein Bier.

Es war schwer, den Soldaten und den Sohn zusammenzufügen. Sandoval hatte sich viel mehr Familie erhofft.
Maschinell und dumpf funktionierte Ronald. Er trank sein Bier, bestellte ein weiteres und trank auch dieses. Schade, dass er sich nicht betrinken konnte, ein bisschen alkoholinduzierte Euphorie würde das dumpfe Gefühl vertreiben und ihm vielleicht ermöglichen, Liam ganz neu zu beurteilen.
Die beiden Meinungen, die er jetzt noch hatte, wollten und wollten nicht zusammenpassen, gleich wie er alles drehte und wendete. Aber ihm war natürlich klar, dass Soldat und Sohn zusammengehörten und er die Gesamtperson kennenlernen musste.
Noch ein Bier. Er wurde nicht betrunken. Leider.
Wenn er nur jemanden zum reden hätte ... aber CVI-Träger lebten meist reichlich solitär. Ebenfalls leider, aber vor dem Zusammenbruch des Motivationsimperativs hatte er sich das selbst eingebrockt. Das CVI hatte ihn dazu gezwungen, könnte er sagen, aber allein der Motivationsimperativ war es nicht gewesen. Es gab andere Implantierte, die den Dienst an den Taelons und ein gesundes Privatleben durchaus unter einen Hut brachten.
Lieutenant Beckett hatte es auch geschafft. Ihr war Liam auch recht nahe gekommen, er hatte sie offensichtlich als angenehme Gesellschaft betrachtet - Ronald hingegen war alles andere als angenehme Gesellschaft gewesen. Leider.

Noch ein Bier - nein, lieber etwas Stärkeres, vielleicht hatten CVI-Träger doch nur eine höhere Trunkenheitsschwelle. Mothership Core Break also, und gleich einen zweiten hinterher. Liam hingegen hatte löblicherweise nach dem ersten Bier schon auf Himbeersoda umgesattelt.
Ronald hatte sich das alles ganz anders erhofft. Aber es war nun einmal Liam sein Sohn und nicht - ja wer eigentlich? Ein kleines Kind? Als kinderlieb hatte Ron sich nie gesehen, er hätte bestenfalls ein reicher Verwandter zu hohen Feiertagen sein können, zumal Zieheltern ein Kind nicht einfach fortgeben hätten wollen.

Vielleicht war es besser so, ja, vielleicht wirklich.

* * *

Der Alkohol hatte nicht gewirkt, Sandoval war kein bisschen euphorisch geworden - nur den Kater am folgenden Morgen durchlitt er in ungeahnter Intensität. Es waren noch viele, viele Getränke mehr geworden und weit nach Mitternacht, bis Ronald sich schliesslich heimwärts begeben hatte. Sie hatten sich im Wesentlichen angeschwiegen, es war Ron unpassend erschienen, Liam wie einen Gefangenen zu verhören, und von selbst sagte Kincaid nichts.
Sandovals Kopf lag nun auf seiner Schreibtischplatte, der Agent hatte die Augen geschlossen und versuchte, irgendwie mit dem Pochen in seinem Kopf zurechtzukommen, ein Bewegungsmelder auf dem Korridor würde ihn schon rechtzeitig aufschrecken, bevor jemand hereinkäme. Aber diese Kopfschmerzen! Schlimmer als nach seinem schlimmsten Studentenbesäufnis, und das CVI war schuld. Kaum dachte Ron an seinen Kater, brachte dieses dreimal verfluchte Implantat jeden, jeden, jeden einzelnen verdammten Schmerzeindruck des ganzen Morgens sehr lebhaft zurück.

Oh, Sandoval beneidete die Nichtimplantierten.
Und er konnte keine verdammten Rollmöpse mehr sehen.

Ein Vibrieren an seinem Arm schreckte Ronald erfolgreich auf, schnell setzte er sich gerade hin und strich seine Haare glatt. Kincaid betrat Rons Büro, grüsste fröhlich (Der war ja wirklich immer so fröhlich!) und stellte einen Becher Ayran auf den Schreibtisch. Sandoval erwiderte den Gruss nicht, nahm aber das Getränk gerne an. Salzig und sauer, genau wie Rollmöpse, schmeckte aber besser. Wenige Sekunden später schickte Ronald den leeren Plastikbecher auf die Flugreise zum Müllkübel und liess seinen Kopf wieder auf die Tischplatte fallen.
Keine Schrittgeräusche. „Was wollen Sie noch, Kincaid?”, nuschelte Sandoval zwischen seinen Aktenstapeln hervor.
„Da'an wünscht die Freiwilligenbeurteilungen von Ihnen unterschrieben, und zwar vorgestern.”
Da'an wünscht viel, wenn der Tag lang ist ...
„Ich würde Ihre Unterschrift ja fälschen, wenn ich könnte”, sagte Liam, und Ron konnte das Augenrollen auch mit auf der Tischplatte liegendem Gesicht förmlich sehen.
„Ach, her damit”, gab Sandoval nach und hievte seinen bestimmt zwei Tonnen schweren Kopf hoch. Kincaid reichte ihm eine geöffnete Mappe, Ronald erkannte die Handschrift seines Sohnes bei den Korrekturnotizen. Sicherheitshalber blätterte er die Mappe noch kurz durch, die Arbeit war mehr als sorgfältig, dann unterzeichnete er auf der letzten Seite. „Haben Sie noch andere Dinge ausgefüllt? In letzter Zeit?”
„Übersichtsblätter, Kontrollberichte, Personalanforderungen, ...”
Rons Kopf sank wieder auf die Schreibtischplatte. Kincaid hatte ja für zwei gearbeitet!

* * *

Sowohl Arbeitstag als auch Kater gingen vorüber. Ron hatte Schmerzfreiheit nie zuvor so sehr zu schätzen gewusst. Sein CVI half ihm, nicht im Boden zu versinken, sondern Liam zügig zum Essen einzuladen. Mexikanisch? Italienisch? - Irisch? Es wurde schliesslich indisches Essen und Kincaid erwischte es sichtlich einiges schärfer, als ihm lieb war.
„Ich war mehr als überrascht, festzustellen, dass Sie mich vor den Auswirkungen meiner ... fehlenden Arbeitsmotivation schützen”, sagte Sandoval. Liam versuchte ein Grinsen, trank dann aber flott das fruchtige Lassi ganz aus, um die Schärfe zu binden. „Noch ein Lassi?”, fragte Ronald.
„Nein, es geht schon, ich esse eben einfach langsamer”, murmelte Liam, „Und warum sollte ich Sie nicht schützen?”
Tja. Sandoval begann, aufzuzählen: „Untaugliche Waffe, versuchte Gehirnwellenmanipulation, ...”
„Stimmt.”
„Weshalb haben Sie mich dennoch geschützt?”, wiederholte er die Frage.
„Es gibt einen absolut klaren, bewussten Tag in Ihrem Leben, an den ich mich erinnern kann”, erklärte Liam und Ron begriff schnell, welchen Tag sein Sohn meinte.
Sandovals CVI war zusammengebrochen gewesen und hatte ausgetauscht werden müssen - aber damals, an diesem Tag, waren ihm Dee-Dee und der Widerstand wichtiger gewesen als sein Leben, und er war aus dem Implantationslabor geflohen. Boone hatte damals zugegeben, zum Widerstand zu gehören, sich später allerdings darauf berufen, Ron damit nur angelockt zu haben. Dieser Tag brachte so viele Erinnerungen hervor.
„Was ist mit Dee-Dee?”, fragte Sandoval.
„Neuer Name, neues Leben”, sagte Liam.
Damit war auf jeden Fall klar, dass Boone zum Widerstand gehört hatte. Gut für Dee-Dee. Sehr gut für Dee-Dee. Aber nach über zwei Jahren würde sie nicht zu Ronald zurückkehren, und er war es auch gar nicht wert. Aber es freute ihn natürlich sehr, dass sie am Leben war.
Es gab noch soviel zu fragen ... „Wie hat Boone den Motivationsimperativ so schnell überwunden?”
„Er hatte nie einen”, sagte Kincaid, „Dr. Belman hat monatelang an dieser Modifikation des Implantats gearbeitet.”
Verdammt! Warum hatte sie nicht auch an jenem Tag ein solcherart modifiziertes CVI zur Hand haben können?
Es blieb nicht bei einem angenehmen Gespräch. Leider. Liam wurde ganz still, sein Blick wurde fast düster. Sandoval rekapitulierte den Abend und kam auf keinen grünen Zweig, was diese plötzliche Verhaltensänderung anging. Allerdings war der düstere Blick ansteckend und das Essen machte nun auch keine grosse Freude mehr.

„Schweigen?”, seufzte Ron schliesslich.
„Bisher wussten Sie es, jetzt können Sie es beweisen.”
„Wie bitte?”, hob er die Brauen.
„Über Dr. Belman kriegen Sie den Widerstand”, erklärte Kincaid, „damit muss mein Misstrauen als Mitglied des Widerstandes jetzt den Vorrang geniessen.”
Verständlich, wenn auch schade. „Was haben Sie also vor?”, fragte Sandoval, „Und hätte nicht schon mein Wissen über Augur Sie misstrauisch machen müssen?”
Liam legte seine Kreditkarte auf den Tisch und sagte: „Augur versteckt sich nun, aber Dr. Belman kann das nicht.” Dann hob eine Hand und rief: „Zahlen, bitte!” Diese Notwendigkeit war auch schnell erledigt, dann brachte Kincaid Ron ... in ein Versteck des Widerstandes unterhalb der Kirche.
Etwas mulmig wurde Sandoval schon, als Augur ihn von der Computeranlage herüber so atomspaltend ansah. Aber der starke Verdacht, dass Liam ihn an seinen Geburtsort gebracht hatte, machte es wieder wett.

Dennoch: Was nun?

Kincaid stieg eine Metalltreppe hoch und Ron folgte ihm entweder wie ein Schosshündchen zum Körbchen oder ein Mastschwein zum Schlachthof (Er hoffte natürlich eher Ersteres und gar so gut genährt war er auch wieder nicht.) auf die Galerie, eine Sitzecke bot bequemen Platz. „Was habe ich vor, ja”, seufzte Liam, „Die letzte Alternative ist eine Gedächtnislöschung.”
„Gedächtnislöschung”, wiederholte Ronald, „wie damals bei Lieutenant Beckett?” Kincaid nickte. „Ich habe Einwände”, sagte Ron. (Dennoch: Besser als Schlachthof.)
„Deshalb zuerst ein Sharing”, erklärte Liam und hob eine Hand, in der es leicht schimmerte, „Beweisen Sie mir, dass Sie den Widerstand nicht verraten!” Sharing. Das funktionierte auch mit Menschen?
Erschrocken blinzelte Sandoval, als sein CVI ihm den Augenblick von Siobhán Becketts Tod in Erinnerung rief. Liam hatte seine Mutter festgehalten, mit ihr gesprochen, seine Handfläche flach gegen die ihre gedrückt. Sie war wissend gestorben, mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Alles in Ordnung?”
Ron blickte auf. „Ja”, sagte er und hob seine Hand, „Ja, alles in Ordnung.”

Erwachsene Worte konnten es nicht beschreiben. Niemals! Voll der Hammer! Ja, so konnte man es beschreiben, inmitten tausender Gedankenstränge aus Licht zu schweben. Aber Sandoval schwebte nicht nur im Licht, er spürte auch, nahm so vieles wahr.
Leise Fetzen an Erinnerungen, die Ronald nicht gehörten. Er sah sich selbst durch Ha'gels Augen - er war ein komplizierter Wirt, das hatte Ha'gel sogar gesagt. Stimmte wohl. Bruchstücke seiner eigenen Erinnerungen fielen an ihren Platz, sodass sie sich nun doppelt zeigten - nein, eben nicht seine Erinnerungen, das war Liams genetisches Gedächtnis!

Da war mehr!

Mehr Erinnerungen, die ihm nicht gehörten! Doch sie stammten von ihm ... was ging da vor? Er hatte Maiya nie geküsst! - Hätte er sich womöglich vielleicht gewünscht, das war ihm nicht ganz klar, aber getan hatte er es nie. Waren das Jasons Erinnerungen? Maiyas dimensionale Anpassung hatte Ron damals ermöglicht, die Erinnerungen seines dimensionalen Doppelgängers zu empfangen, aber ... Kimera konnten doch keine mentalen Verbindungen zu Paralleluniversen aufbauen. (Oder? Kimera konnten eine ganze Menge! Vielleicht doch auch das.)
Auf jeden Fall machten Jasons Erinnerungen (und das waren sie, inzwischen erinnerte sich Ron auch an Kayla, Captain Marquettes unsympathische implantierte Doppelgängerin) alles sehr viel komplizierter. Noch ein Paar Augen, mit denen er Liam sah, und zwar in einem reichlich positiven Licht. Jason hatte Maiya gebeten, Liam ins andere Universum zu begleiten, um ihn zu beschützen. Sie stand in Liams Schuld, er hatte ihr das Leben gerettet.
Maiya ... wäre sie nur nicht hergekommen, dann wäre sie auch nicht an der dimensionalen Anpassung gestorben.
Noch mehr Erinnerungen? Auch diese waren nicht Rons eigene. Grüne Hügel, klare Luft, Siobhán Becketts Erinnerung an Irland. Er sah auch sich selbst und spürte Siobháns damalige Gedanken: Nur ein bisschen verklemmt, das ist zu schaffen.
Mit etwas mehr Zeit, Siobhán ..., wenn wir die Zeit gehabt hätten! Verdammt! Da bauten die Taelons Raumschiffe, die Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrzehntausende hielten, aber ein CVI machte nach drei Jahren derart schlapp, dass es den Träger umbrachte, wenn es nicht schleunigst in zwei riskanten Operationen zunächst zerstört und dann ersetzt wurde.

Die Taelons und ihre Achtung vor den Menschen ...

* * *

Ronald fand sich in liegender Position wieder und öffnete die Augen. Die Realität wirkte so farblos! Zudem war er allein ... und wo war er überhaupt?
Der Raum war schlicht eingerichtet, Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, zwei Türen, davon führte eine, die geöffnete, in ein ebenso schlichtes Badezimmer.
Das Sharing hatte Sandoval wohl kräftig ausgeknockt. Er wollte nicht wissen, welche Energien sein Körper, und vor allem sein Gehirn, hatten aushalten müssen ... jedenfalls klappte er nach dem Versuch, sich aufzurichten, schwindelig und mit einem flauen Gefühl im Magen gleich wieder zusammen. Was er allerdings wissen wollte, war, zu welchem Schluss Liam gekommen war. Noch jedenfalls hatte Ron sein Gedächtnis.
Es gestaltete sich nicht so einfach. Er fixierte die geschlossene Türe und stemmte sich hoch, doch seine Beine trugen ihn nicht und ... nein, natürlich fiel er nicht zurück aufs Bett, natürlich musste er nach vorne fallen, wo er sich mit schmerzenden Händen mühsam abstützte. Ganz toll! Am Bett konnte er sich nun aber zumindest in eine am Boden sitzende Position hochziehen und dann ganz tief durchatmen.

Vermutlich sollte er einfach sitzenbleiben und warten, bis jemand zu ihm kam ...

Aber er zählte nicht zu jenen, die einfach herumsitzen konnten, selbst wenn die Beine es so wollten. Ihm war aber durchaus bewusst, dass er keine Initiative mehr ergriff, seit er wusste, dass Liam sein Sohn war. Doch selbst wenn er handeln wollen würde, sich befreien wollen würde, was sollte er gegen einen gesunden, kräftigen Kimera ausrichten? Selbst Ha'gel, der Jahrmillionen in einer Kapsel dahinvegetiert hatte, war noch überlegen gewesen.
Irritierenderweise verwunderte es Ron nur wenig, dass er Kincaid gegenüber so vertrauensselig war, und am Sharing lag es nicht, denn das war er zuvor schon gewesen. Musste wohl daran liegen, dass er ihm oft genug das Leben verdankte - und inzwischen konnte er auch nachvollziehen, weshalb Liam jede Suche nach Kräften sabotiert hatte.
Maiya aufs Mutterschiff zu bringen war wirklich das letzte gewesen. Ronald Sandoval, du Egoist! Und jetzt steh endlich auf!
Er brauchte eine ganze Weile und die Hilfe seines Implantats, um sich hochzustemmen, und dann noch gut fünf Minuten, um das Schwindelgefühl aus seinem Kopf zu vertreiben, dann endlich stand er halbwegs sicher und konnte zur Türe wanken.
Sie war unverschlossen und führte in den grossen Hauptraum.
Ein Fernseher röhrte höchst dramatische Musik zu sich mit bösen Aliens prügelnden Startrek-Rothemden. Wenn es so einfach wäre! Dann müsste nur Captain Kirk gegen Zo'or kämpfen, sich dabei sein Oberteil zerreissen und schliesslich eine schöne befreite Gefangene küssen, und die Welt wäre gerettet.

„Ah, Sie sind wach”, stellte Liam fest und schaltete auf Standbild. Mehr oder weniger. Ron ging sicherheitshalber der Wand entlang, jederzeit bereit, sich abzustützen. „Ich fürchte, ich habe es etwas übertrieben, Sie waren über zwanzig Stunden weggetreten”, grüsste Kincaid und sah ihn an, „Ich habe Ihre Idee mit den skrilltragenden Widerständlern weitergesponnen und Ihre Gefangennahme fingiert.”
„Na toll ...”, seufzte Sandoval und nahm auf dem zweiten Fernsehsessel neben Liams Platz, „Zo'or wird nicht viel von meiner Kompetenz halten, wenn ich mich schon wieder retten lassen muss ...”
Liam grinste und zupfte Ron zwei Neuroscanner von der Stirn. (Merkwürdig, diese Geräte waren Sandoval gar nicht aufgefallen. Aber es war natürlich sinnvoll.) „Na dann kommen Sie eben alleine frei und sprengen das Gebäude ohne Hilfe in die Luft.” So einfach? War das Kincaids Art, sich überall rauszuwinden? Einfach hier oder da ein Gebäude in die Luft sprengen? Genug Explosionen hatte es wahrlich gegeben.
„Hunger?”, bot Liam eine nach Käse duftende Pizzaschachtel an. Nach über zwanzig Stunden musste Rons Magen wohl recht leer sein, auch wenn er das nicht knurrend kundtat. Pizza war in Ordnung, Sandoval griff zu. „Augur ist stinksauer auf Sie”, sagte Liam schliesslich.
„Verstehe.”
„Aber er baut in der Halle schon den Interdimensionssprengsatz auf”, fügte er hinzu, „Nach der Explosion wundert sich dann auch niemand über fehlende tote Widerstandsmitglieder.” Er blickte kurz zur Computeranlage, „TV aus”, und der Fernseher wurde schwarz. „Ihre Zeitwahl für die Skrillgeschichte ist äusserst passend”, fuhr Kincaid fort, „Sie erinnern sich, etwas Ähnliches ist schon geschehen.”
„Natürlich”, nickte Ron, „aber bei diesem Zwischenfall kam die einzige Skrillkönigin ums Leben.”
„Das stimmt zwar nicht, aber ich will darauf hinaus, dass damals geborene Skrills jetzt natürlicherweise ausgewachsen wären.”
„Stimmt nicht?”, war Sandoval nicht wenig verdutzt, „Der Widerstand hat die Königin?”
„Auch nicht. Sie lebt nach einer Metamorphose nun als ... vogelähnliches Energiewesen im Regenwald, jedenfalls kann sie fliegen.”

Im Regenwald ... im Regenwald? Dort hätte Ronald keine ausserirdische Lebensform vermutet.

Es war gar nicht schwer für Ron, sich als Gast zu fühlen. Zwar verhielt sich Liam eigentlich so gut wie immer freundlich, doch nun schob Sandoval diese Freundlichkeit nicht mehr auf irgendwelche Hintergedanken (eher fand er es merkwürdig, dass er es zuvor getan hatte ...). Die Pizza war auch nicht gerade Weltklasse, aber immerhin über dem Durchschnitt der washingtoner Pizzalieferdienste einzuordnen.
Da es sich kauend nicht so gut unterhielt, schaltete Kincaid zunächst den Fernseher wieder ein, und tatsächlich (was sonst?) wurden die bösen Aliens von James T. Kirk verprügelt und (natürlich!) wurde auch eine schöne Frau gerettet. Irgendwie schade, dass es mit den Taelons nicht so einfach war.

„Und? Sie schon einmal eine schöne Frau gerettet?”, fragte Ron während des Abspanns.
Liam sah zu ihm und schmunzelte: „Definitiv nicht in Kirks Ausmass.”
Klar. Wer konnte das schon von sich behaupten? Sandoval jedenfalls nicht, aber er hatte ja auch keine Enterprise. „Vielleicht sollten sie sich mal im Faustkampf das Shirt zerreissen, dann könnte es klappen”, schlug er vor.
„Ach, bitte, ich bin der Ausserirdische, da passt eher der Nackengriff.”
Stimmte zwar, aber ein Vergleich Realität zu Startrek war nicht das primär von Ronald gewünschte Gesprächsthema. Er versuchte einen möglichst eleganten Themenwechsel: „Und wie oft haben Sie Ihren ... Nackengriff schon angewendet? Das Shaqarava, meine ich.”
„Puh ...” Liam seufzte auf, er blickte zur Computeranlage, „TV aus”, dann sagte er: „Ich kann es nicht zählen, hunderte Male, vielleicht öfter. Und das, obwohl ich verdammt vorsichtig bin, inzwischen jedenfalls.” Ron richtete sich etwas gerader auf. „Zu Anfang war ich zu vertrauensselig, zu sehr von mir überzeugt, und es ist ein Wunder, dass mir das nicht schon auf Boones Beerdigung auf den Kopf gefallen ist.” Liam verdrehte die Augen. „Und im Fluchttunnel der Jaridiansonde gegenüber ... nun, sagen wir, Da'an hat sich zumindest diesbezüglich als vertrauenswürdig erwiesen.”
„Er hat es gesehen?”
„Oh, und nicht nur einmal”, zog Kincaid den Mund schief, „aber es ist ja nicht so, dass er mich nicht doch irgendwann verraten hätte ...”
„Verraten?” Sandoval versuchte erfolglos, sich zu erklären, wie Liam dann noch am Leben sein konnte.
„Nein, nein, nicht mich als Kimera”, schüttelte dieser den Kopf, „aber er nutzte Wissen über den Widerstand, das er von mir hatte, um Zo'or mit einer grossangelegten Aktion zu beeindrucken.” Seine Miene wurde bitter. „Er hatte Erfolg ...”

Es gelang Ron, diese grossangelegte Aktion zeitlich einzuordnen (schliesslich war er am Verhör der überlebenden Erfolge beteiligt gewesen), und sie war etwa zeitgleich zu seiner Krankheit gewesen. Falls Kincaid Da'an sichtbar zürnte, hatte Ronald es jedenfalls nicht bemerkt, zu sehr war er auf die Suche konzentriert gewesen. Aber es war ein Wunder, dass keiner der Gefangenen Liam als Widerstandsmitglied genannt hatte. Sandoval stellte diese Frage.
„Joyce Belman”, zuckte Liam mit den Schultern.
Dr. Julianne Belmans Tochter? Sandoval erinnerte sich gut an die durch ein Evolutionsserum übermächtig (und recht grössenwahnsinnig) gewordene junge Frau, die das Mutterschiff mit der Erde kollidieren hatte lassen wollen. „Was ist mit ihr?”, fragte er.
„Sie erschien mir im Traum, sagte, sie könne mich nicht den Taelons in die Hände fallen lassen und habe die Erinnerungen der Gefangenen an mich gelöscht.”
Ah, Kincaid hatte also einen Schutzengel. Bemerkenswert nur, dass dieser Schutzengel zuvor die Zerstörung der Menschheit und des Taelon-Gemeinwesens beabsichtigt hatte. „Sie ist ihren Grössenwahn also losgeworden”, stellte Ron durchaus erleichtert fest.
„Ähm ...” Liam kratzte sich verlegen am Kopf. „Ja, ist sie.”
„Sie verdankt ihren Verstand Ihnen”, verstand Sandoval, „Wie haben Sie es gemacht? Überzeugung nach Methode Kirk?” Er erinnerte sich an mehrere Startrek-Folgen, in denen Kirk sogar Computer zur Aufgabe oder Selbstabschaltung diskutiert hatte.
„Tja ... sozusagen.” Liams Kopfkratzen verstärkte sich. „Die Vereinigung bot die Gelegenheit, ihr mit meinem kompletten Alienverstand ins Gewissen zu reden.” Vereinigung? Da hatte er Rons Frage aber etwas missverstanden - obwohl man wohl auch das als Methode Kirk bezeichnen konnte. „Aber kein Wort darüber zu gar niemandem!”, wurde Liams Stimme fest und ernst, „Das hat sie auch Da'an vergessen lassen und sonst weiss es sowieso keiner.”
„Ehrenwort”, hob Sandoval seine rechte Hand, „sofern meines überhaupt etwas zählt.”
„Hmm.”

Das klang nicht gut. Zwar hatte Kincaid für Ron eine Ausrede und einen explodierenden Widerstandsstützpunkt parat, doch ob er nicht doch auch noch Amnesie bereithielt?

Zwar akzeptierte Liam das Ehrenwort nach einigen verdammt langen Sekunden, aber Sandovals Sorge um sein Gedächtnis blieb. Wie gut kannte Ron sich selbst? Konnte er überhaupt ausschliessen, nicht irgendwann ebenso wie Da'an dem Widerstand einige Beine zu brechen?
Während Kincaid die Pizzaschachtel entsorgte und Kaffee kochte (jedenfalls klang der Lärm nach dem Mahlwerk eines Espressovollautomaten) starrte Sandoval den ausgeschalteten Fernseher an. Jetzt, in diesem Augenblick, stand Ron zwar voll hinter dem Widerstand, aber wie sollte er sicher sein, dass es so bleiben würde? Seine altruistische Ader war recht gering ausgeprägt ... ja, das konnte er wirklich genau so sagen.

Wo war denn hier die nächste Toilette? Zwanzig Stunden waren auch für die Blase recht lange. Er stand auf (das gelang relativ problemlos) und begab sich an die Wand gestützt zurück in den Raum, in dem er erwacht war und in dem er auch ein Badezimmer vorgefunden hatte (und das natürlich immer noch dort war). Zwar war er eigentlich überzeugter Stehpinkler ... doch im Falle eines drohenden Um-Falls, so wie gerade jetzt, wechselte er lieber vorsorglich das Lager.
Im Nachhinein bereute er es. Er konnte nicht mehr aufstehen. Verdammt! Nein, er wollte sich nicht vorstellen, wie er mit Puddingknien und heruntergelassenen Hosen auf der Kloschüssel sitzend von Kincaid gefunden wurde. Nein! Verdammte fleissig visualisierende Fantasie! Sandoval spürte, wie sein Kopf alleine von der Vorstellung tomatenrot anlief.
Gut, eigentlich konnte er froh sein. Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt und das brachte ihm mehr Sauerstoff in den Beinmuskeln. Mit zusammengebissenen Zähnen und einiger Unterstützung seines Implantats schaffte er es, sich hochzustemmen, dann richtete er seine Kleidung ein, betätigte die Spülung und wusch sich die Hände.
Vorsichtig, langsam und der Wand entlang machte er sich dann wieder auf den Weg durch den Hauptraum - aber er blieb stehen, als er Liam und Augur vor der Computeranlage stehen und diskutieren sah.
Drei Bildschirme zeigten Aufnahmen eines implantierten Gehirns - desselben implantierten Gehirns, wie Ron begriff, nämlich seines eigenen. Allerdings unterschieden sich die Bilder durchaus.

„Hier”, murmelte Augur und wies mit tief gerunzelter Stirn auf einen rot markierten Bereich, „Dr. Belman sagt, dass hier der Motivationsimperativ sitzt.”
„Ausgefallen”, nickte Liam.
„Ja hier schon.” Augur vergrösserte alle drei Aufnahmen auf denselben Ausschnitt. „Aber hier nur ein Teil”, wies er auf das zweite Bild, dann auf das dritte, „und hier ist alles intakt.” Interessant. Der Motivationsimperativ konnte also auch nur teilweise ausfallen.
Kincaid beugte sich nach vorne und drückte sich seine Nase fast an einem Bildschirm platt. „Hat sie eine Erklärung dafür?”
Augur grinste bis zu den Ohren. „Wir, Liam. Dr. Belman und ich sind übereingekommen, dass zunächst der primäre Loyalitätsblock ausfiel.” Er wies auf die beiden Aufnahmen ohne rote Markierung. „Die unbedingte Taelontreue fiel damit weg.”
„Wann?”
„Wann zwischen seiner Reimplantation und seinem Krankenhausbesuch hat sein Gehirn genug Energie abbekommen?”, stemmte Augur stolz die Fäuste in die Hüften und streckte die Brust heraus.
„Atavus?”, fragte Liam und erntete Kopfschütteln, „Joyce?”
„Ach, Liam, du enttäuschst mich”, warf Augur beide Hände in die Luft, „Es war natürlich Ha'gel!” Kincaid schlug sich kräftig mit der Hand vor die Stirn und schien stumm über seine Begriffsstutzigkeit zu fluchen. „Aaalso”, wandte sich Augur wieder der Computeranlage zu, „ab da hatte Sandoval zwar noch einen Motivationsimperativ, allerdings alleine motiviert durch das, was der sekundäre Loyalitätsblock vorgab.”
„Das wäre?”
Augur warf wieder die Hände in die Luft und erklärte: „Er selbst und seine Familie.”
„Ah.” Pause. „Dafür braucht es einen Loyalitätsblock?”
„Zur Verfeinerung”, nickte Augur, „ohne ihn wären Konsequenzen bei der Verletzung der taelonischen Hierarchie oder der menschlichen Gesetze für einen Implantanten unbedeutend.” Knappes Nicken von Liams Seite, dann fuhr der Schwarze fort: „Und wann zwischen seinem Krankenhausbesuch und dem Scan gestern hat sein Hirn genug abbekommen, um den sekundären Loyalitätsblock und den primären und den sekundären Motivationsblock zu grillen? Hmm?”
„Sharing”, begriff Liam - und Sandoval begriff auch: Erst seit zwanzig Stunden war er wieder wirklich er selbst. Ob dieser Erleuchtung versagten ihm dann auch glatt seine Beine den Dienst.
„Na so was! Lauschen wir etwa?” Augur warf die Hände in die Luft und rollte mit den Augen, während Liam seinem Vater vom Boden aufhalf. Sandoval musste natürlich zugeben, dass er gelauscht hatte. „Und ich dachte, ohne die Fuchtel von Implantat wären Sie anständiger ...”
„Augur ...”, seufzte Liam, doch der Kriminelle (wahrscheinlich gar nicht gar so kriminell) wedelte unwillig mit den Händen, verzog das Gesicht und dann sich selbst mit einer Tasse Kaffee auf einen Fernsehsessel. Kincaid versuchte es noch einmal: „Augur ...!”
„Die Mail von Dr. Belman ist offen, lies sie!”, grummelte der Schwarze.
Liam trat an einen Bildschirm heran und liess das Mailprogramm anzeigen, von da an zog sich sein Gesicht immer mehr in die Länge. „Ich kann nicht besonders gut ärztisch”, sagte er schliesslich, „ich brauche einen Übersetzer.”
„Gut gut gut, du hast gewonnen”, kam Augur wieder herbei. Die Mail schloss er, stattdessen zierten nun zwei Gehirnbilder die Bildschirme, allerdings keines von Sandoval.
Liam wies auf eines. „Das ist von ... Boone?”
„Ja, und das andere von Beckett”, nickte Augur, „Bei Boone sieht alles intakt aus, obwohl die Motivationsblöcke und Loyalitätsblöcke alle sowohl inaktiv als auch mit schönen Dummys ungefährlich umprogrammiert sind.” Er grinste stolz, offenbar waren die Dummyprogramme von ihm. „Bei Beckett ist alles sichtlich kaputt”, fuhr er fort, „und das CVI merkt das selber und repariert sich, so gut es kann.”
„Augur, komm zum Punkt”, bat Kincaid mit verdrehten Augen.
„Schon gut”, seufzte Augur, „die Korrekturmechanismen wurden aktiviert und das CVI repariert sich, es bleibt nicht mehr lange so motivationslos wie jetzt, zwei oder drei Tage nur! Und in vier Monaten oder so streckt es von der Strapaze dann ganz die Patschen”, kurzer Blick zu Ron, dann zurück zu Liam, „genau wie damals bei Beckett!”
Nicht gut, das war Sandoval sofort klar. Er hatte noch etwa vier Monate zu leben.
„Was können wir da machen?”, fragte Kincaid.
„Was können wir machen?” Augur warf wieder die Hände in die Luft (augenscheinlich seine Lieblingsgeste) und stapfte quer durch den Raum zurück zum Fernsehsessel. „Himmel, Liam, hast du zufällig ein Anti-CVI und ein frisches CVI ohne Motivationsimperativ in der Westentasche?”, fragte er, „Wenn nicht, dann bleibt es bei der damals praktizierten Lösung: Gedächtnislöschung.”

Nicht gut! Ron wollte sein Gedächtnis durchaus behalten.

„Und ihm einfach beim Sterben zusehen?”, entrüstete sich Liam.
„Bis dahin sind es ja noch vier Monate”, zuckte Augur nur mit den Schultern, „gewöhn dich halt schon mal dran.” Ach? Und Sandoval selbst sollte unwissend sein bis zum letzten Tag, bis zum letzten Augenblick seines Lebens? „Wenn du eine andere Lösung hast”, fügte Augur noch hinzu, „bitte, her damit. Ich hab keine.”
„Aber ...”, rief Kincaid ihm nach, seufzte dann allerdings resignierend auf.
„Lassen Sie mein Gedächtnis nicht löschen!”, ergriff Ronald das Wort. Liam runzelte die Stirn. „Sollte es keinen anderen Weg geben, töten Sie mich!”
Nein!”, protestierte der Kimera.
„Ein Leben mit Motivationsimperativ ist doch kein Leben”, erklärte Ron energisch, „ich würde doch sogar wieder für die Taelons arbeiten!” Liam sah ihn besorgt an. „Ach, tun Sie nicht so, Kincaid!”, knurrte Sandoval, „Sie wissen genau wie ich, dass ich mit funktionierendem Motivationsimperativ dem Widerstand verdammt viel Ärger machen würde. Soweit dürfen Sie es nicht kommen lassen - töten Sie mich also zuvor!”
„Oder das”, liess sich Augur hören, „stimmt, ist auch eine Möglichkeit.”
„Augur!”, rollte Kincaid mit den Augen, der Schwarze reagierte aber nicht. Also wandte Liam sich schliesslich Sandoval zu und schlug vor: „Wir haben zwei oder drei Tage, suchen wir also eine bessere Lösung!”
Stille. Ihm fiel keine ein, Ron fiel keine ein. - Oder doch?

„Zerstören Sie den Motivationsimperativ wieder, wann immer er regeneriert”, sagte Ronald nach einer ganzen Weile, „Selbst wenn es mein Leben verkürzt, das ist es wert!”
Kincaid sah ihn kritisch an. „Das ist mir nicht recht”, bemerkte er, „Ich möchte nicht an Ihrem Tod schuld sein.” Er runzelte die Stirn und sah sich um, auch Ron hörte das Piepsen des Globals. „Wo ist es nur? ... Ah, da!” Liam griff nach seiner Lederjacke, die über einem Geländer hing, und zog das Global heraus. „Ja?”

„Wir ham 'n Problem”, erklang eine schnarrige Frauenstimme.
„Ja, reden Sie schon, Colly!”, bat Kincaid, „Welches Problem haben wir?”
„So 'n FBI-Schnüffler is uns in die Party geplatzt. Wir ham ihn, aber so 'n Typ hat doch 'n Partner - oda?” Liam bedeutete ihr, weiterzusprechen. „Also, wir ham die Halle schön explosiv gemacht und dann kam der rein und ... ja also, dann warn wir alle froh, dass Augur 'n Verteidigungssystem einbaut hat.”
„Colly! Kommen Sie auch mal zur Sache?”
„Äh ... ja. Der Kerl heisst Francis Frederik Tate Junior, ist der wer?”

Tate? Der war tatsächlich in der Lage, allein eine Widerstandsgruppe aufzuspüren? Aber Sandoval war ja jetzt schon fast an Überraschungen gewöhnt.

„Colly, bringen Sie ihn her!”, bestimmte Kincaid.
Her? Sie meinen ... echt in die ... Zentrale?”, fragte sie sicherheitshalber nach.
„Ganz genau, in die Zentrale.” Liam sah zu Ron und grinste breit. Zentrale? Das war das Widerstandshauptquartier?
„Machen wir, Boss.”
Boss? Besagter Boss schob sein Global zu und steckte es in die Jackentasche zurück. Es gab hier wirklich eine Überraschung nach der anderen. Lange dauerte es nicht, bis sich ein Portal aus seinem Versteck entfaltete und sofort aktivierte. Nicht Tate kam an, sondern am Boden liegend nur sein Trenchcoat, seine Waffe, sein Global und ein Schnappmesser. Tate hatte ein Schnappmesser?
Liam schob die Dinge mit einem Fuss gut drei Meter weg, dann gab es eine weitere kurze Wartezeit, bis schliesslich auch Frank Tate selbst ankam.

Sie?”, machte Frank grosse Augen, die noch grösser wurden, als er Sandoval sah. „Wieso soll die Halle gesprengt werden?”, fragte er nach einigen Momenten, als er sich wieder gefasst hatte.
„Widerstandstarnung”, erklärte Liam, „und Sie müssen auch leider hierbleiben.”
Was?”, sprang Augur von seinem Fernsehsessel auf, „He, das ist nicht mehr die Zentrale, das ist jetzt meine Wohnung! Doors hat sie mir verkauft!”
„Bitte!”, sah Kincaid ihn mit einem perfekten Dackelblick an.
„Nein! Du hast doch sonst genug Orte, wo du ihn unterbringen kannst.” Der Dackelblick blieb - nein, Dackelblick war nicht das richtige Wort, Ron fühlte sich eher an den gestiefelten Kater aus dem Film Shrek erinnert, also Katerblick. Und Augurs Abwehr schmolz dahin: „Na gut, aber nur diesmal!” Er rollte mit den Augen und stapfte zur Computeranlage zurück. „He, Liam, hier ist noch eine Mail von Dr. Belman!”, rief er dann.
„Was schreibt sie?”
„Ein Anti-CVI hat sie”, erklärte Augur, „aber für ein neues CVI ohne Motivationsimperativ braucht sie fünf oder sechs Wochen.”
„Das sind weniger als vier Monate”, stellte Ronald fest.
Liam sah ihn an und nickte langsam. „Aber zu lange für eine Gefangenschaft, Sie müssen also zurück.” Er deutete ein Schmunzeln an. „Mir wird schon etwas einfallen, Sie dann in fünf oder sechs Wochen zu kidnappen.”
„Oh, da bin ich sicher!”
Kincaid zog seine Stirn in tiefe Runzeln. „Bis dahin müssen Sie aber vergessen”, fügte er hinzu, „und Ihre jetzige Gefangenschaft sollte trotz Gedächtnisverlust wasserdicht sein.”
„Sie haben einen Plan?”
„Ja”, nickte Liam, „aber keinen sehr angenehmen.”

* * *

Tatsächlich war der Plan alles andere als angenehm, doch Ron nahm ihn auf sich. Ein schmales, zweifach gebogenes Metallstück mit Widerhaken verband den Kopf seines Skrills mit seinem Handgelenk und würde, so Augur, bei dem Versuch eines Skrillschusses die Energie über das menschliche Nervensystem entladen. Sandoval probierte das lieber gar nicht erst aus, aber wenigstens war das Anbringen dieses Dinges kaum schmerzhaft gewesen.
Anders sah es bei den wuchtigen Metallringen aus, die er nun um beide Oberarme trug und von denen mehrere Elektroden in seine Muskeln stachen. Auf die Art würde eine Gefangenschaft mit Sicherheit sehr wasserdicht. Liam tat es aber jedenfalls sehr leid, und ihm zuliebe spielte Ron den Schmerz herunter. Das war nichts, das tat fast gar nicht weh, selbst eine Impfung war schlimmer. - Nur leider war es eine Lüge.
Tate durfte sich alles andere als frei bewegen, wunderte sich aber sichtlich sehr darüber, dass der derart folterbereite Sandoval es hingegen durfte. Aber er war leicht zufriedenzustellen und vom Fernseher kaum mehr wegzubekommen, er sah sich Realitysoaps an.
Ron hatte Hunger, einen wahren Bärenhunger, doch es war seine Entscheidung, der späteren Foltervermutung mit Nahrungsentzug ein weiteres Detail hinzuzufügen, auch wenn es verdammt schwer war, Frank dabei zuzusehen, sich mit drei Tellern Spaghetti vollzustopfen - und noch eine Handvoll Schokoriegel hinterher. Der Kerl musste einen Magen haben ...
Dazu kam zwangsläufig Schlafentzug, denn mit knurrendem Magen war für Sandoval die Nacht die Hölle. Er vertrieb sich glatte fünf Nachtstunden masochistischerweise in der Küche und las Kochbücher, bis Augur ihm bei seinem frühmorgentlichen Ausflug zur Kaffeemaschine mitleidig einen dicken Wälzer über heuristische Optimierungsverfahren in die Hand drückte. Mit diesem hochkomplexen Thema verbrachte Ronald dann den Tag, und es lenkte ihn tatsächlich erfolgreich vom Hunger ab.
Kincaid suchte nach Sandoval, ebenso wohl eine halbe Armee an Freiwilligen, wie er schliesslich nach einem sehr langen Arbeitstag erzählte. Auch Ron erzählte so einiges, er beichtete, was er alles getan hatte, vom Plan, Da'an von der Jaridiansonde töten zu lassen, bis zur Tatsache, dass er Lili Marquette nach Jaridia geschickt hatte. Frank fiel ob dieser Erklärung (nicht ob der Tatsache, denn gewusst hatte er es ja) glatt das Stück Schnitzel wieder aus dem Mund, Liam nickte nur - auch wenn er nicht alles gewusst hatte und insbesondere nicht, dass Lili noch am Leben war.
Sandovals Kontakte zu den Jaridians würden natürlich dann auch aus seinem Gedächtnis gelöscht werden müssen. Aber noch war es nicht soweit. Damit die Taelons seine Gefangenschaft glaubten, musste sein CVI noch vor seiner Flucht wieder voll funktionsfähig sein.
Vielleicht morgen schon, vielleicht erst übermorgen ... Ron fürchtete sich davor, wie er dann denken würde und entschuldigte sich vorsorglich für alles, was er dann wohl Liam an den Kopf werfen würde.

* * *

Ronald Sandoval schlug seine Augen auf und orientierte sich. Er befand sich in einem Bett in einem Gästezimmer in Augurs Wohnung, dem ehemaligen Widerstandshauptquartier. Seine Oberarme schmerzten deutlich, ebenso das rechte Handgelenk, entsprechend vorsichtig setzte er sich auf.
Auf einem Stuhl lag ein unordentlicher Haufen Stoff, bestehend aus einer Jeanshose, einem roten T-Shirt und der nötigen Unterwäsche. Ja, er war am Abend des Vortages wirklich so unordentlich gewesen, obwohl er es kaum glauben konnte. Die Uhr am Tisch zeigte fünf Uhr zweiundzwanzig, geweckt hatte ihn sein knurrender Magen.
Er zog sich an und verliess das Gästezimmer. Leider war seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden. Er kam zwar in den Hauptraum, aber nicht mehr in die anderen Räume, und sowohl die Computeranlage und die Küche als auch das Portal waren durch virtuelles Glas geschützt.
Schade.
Testweise lud er ganz leicht seinen Skrill und stellte sofort schmerzhaft fest, dass Augur recht hatte: Ron war entwaffnet.

Es lag noch das Buch über heuristische Optimierungsverfahren auf dem Tisch und Sandoval schlug es dort auf, wo er aufgehört hatte. Das war das Einzige, was er jetzt gerade tun konnte, für fast zwei Stunden. Schliesslich schlurfte Augur durch den Hauptraum, nuschelte einen Morgengruss und verschwand in der Küche, wo das Kaffeemahlwerk zu lärmen begann. Ron stand auf und versuchte, ihm zu folgen, doch virtuelles Glas hielt ihn auf.
Spezifische Personenerkennung, nicht schlecht.
„Wieder kaum geschlafen?”, fragte Augur kaffeeschlürfend, als er aus der Küche zurückkam.
„Ja”, sagte Ron.
„Hmm.” Augur begab sich an die Computeranlage und schaltete die unzähligen Bildschirme ein. Immer noch war virtuelles Glas zwischen ihm und Sandoval. „Sie sind ja durch das Buch schon fast durch”, bemerkte er dann.
„Es ist interessant, und anderes habe ich nicht zu tun.”
„Tja, lesen Sie weiter, ich habe zu tun”, murmelte Augur hoch konzentriert und versank in interdimensionsphysikalische Berechnungen. Sandoval liess ihn der kompliziertesten Mathematik, die er jemals gesehen hatte, und kehrte an sein Buch zurück, wenig später kam Liam die Treppe herunter. „Guten Morgen, Liam”, blickte Augur nicht auf.
„Morgen”, grüsste Kincaid fröhlich, „gibt es etwas Neues?”
„Wie denn? Über Nacht?”
Kincaid zuckte mit den Schultern und holte sich aus der Küche ein Glas Orangensaft. „Machen wir den Scan?”, fragte er dann Ronald.
„Natürlich”, sagte dieser und lächelte - so freundlich, aber er würde dem Kimera und Anführer des Widerstandes den Hals umdrehen. Es musste nur schnell genug gehen.

Kincaid betrat einen weniger freundlichen Bereich des ehemaligen Widerstandshauptquartier, mit einigen Schaltern aktivierte einen Interdimensionaltomographen, sein Glas stellte er oben auf dem Gerät ab.
Sandoval sollte sich nun hinlegen, doch sobald er es tat, würde Kincaid das intakte CVI sehen und alles war vorbei. Er hatte keine Zeit mehr!
Vorsichtig setzte er sich auf die Liege - und schielte nach dem Orangensaft. „Verdammt, mein Magen bringt mich um”, seufzte er und lenkte damit tatsächlich den Kimera etwas ab. Schnell griff er dann an, eine Hand links an Kincaids Kopf, die andere rechts - kein Knacken, stattdessen prallte Ron mit dem Rücken hart gegen den Tomographen. Verdammt, dieser Kimera war zu schnell!

„Den Scan können wir uns also sparen”, stellte Kincaid trocken fest.
Sandoval schob seine Schmerzen beiseite und richtete sich auf. „Ja! Das können wir, Verräter!”, knurrte er, „Kimera, die Taelons werden Sie vernichten!”
Seelenruhig hob Kincaid eine leuchtende Hand und richtete sie auf Ron, mit der anderen griff er nach dem Orangensaft. „Ja, klar”, zuckte er mit den Schultern, „Gehen Sie voraus, zurück in Ihr Zimmer.”
Ronald gehorchte und ging voran durch die Türe in den Hauptraum. Er hatte Glück, Tate verspeiste gerade ein äusserst reichhaltiges Frühstück und sah in seine Richtung und solange er das tat, würde Kincaid sein Shaqarava nicht einsetzen. Sandoval schnellte herum und zielte mit der Faust auf das Gesicht seines Kontrahenten, der zurücktaumelte und gegen die Türe prallte, das Glas zersprang auf dem Boden und Orangensaft spritzte in alle Richtungen.
Die Antwort kam sofort und heftig und dabei blieb es nicht. Ron teilte aus, aber er steckte auch ordentlich ein. Seine Oberarme schmerzten nicht zu knapp von den Metallringen und Kincaid war definitiv ein guter Kämpfer, der nicht an Hieben und Tritten sparte. Gerade als Ronald dann aber die Oberhand gewann, zuckte Feuer durch seine Nerven. Schmerzen, nur Schmerzen, bis sie irgendwann langsam wieder zu verblassen begannen.
„Augur!”, schrie Kincaid, „Das hätte doch nicht sein müssen!”
„Du hättest verloren”, stellte Augur fest.
„Quatsch, ich wollte ihm nur nicht alle Knochen brechen”, widersprach der Kimera.
„Wie auch immer, jetzt sind jedenfalls Elektroschocks nachweisbar, das ist auch etwas. Und jetzt lösch schon sein Gedächtnis, bevor er sich wieder mit dir schlägt.”

Nein, nein! Ronald wollte nicht vergessen, er wollte Kincaid an die Taelons verraten. Er wollte Zo'or sagen, wer den Widerstand anführte, doch er war machtlos. Er sah aus dem Augenwinkel Tate, dem ein angebissenes Schokoladehörnchen aus der Hand fiel, und direkt vor seiner Stirn Shaqarava.

Und dann nur Leere, Stille, nichts sonst.

 

Ende von Kapitel 2

 

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