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  „Blut” von Veria   (Emailadresse siehe Autorenseite),   April 2011
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Harmony Kincaid feiert ihren Schulabschlussball.
Zeitpunkt:  fünf Jahre später
Charaktere:  Harmony, Louise, Corinna, Liam, Ariel, Cliffard, Aby, (Maryssa, Vorjak, Lili, Alan, Zo'or, Randall Boyce, Cole Singer)
 

 

BLUT

Kapitel 10: Zusammenkunft I

 

Es schüttete wie aus Kübeln und der Wind brachte die Regentropfen dazu, sich waagerecht fortzubewegen. Harmony stemmte ihren Regenschirm gegen den Wind und kämpfte sich die Strasse entlang, während jedes einzelne Auto sämtliche Pfützen direkt neben ihr mitnahm.
Ganz toll!
Aber es ging Corinna und Louise auch nicht besser, und die beiden konnten nicht einmal Energiebahnen anheizen, um das klamme Gefühl aus den Fingern zu vertreiben. Wenigstens waren die Einkaufstaschen dicht, dass die wunderschönen Ballkleider nicht schon vor der ersten Verwendung von Pfützenwasser getränkt wurden.
Warum nur war Harmony erst auf den letzten Drücker einkaufen gegangen? Sie hätte auf Ariel hören sollen - an Ariels Einkaufstag war ja auch allerbestes Wetter gewesen.
Ein Portal im Wohnzimmer, das wäre doch etwas!
Nur war die Anzahl der Portalkennungen für dieses Sonnensystem ausgereizt - und der Ausbau in Asien, Afrika und Südamerika hatte die Kennungen für Nordamerika reduziert. Gleichverteilung, schön und gut, aber gerade jetzt wäre Harmony ein Portal im Wohnzimmer wirklich recht.
Gab es aber nicht. Wenigstens war es nicht mehr zu weit. Die drei Mädchen betraten schliesslich triefend, sich schüttelnd und, ja, auch fluchend das Haus von General Liam Kincaid. Harmony fiel ihrem bisher trockenen Vater um den Hals, worauf er sich genauso schüttelte und in die Flüche mit einstimmte.

Die neueste seiner drei Gestalten gefiel Harmony am wenigsten, aber er hatte sie auch nur in der Öffentlichkeit - und es musste sein: Ausgeprägte Geheimratsecken, beginnende Glatze am Hinterkopf, schon ein paar graue Haare und dazu natürlich der entsprechende Knitterlook im Gesicht. In der Widerstandsstadt leuchtete er dann immer kurz auf und war jung wie eh und je - oder vielmehr noch jünger.
Harmony hatte noch Zeit, aber in zehn, zwanzig Jahren würde sie dann auch damit beginnen müssen, zu altern. Aber noch war sie ja nicht einmal ganz ausgewachsen, gerade seit einem halben Jahr achtzehn.
Sie verzog sich mit Corinna und Louise erst ins Badezimmer (nur ein verdammter Föhn!) und dann in ihr Zimmer und bereitete die Vorführung der Beutestücke vor.

Corinna hatte es mit ihren kurzgelockten, kastanienbraunen Haaren am einfachsten. Sie zog ihr weinrotes Spaghettiträgerkleid an, legte Lippenstift und Wimperntusche auf und war fertig. Im Gegensatz dazu kämpfte Louise fast eine halbe Stunde mit ihrem blonden Schopf, der sich bevorzugt als Besen präsentieren wollte. Aber sie hatte sich eben entschlossen, statt einer vergleichsweise einfachen Hochsteckfrisur enge Locken haben zu wollen - nur wurde das ohne Friseur nichts!
Harmony beliess es für die Vorführung bei einem schnellen Haarknoten mit chinesischen Stäbchen. Ihr Kleid war ärmellos und hatte fast durchsichtige Träger aus feinem, weissen Netzstoff und eine deutliche Naht von oben bis unten rechts vorne. Bis zur Mitte der Oberschenkel war es eng, darunter war eine Art weiter Rock angenäht - und das alles in jenem blassgrün, das perfekt zu ihren Hauptenergiebahnen passen würde, würde sie diese zeigen. Dazu gab es weisse Riemchen-High-Heels - richtige Plateauschuhe waren nicht ihr Ding und wären dann auch zu sehr an Kimera angelehnt gewesen.
Endlich gab Louise auf, liess sich von Harmony einen Knoten hochstecken und zog ihr rückenfreies, bodenlanges und weit ausgeschnittenes, schwarzes Kleid an. Harmony war ja der Meinung, dass dieses Kleidungsstück nur durch viel Wunschdenken an seinem Platz blieb, die Träger sahen nämlich so aus, als könnten sie nicht einmal ein Taschentuch halten.
Es folgten noch matter Lippenstift und heller Lidschatten für Harmony und für Louise grellroter Lippenstift und dunkler Lidschatten, und davon reichlich - oder vielmehr zu viel, aber vielleicht konnte der Friseur sie für die endgültige Wahl noch überzeugen, etwas dezenter zu schminken.

Liam zeigte sich begeistert, er zweifelte nur daran, dass Harmony mit diesen Schuhen tanzen konnte - worauf sie ihn natürlich sofort zu einem Test aufforderte. Corinna und vor allem Louise kicherten leise, während Vater und Tochter durchs Wohnzimmer wirbelten, ohne dass Harmony von ihren Schuhen herunterfiel.
Nein, Harmony würde ihren Vater nicht durch Tanzverweigerung vergraulen. Es war auch nicht nötig, denn im Gegensatz zu ihrem Grossvater (nicht Ron, auch nicht Ha'gel, sondern Mums Vater) konnte er ja ganz passabel tanzen - seine Braut war damals hartnäckig gewesen: Der Alibitanz hatte nicht genügt.
Die ganz menschlichen Mädchen kamen einem eigenen Tanzversuch auch nicht aus. Ganz wie Harmony spielte auch Liam ganz gerne mit seiner Berühmtheit, er führte erst Louise, dann Corinna in Kurven und Kreisen über das Wohnzimmerparkett. Louise (Tanzclubmitglied!) machte es bestens, Corinna hingegen stolperte fast über ihre eigenen Füsse. Knallhart beschloss Liam, ihr beim Üben zu helfen, dass Harmony sich das Lachen verkneifen musste.

Zunächst aber klingelte es an der Türe und die junge Hybridin eilte und riss selbige auf, dann stand sie Ariel gegenüber. „Hi”, grüsste die Halbjaridian, „das sieht toll aus!” Sie wies auf ein wasserdicht eingepacktes Bündel unter ihrem Arm. „Ich hab meines auch mit, leihst du mir dein Zimmer?”
„Klar”, nickte Harmony. Immerhin konnte sich Ariel das Theater um die Frisur sparen, da sie selbige klugerweise unter einer Regenmütze untergebracht hatte.
„Eins zwei drei eins zwei drei”, zählte Liam im Wohnzimmer.
Louise kam kopfschüttelnd in den Vorraum und lächelte erfreut, als sie Ariel sah. „Wir kriegen dein Kleid also auch noch zu sehen?”, fragte sie, „Hast du dich schon entschieden, ob du getarnt oder ungetarnt gehst?”
„Ganz, halb, gar nicht getarnt ...”, seufzte Ariel, „Augur hat mir eine Einstellung zusammengestrickt, die das meiste verbirgt, aber trotzdem ein bisschen Jaridian sichtbar lässt. Ich weiss noch nicht, was ich mache.” Sie hängte ihre Jacke an einen Haken, zog ihre Schuhe aus und huschte die Treppe hoch.
„Boah, ich bin so gespannt ...”, hibbelte Louise, „ob vielleicht der Kimera auch dort sein wird? Wegen Ariel vielleicht? Nein, wird er nicht, oder?”
„Ich bezweifle es”, sagte Harmony, „naja, vielleicht nächstes Jahr, wenn Jason Martínez seinen Abschlussball hat.”
„Ja, stimmt, das könnte sein.” Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück und beobachteten Liam und Corinna bei einem Walzer in Einzelschritten. „General, so wird das nichts”, mischte sich Louise nach einigen Momenten ein, „tanzen können Sie ja, aber beim Beibringen hapert es.”
„Nur zu.” Liam liess seine Tanzpartnerin los.
„Also”, sagte Louise und stellte sich Corinna gegenüber auf, „Augen zu. Und denk dran, immer ein Schritt links und ein Schritt rechts. Ganz normal, wie beim Laufen. Zweimal hintereinander mit dem gleichen Fuss gibt es nicht.”
„Okay”, murmelte Corinna und schloss die Augen.
Louise legte die linke Hand ihrer Tanzschülerin auf ihren Oberarm, griff nach dem Schulterblatt und der rechten Hand. „Du fängst links an, und zwar rückwärts.”
Okay ...”
Louise startete mit dem rechten Fuss vorwärts und Corinna hatte gar keine Wahl als der Bewegung zu folgen. Ja, so machte man das! Harmony grinste und sah ihren armen Vater an, der sich nachdenklich am Kopf kratzte.

Die Ablenkung kam prompt, und zwar in Form einer rothaarigen Schönheit. Ariels Frisur bestand aus lauter hochgesteckten Löckchen mit weissen Blümchen auf den Haarnadeln - im Nacken leicht feucht, dort hatte die Regenmütze offensichtlich nicht ganz dicht abgeschlossen. Das Kleid war hellblau mit einem Hauch violett, schmal, glatt und links bis zur Hüfte geschlitzt - es wirkte so leicht. Dazu gab es weisse Ballerinas.
Noch sah Ariel menschlich aus, aber jetzt stellte sie ihre Tarnvorrichtung um, worauf die dunkleren Muster auf Gesicht und Körper erschienen. Gerade durch den Beinschlitz war es sehr prominent zu sehen und auch an der Oberseite der Arme war es mehr als deutlich - und natürlich auf der Stirn. „Was meint ihr?”
„Nein”, schüttelte Liam den Kopf, „damit erschreckst du bestimmt nur alle.” Louise und Corinna stimmten ihm zu, nur Harmony fand, dass es ohnehin dezent war - verglichen mit Vorjaks Farbgebung auf jeden Fall.
„Dann probieren wir Augurs”, nickte Ariel und stellte wieder um. Die Farbe der Muster wurde heller, mehr rötlich statt braun, zudem verschwanden jene an Armen und Beinen fast völlig, nur an Knien, Ellenbogen und den Oberseiten der Hände und Füsse war noch etwas zu sehen. „Und?”
„Sieht gut aus”, nickte Corinna.
„Das schon”, stimmte Louise zu, „aber ich glaube, damit hast du immer noch mehr Aufmerksamkeit als du willst.”
„Okay, dann also doch ganz getarnt.” Und damit war Ariel fürs Auge wieder ein Mensch. „Aber sag mal, Louise, willst du wirklich solche Ägypteraugen haben?”
„Hmm was?”
„So dunkel rundherum, meine ich”, erklärte Ariel.
„Ma sagt, das sieht gut aus.”
„Tut's nicht, nimm's mir nicht übel.” Louise war sichtlich nicht gerade überglücklich darüber, aber als Harmony, Corinna und auch Liam nickten, seufzte sie und lief die Treppe hoch, um kaum später ohne den dunklen Lidschatten zurückzukommen. „Ja, viel besser”, nickte Ariel.
„Stimmt”, bestätigte Harmony.
Liam führte dann sein Werk als Tanztester fort - Ariel erklärte ihm auch gleich, dass sie immerhin einen guten Lehrer hatte. „Und wen?”, fragte er.
Sie grinste: „Cousin Jay natürlich.” Ah? Liams nächstjüngerer Bruder war ein guter Tänzer? Harmony beschloss, das irgendwann zu überprüfen. Vielleicht in einem Jahr bei dessen Abschlussball.

* * *

Übernachtungen im Hause Kincaid betreffend gab es keinerlei Elternbedenken, hatte es nie gegeben. Die vier Mädchen machten ein Matratzenlager im grossen Gästezimmer und - Schlaf? Aber mitnichten, es wurde natürlich diskutiert. Louise überlegte schon, wen sie alles zum Tanz auffordern würde, Corinna überlegte, wie sie den Tanzaufforderungen am besten davonkäme.
Nein! Das liess Louise nicht auf sich sitzen. Die Matratzen mussten gestapelt werden, dann forderte sie Corinna zum Tanz auf. Erst Walzer, dann Foxtrott, Rumba, Rock'n'Roll. Ariel und Harmony gähnten sich derweil an, legten sich schliesslich auf die oberste Matratze und nickten irgendwann auch ein.
Eng zusammengedrängt zu viert auf einem Stapel von vier Matratzen erwachten sie schliesslich, als sie nur mehr zu dritt waren - Louise machte gerade Bekanntschaft mit dem Fussboden und schimpfte wie ein Rohrspatz. Es war auch schon spät genug, um aufzustehen und sich ein frühes, aber dennoch gehaltvolles Frühstück einzuverleiben.

Hawaii-Toast zum Beispiel, und davon drei pro Nase. Dafür wurde die Schulkantine an diesem Tag eben mit Verachtung gestraft, ebenso die Lehrer, die vergeblich versuchten, ihre Schüler wach und aufmerksam zu halten. Nur im Sportunterricht war Dösen keine Option: Die Lehrer stellten Mädchen und Jungen gegenüber und legten Musik auf. Corinna erwischte glücklicherweise einen Tanzpartner, der führen konnte, also blamierte sie sich nicht einmal. Schliesslich gab sie sogar zu, dass Tanzen Spass machen konnte - aber eben nicht mit jedem.
Mit Ende der Schulzeit des Tages fiel die halbe zwölfte Schulstufe über sämtliche angesessenen Friseure her und liess sich edle Frisuren und angemalte Gesichter machen. Corinna hatte es mit ihren kurzen Haaren natürlich sehr einfach und auch Ariel machte den Tumult nicht mit: Ihre Ballfrisur war ja nur den Tag über von einem Tarnbild verdeckt gewesen.
Harmonys Haarpracht wurde in einem scheinbar losen Zopfkranz hochgesteckt, einzelne Strähnen hingen dann als kleine Spiralen heraus. Aber das passte nicht. Wer Schnittlauch hatte, musste auch zu Schnittlauch stehen - das sagte auch Aby immer und obwohl Maryssa hartnäckig behauptete, dass man mit Schnittlauch nie einen Kerl bekam, hatte sich Aby mit Schnittlauch (sowie Verschwiegenheit und einem genialen Interview) immerhin einen General (und Kimera) geangelt.

Harmony erteilte dem Friseur also eine Abfuhr und nahm das ganze wieder auseinander - er wirkte tödlich beleidigt. Schliesslich wurde es dann eine Hochsteckfrisur fast ohne freie Strähnen, nur in die Stirn durften einige fallen, dass sie sie hinter die Ohren klemmen konnte.
Jetzt noch kurz nach Hause und sich umziehen und der Abend konnte kommen.

* * *

Der Abend kam.
Es gab eine Polonaise zur Einweihung der Tanzfläche, es gab ein Büffet mit riesiger Auswahl an wohlschmeckendem Allerlei, es gab leckere Getränke mit und ohne Rausch - die Verantwortlichen scherten sich offensichtlich nicht gross darum, dass keiner der Schüler 21 war. Harmony sparte am Rausch, ein bisschen Schwips war ja ganz nett, aber sie erinnerte sich da an einige Besäufnisse, die Ron in seiner Studentenzeit erlebt hatte, inklusive Porzellanbefüllung und Grosskatze. Es hiess immer, die Jüngeren sollten aus den Fehlern der Älteren lernen - Harmony konnte das wirklich, sie erinnerte sich an die Fehler ihrer Vorfahren.
Nur nicht an Da'ans und jene des Jaridian, dessen Gene sie hatte. Der Jaridian war an keinem Joining und nichts annähernd Vergleichbarem beteiligt gewesen und aus Da'ans Erbgutspende für das Experiment war das Gedächtnis zuvor herausgeputzt worden - er hatte eben zu viel gewusst.

„Fräulein Generalstochter hat also schon Durst”, lächelte Maryssa wie eine Gebrauchtwagenverkäuferin vor ihrem Kunden.
„Schön, dich zu sehen, Maryssa, wie gefällt dir der Ball bisher?”, gab Harmony freundlich zurück, „Hier, das ist ein jaridianisches Getränk, es heisst Mezachak.” Sie reichte der intelligenzabstinenten Senatorentochter einen Becher der aussergewöhnlichen Mischung. „Vorsicht, scharf”, warnte sie noch, doch Maryssa spuckte schon förmlich Feuer.
„Was zum Teufel ist da drin?”
„Es heisst Zachak und ist etwa mit Chilischoten vergleichbar. Und ja, Jaridians trinken das wirklich, die schmecken das nicht als scharf.” Harmony grinste. „Du hast doch vielleicht schon einmal gesehen, dass Ariel ihre Brote dick mit Chilipaste bestreicht, oder?”
„So werden sie mir wenigstens nicht geklaut”, trat die Halbjaridian zu ihnen, „Hallo, Maryssa. Du kannst es mir geben.” Sie bekam den Becher Mezachak in die Hand gedrückt, Maryssa hastete davon. „Blöde Gurke”, sah Ariel ihr kopfschüttelnd nach, „Wieso gibt es immer jemanden wie sie?”
„Keine Ahnung ...”
„Hi ihr zwei!” Louise legte einen Arm um jede der Hybridinnen. „Habt ihr schon gesehen? Jason Martínez ist auch da!”
„Klar, ich hab Jay ja eingeladen”, nickte Ariel.
„Wah ... wenn ich denke, dass der den Kimera wahrscheinlich ständig trifft, so als Bruder ... und ich hab den noch nie so richtig live gesehen.”
„Hmm”, murmelte Harmony. Oh, Louise, wenn du wüsstest! „Wo treibt sich Corinna denn rum?”
„Ach, sie hat Jason nur prompt zum Tanz aufgefordert ...”, seufzte Louise, „Oh Mann, dass sie so mutig wird, was das angeht! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich nicht mit ihr geübt und mir den Tanz dann selber gesichert.”
„Lou ... es war eine gute Tat”, lächelte Ariel, „Ich bin sicher, du kriegst Jay auch auf die Tanzfläche.” Sie runzelte die Stirn und streckte sich. „Hey, da ist ja Mabel! Ob Ronny auch da ist? Harmony, hast du ihn wo gesehen?”
„Nein.” Die Kimera sah sich um, aber sie sah ihren Grossvater auch jetzt nirgendwo - und Mabel genausowenig. „Aber meinen Dad sehe ich, er diskutiert irgendwas mit deiner Mom. Ist dein Dad eigentlich da?”
„Ja, aber fast ganz als Mensch getarnt.”
„Fast?”, kniff Louise die Augen zusammen, „also so wie dein Halbtarnbild oder wie?”
Ariel zuckte mit den Schultern: „Ich hab sein Tarnbild noch nicht gesehen.”
„Wo hast du denn eigentlich Mabel gesehen?”, fragte Harmony nachdenklich, die Jaridian wies auf eine brünette Dame im gelben Kleid. „Das ist doch nicht Mabel ... Mabel trägt doch nicht gelb.”
„Warte nur, bis sie sich umdreht!” Mabel drehte sich auch prompt um und entpuppte sich als Erdkundelehrerin. „Mist. Dann ist Ronny wahrscheinlich auch nicht da.”
„Wäre aber was gewesen, die komplette damalige Widerstands-Führungsriege hier zu haben”, murmelte Harmony, „Oder nein ... Renee Palmer würde noch fehlen.”
Louise zog ihre Stirn in Falten und überlegte: „Palmer? Hat die denn nicht ...?”
„Renee Winslow, ja. Wetten, in zwei Jahren heisst sie wieder ... Palmer ...” Harmony blieb mit offenem Mund stehen und folgte Vorjak mit ihrem Blick. Der Jaridian war völlig ungetarnt.
„Ähm ... Dad?”, räusperte sich Ariel, „Hast du eventuell deine Tarnvorrichtung vergessen?”
„Nein, sie ist nur nicht an.”
„Und warum?”, fragte sie.
„Ach, ich finde, ich sehe ja gar nicht so erschreckend aus, Ariel”, grinste Vorjak. Sie verdrehte die Augen. „Und du willst wirklich ganz getarnt bleiben?”
„Naja ... neben dir falle ich ja auch ungetarnt kaum mehr als Alien auf”, gab sie zu und deaktivierte ihr eigenes Tarnbild.
„Ein Alientanz, Tochter?”, hielt er ihr seine rechte Hand hin, sie drückte den Becher Mezachak Harmony in die Hände und entschwebte mit ihrem Vater Richtung Tanzfläche.
„Hmm”, machte Louise, „an einen ungetarnten Jaridian mit Anzug und Krawatte muss ich mich echt noch gewöhnen.”

* * *

Ariel und Vorjak tanzten nicht den einzigen Alientanz - Harmony und Liam folgten dem Beispiel, wenngleich kaum jemand diesen Tanz als Alientanz erkennen konnte. Alan, dunkelhäutiger Taelonhybrid und Harmonys erster Schwarm von damals, war dann der nächste Tanzpartner der jungen Kimera - also wieder ein Alientanz.
Erster Schwarm? Sie hatten es mit sechzehn dann tatsächlich zu einer richtigen Beziehung gebracht, aber die vier Monate inklusive Bettvergnügen (aber ohne Sharing) waren nun auch wieder lange vorbei und er wusste immer noch nicht, dass sie noch weniger Mensch war als er.
Während Alans Energie spürbar zu jener einer anderen Person in Resonanz ging und er sich überrascht umsah, fühlte Harmony deutlich den Taelon im Saal. Die Hybridin sah sich ebenso um wie ihr Tanzpartner, aber Taelon sah sie keinen. Sie schloss ihre Augen kurz und versuchte sich an einer Richtungsortung - dort!

Alan war zum selben Schluss gekommen, er musterte eine dunkelgelockte Frau im roten Kleid kritisch und zog Harmony dann ganz wo anders hin, nämlich zum Büffet. „Die Frau hat mehr Energie als ich!”, wisperte er, „Das gefällt mir nicht!” Harmony wandte kurz den Kopf um und sah gerade noch, dass ihr Vater und Aby diese Frau freundlich begrüssten. „Dein Dad und deine Stiefmum kennen sie?”
„Soll ich nachfragen?”, murmelte sie.
„Vielleicht keine blöde Idee”, nickte Alan. Harmony drückte ihm ihren noch fast leeren Teller in die freie Hand und gesellte sich zu ihrem Vater, Aby und der unbekannten Dame in rot.
„Harmony, du kennst doch bestimmt Zeta aus Clearwater”, lächelte Aby.
Zeta aus Clearwater, der Widerstandsstadt? Harmony machte grosse Augen und nickte verstehend. Das war Zo'or! „Ich habe offensichtlich einige Aufmerksamkeit auf mich gezogen”, stellte die Taelon schmunzelnd fest, „Ich werde versuchen, nicht zu sehr Signalfeuer zu sein.” Zo'ors Aura nahm auf diese Aussage hin deutlich ab.
„Ja, also ... dann gehe ich besser zu Alan zurück und sage ihm, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht”, nickte Harmony noch knapp, dann wandte sie sich um und kümmerte sich um ihren Teller. „Zeta ist okay, nämlich Zo'or mit Jaridiantarnvorrichtung”, wisperte sie Alan zu, während sie sich Kirschpudding auflud, „Er ... sie, verflixt, ist wegen Ariel hier, die beiden sind so was wie ... äh, Busenfreundinnen.”
„Und offensichtlich kann Zeta auch tanzen ...”, murmelte Alan verblüfft, als Liam den getarnten Taelon elegant über die Tanzfläche führte.
Harmony wunderte sich nicht zu sehr, die Tanzhaltung bot ja bestens die Möglichkeit für ein unauffälliges Sharing zum Schrittplanaustausch.

Ja, so konnte man es auch machen.

„Ah, Harmony. Schmeckt es?”, fragte Lili von der anderen Seite des Büffets, „Und du bist Alan, ja?”
„Ja, Ma'am”, nickte der Schwarze, Harmony nickte ebenfalls.
„Harmony, ich wusste gar nicht, dass dein Vater so ein Tanztiger ist”, bemerkte Lili und biss von einem Teigröllchen ab, „Er war doch immer mehr so Haudrauf ... also wie ich.”
„Das war vor seiner Hochzeit, Lili”, schmunzelte Harmony, „Was ist mit Vorjak?”
„Er hat es Ariel versprochen, begeistert ist er ja nicht davon”, grinste die Pilotin, „Er tröstet sich damit, dass mir bei Cedriks Abschluss dasselbe blüht.”
„Ich tanze gerne”, sagte die Hybridin.
Lili blickte kurz irritiert, dann nickte sie und ass den Rest des Röllchens. „Das nimmt dir ja keiner weg, ich bestimmt nicht”, sagte sie, „Also kann ich deinen Vater zu dir schicken, wenn er versucht, mich zum tanzen zu überreden?”
„Klar.”
„Das freut mich. Aber so wie es aussieht, nutzt Boyce die Gelegenheit ... viel Spass, ich halte Fussverbände bereit.” Marquette lud sich noch einige Teigröllchen auf, grinste und brachte Ehemann und Tochter den Snack an den Tisch.

Harmony sah Alan flehend an, aber der Geschichtelehrer war schneller.

Zwei Berühmtheiten machten also das Parkett unsicher. Harmony, berühmt als Tochter ihres Vaters, und Randall Boyce, berühmt für seine kräftige Linke im Boxclub und seine Unfähigkeit, im Tanz weibliche Füsse zu verschonen. Entsprechend wandte die Hybridin ihre meiste Energie dafür auf, ihre Füsse vor seinen in Sicherheit zu bringen. Es gelang ihr nicht immer, aber wenigstens nuschelte Randall immer wieder: „Oh, entschuldige, kommt nicht wieder vor.”

Natürlich kam es wieder vor!

Nach dem letzten Takt schlug sie den nächsten Tanz (Tango! Noch gefährlicher für die Füsse!) aus, indem sie sich auf den Ruf der Blase berief. Damit hatte sie jedenfalls eine Ausrede für vier, fünf oder noch mehr Tänze, denn die Schlange vor der Damentoilette war erstaunlich lang. Als Harmony dann endlich ihre Kabine hatte, klappte sie den Deckel herunter, setzte sich und legte ihren linken Fuss über das rechte Knie.
Alle Achtung, freie Zehen waren gefährdet!
Die Hybridin konzentrierte sich und heizte ihre Energiebahnen etwas an, wobei sie so vorsichtig war, sie nicht durch die Haut glühen zu lassen. Innert Sekunden heilten die Schrammen an den Füssen - und die leichten Druckstellen durch die Riemchen auch gleich.
Dann klappte Harmony den Deckel wieder hoch, betätigte die Spülung und verliess die Kabine.

Sie hatte die erste Tanzphase damit herumgebracht.

* * *

Auf der Bühne trafen sich der Akrobatikclub und die Cheerleader in hautengen, schwarzen Kostümen und führten ihre über Monate eingeübte, wirklich beeindruckende Choreographie auf. Schüler, Lehrer und Eltern applaudierten begeistert - andere Gäste auch, so etwa Zeta, deren Augen förmlich leuchteten, allerdings in diesem Fall nur im übertragenen Sinne.
Nach der Akrobatikeinlage folgte eine Rede des Schulleiters, der in sehr vielen Worten nicht auf den Punkt brachte, was Harmony als Hybridenboom bezeichnete. Es war nicht bei wenigen Mensch-Jaridian-Mischlingen geblieben und vereinzelt wagte sich auch ein Taelon (genau ein Taelon, nämlich Le'or) an gemischte Fortpflanzung heran, wenngleich er wie vor zwanzig Jahren Ha'gel eine Familie mit drei Elternteilen gründen hatte müssen.
Harmony begrüsste diese Entwicklung. Nicht dass sie es damit eilig hatte, selbst Kinder in die Welt zu setzen, aber mit den Doppelhelix-Trägern (und dazu zählten auch die unechten Hybriden wie Alan und auch die Jaridianhybriden) war das eben nicht so leicht. Tripelhelix ging ohne Trickserei nur mit Tripelhelix und da gab es noch nicht gerade viel Auswahl - oder vielmehr keine, denn ausser Dad waren alle weiblich (und von denen nur Mum erwachsen).

Wahrscheinlich hatte er ihr deshalb nie zu sehr ins Gewissen geredet, ja brav zu verhüten: Es war nicht nötig.

Nach der Rede wurde ein Tanz mit der Ballkönigin verlost, den Gewinner kannte Harmony nicht, denn ein Mann mit derart dickem grünen Brillengestell wäre ihr bestimmt in Erinnerung geblieben. Aber noch wusste er auch noch nicht, was er da wirklich gewonnen hatte, denn die Königin war noch nicht gekrönt. - Die Verlosung des Tanzes mit dem Ballkönig ging weniger spektakulär über die Bühne, es gewann Maryssas Mutter, die Senatorengattin.
Dann gab es noch eine Showeinlage, ein paar Schüler brachten ihre Jonglierkünste ein, und schliesslich ging es an die Wahl des Königspaares.

Nicht dass es an einer Highschool etwa Demokratie gäbe ...

Ivy, Cheerleaderin, und Brent aus dem Footballteam wurden feierlich gekrönt, während Maryssa kochte, dass man den grünen Neiddunst förmlich aus ihren Ohren wabern sah. Harmony nahm es locker und versicherte der armen, armen Senatorentochter, dass es bestimmt nur an der Popularität der Cheerleader im Vergleich zu jener des Reitclubs (zu dem Maryssa gehörte) lag.
Maryssa nahm es trotzdem nicht locker, aber das war Harmony dann auch wieder gleich.
Beide königlichen Hoheiten brachten ihre verlosten Pflichttänze hinter sich, dann machten sie sich daran, angenehmere Tanzpartner aufzufordern - Louise zum Beispiel, oder auch die Miss Washington des Vorjahres. An die vaterbedingte Berühmtheit Harmony oder die Hybridin Ariel traute sich Brent allerdings nicht heran, wenngleich er sichtlich ein paar Mal versuchte, sich zu überwinden.

Ivy derweil versuchte, an Jason heranzukommen, aber der war beschäftigt. Harmony hatte den sehr starken Eindruck, dass er und Corinna sich, wann immer Musik erklang, nur auf der Tanzfläche aufhielten. Die Cheerleaderin musste also mit anderen Berühmtheiten Vorlieb nehmen: Liam (ja, sie traute sich), Quarterback Nelson und Mädchenschwarm Colin aus dem Debattierclub.
Davon völlig unabhängig wurde Zeta gerade von Randall Boyce aufgefordert. - Oh, der würde bestimmt eine Standpauke zu hören bekommen, wenn er auf die Füsse eines ehemaligen Synodenführers trat! Harmony zog den nächstbesten Mitschüler mit zur Tanzfläche, sie wollte da in der Nähe sein, Aby und Vorjak nutzten denselben Grund für eine schnelle Entscheidung zum Tanz und Liam dirigierte die Sportlehrerin auch in die entsprechende Richtung.
„Sie! Passen Sie auf, wo Sie Ihre Füsse hinstellen, Sie Elefant!”, lautete die Eröffnung.
„Ich bitte vielmals um Verzeihung, meine Dame”, nuschelte Randall verlegen und setzte gleich den nächsten ungeschickten Schritt hinterher, was ihm einen sehr bösen Blick (Synodenführer!) einbrachte und Zo'or veranlasste, sich nachdrücklich aus der Tanzhaltung zu lösen. „Bitte entschuldigen Sie, ich bin leider nicht der beste Tänzer, aber für Sie gebe ich mir besonders viel Mühe.”
„Meine Zehen haben diesen Eindruck nicht! Suchen Sie sich jemanden, der schweben kann, womöglich gelingt Ihnen dann ein verletzungsfreier Tanz”, sie musterte ihn, „wobei ich auch das bezweifle.” Energisch verliess sie die Tanzfläche, Randall blieb mit dem Blick eines Kamels zurück.

Geschah ihm recht.

* * *

Der Trubel war Harmony zu viel geworden. Sie hatte sich also mit ihrem überraschten, aber sehr sympathischen Tanzpartner (er hiess Cliffard) auf den Sportplatz verzogen, wo sie nun wie von der Dampfwalze plattgefahren lagen und in den Sternhimmel sahen.
Cliffard war Spezialist für Sterne, er kannte jedes Sternbild und konnte für jedes Sternbild sämtliche Sterne samt absoluter und scheinbarer Helligkeit, Spektralklasse und Masse aufsagen - und trotzdem beim Anblick des weissgepunkteten Nichts philosophisch werden.
Aber gut, er hatte deutlich mehr Rausch intus als Harmony, seine Zunge machte vor allem beim L nur, was sie selbst wollte, und ob die Sterndaten nun wirklich korrekt waren konnte Harmony nun auch nicht wirklich beurteilen.
Auf irgendeinem verworrenen, philosophischen Weg über Sterngeburt, Menschenleben, Hölle, Nichts und schwarze Löcher kam er auf die Gravitation zu sprechen und erklärte schliesslich händefuchtelnd die Relativitätstheorie, wobei er ... mit ... Pausen ... und ... langsam ... mit Formeln und Gleichungen um sich warf - und schliesslich den Bogen zur Dimensionaltheorie nach Juliet Street Devereaux schlug und selbige so akkurat (wenngleich lallend) erklärte, wie Street selbst.

Holla! Harmony war hier über ein Genie gestolpert!

Es half ihm nicht gegen den Alkohol: Er schlief ein - mitten auf dem Sportplatz und gekleidet in einen feinen Anzug mit Fliege.
Harmony tippte ihre edle Uhr an und liess das Hologramminterface erscheinen, sie stellte einen Weckruf in einer Stunde ein und beschloss, es ihrem Kollegen gleichzutun, allerdings gelang es ihr nicht. Gerade als ihr Verstand sich ins Traumland verabschieden wollte, kam die mehr als beschwipste Rotte aus Footballspielern und Cheerleadern angetrampelt. Oder der Hofstaat kam anmarschiert, um den Kuss des Königspaares zu feiern? Jedenfalls knutschten Ivy und Brent heftigst und unter Beteiligung sämtlicher Hände, während der Hofstaat jubelte - pardon, grölte.
Cliffard erwachte und setzte sich verwirrt auf, Harmony erhob sich und zog ihn mit. „Meine Ehrerbietung den edlen Majestäten!”, brachte sie theatralisch vor und verneigte sich (und zog auch Cliffard in eine Verbeugung). Das brachte Ivy und Brent sowie die Rotte zunächst aus dem Konzept, dann zum Lachen und hatte weiters überhaupt keine Wirkung.
Tja, dann sollten sie eben knutschen. Harmony ihrerseits beschloss, ihre Ballteilnahme hiermit zu beenden - es gab zuviele Betrunkene für ihren Geschmack.

Mit tatkräftiger Hilfe des Biologielehrers (dank Mums Doktortitel war Harmony mit ihm auf einem Niveau) schaffte Harmony es, den inzwischen seiner Intelligenz verlustig gegangenen Cliffard zum Fahrdienst zu schleppen. Da sie es dann aber nicht schaffte, ihm die Frage nach seiner Adresse so zu stellen, dass mehr als „Wassntn” (nach mehrmaliger Wiederholung als Washington zu erkennen) zurückkam, lud sie ihn kurzerhand ins Kincaid-Haus ein und nahm das gelallte „Uuhkeh” als Einwilligung. Zweifellos hatte er sich knapp vor der plötzlichen, Zo'or-bedingten Tanzaufforderung so einiges hinter die Binde gekippt, was inzwischen die volle Wirkung entfaltete.
Sie brauchte zehn Minuten, bis sie ihn ins Haus, und weitere fünf Minuten, bis sie ihn auch ins Gästezimmer gebracht hatte. Sie zog ihm die Schuhe aus, er bekam noch ein Kissen und eine Decke, die er beide sofort umklammerte, dann schloss Harmony die Türe, drehte die Wandlampe am unteren Ende der Treppe in eine waagerechte Position („Kimera-Uninformierte im Haus”), lief die Treppe hoch und brachte sich selbst zu Bett - allerdings nicht sofort.

Normalerweise leuchtete es nicht unter der Türe von Liams und Abys Schlafzimmer heraus ... oha, er machte Ernst: Nachwuchs.
Nun, bei Aby hatte man schon manchmal die Uhr ticken gehört. Ziemlich laut sogar.

Die junge Hybridin reckte eine Faust in die Höhe und wippte aufgeregt auf den Zehenspitzen: Ein Brüderchen! Ja, ganz bestimmt ein Brüderchen, Dad würde sich für einen Jungen entscheiden. Wobei ... Aby auch? Harmony hörte auf zu wippen. Das wusste sie natürlich nicht, ebensowenig konnte sie den Ausgang der entsprechenden (wahrscheinlich jetzt gerade eben stattfindenden) mentalen Diskussion voraussagen.
Egal. Ein Schwesterchen wäre auch toll.
Mit einem Grinsen bis zu den Ohren auf dem Gesicht putzte sich Harmony die Zähne (dafür war das Grinsen erstaunlich praktisch!), wusch die Schminke ab, entfernte das Metall aus der Frisur, zog sich um und legte sich endlich ins Bett. Brüderchen? Schwesterchen?
Es war wirklich nicht ohne, davon zu erfahren, bevor das Werk überhaupt getan war ... Harmony grinste noch breiter, schloss die Augen und wickelte sich in ihre Bettdecke ein.

* * *

Als die Hybridin gegen elf von Geschirrklappern erwachte und im Pyjama barfuss in die Küche tappte (die Wandlampe leuchtete, der Gast schlief also noch), traf sie Aby in Bademantel und Flauschpantoffeln und Dad gähnend im Jogginganzug an.
„Morgen”, murmelte Harmony und setzte sich auf ihren Platz, ihre nächste Amtshandlung war, ein Glas mit Orangensaft zu füllen und gleich wieder zu leeren.
„Wie war der Ball?”
„Nett. Und gibt es bei euch etwas Neues?”
Aby rollte mit den Augen und sah kurz zu Liam. „Na das ist eine Frage”, stellte sie fest, „Okay, ich bin schwanger.”
„Cool.”
„Ein Junge”, sagte Aby und Harmony grinste. Na also, ein Brüderchen. „Und jetzt reich deinem Vater doch bitte das Rührei, er hat es nach der Anstrengung nun wirklich nötig.”
„Meinem Energielevel geht es gut, ja?”, protestierte Liam, „So ein bisschen Leuchtausbruch ist doch nichts.”
„So ein bisschen genetische Neuordnung mit kompletter Übergabe der energetischen Erbinformation samt Überlagerung des visuellen Erscheinungsbildes ist auch nichts?”, knurrte Aby, „Iss schon! Da koche ich etwas für dich und dann verschmähst du es einfach.” Die Würdige-Gefälligst-Meine-Fürsorge-Keule also, da konnte Liam sich nicht wehren. Harmony reichte ihm den Teller Rührei und er begann zu essen.
Als ob diese Mahlzeit sein Energielevel auf das Vortagesniveau heben könnte ... nein, dafür würde er noch Wochen brauchen, da war Harmony sich sicher - aber das musste Aby nicht wissen, er hatte ohnehin mehr als genug Energie.

Harmony grinste vor sich hin und bestrich einen Toast mit Marmelade. Eine Türe ging auf und etwas später wieder zu. „Ah, Cliffard ist auf”, nickte die Hybridin, „Ich wusste nicht, wo er wohnt, aber auf dem Sportplatz schlafen lassen konnte ich ihn auch nicht.”
„Ist okay.”
„Guten Morgen ...” Cliffard betrat die Küche mit plötzlich vor Staunen tellergrossen Augen, reichlich zerzaust und ungeordnet, aber nach wie vor mit Anzug und Fliege - wobei selbige nun einen Knick hatte.
„Setz dich doch, junger Mann”, schlug Liam freundlich vor.
„Jjjja ... okay ...” Der Jugendliche nahm auf dem freien Stuhl Platz und kratzte sich am Kopf. Er sah nicht so aus, als hätte er geahnt, am Morgen nach dem Ball im Haus des Generals zu erwachen. „War ich übel weggetreten?”, fragte er dann Harmony.
„Stehen konntest du nicht mehr”, sagte sie, „und deine Adresse konntest du mir auch nicht mehr sagen.”
In Cliffards Kopf rastete hörbar ein Zahnrad ein: „Oh mein Gott, meine Mutter bringt mich um! Sie nimmt es verdammt genau mit Alkohol ab 21.”
Harmony sah ihn an und zog die Stirn in Falten. „Und wieso becherst du dann?”
„Weil ich dämlich bin.” Ja, das war natürlich eine Erklärung. Hochintelligent und dämlich schlossen sich nämlich keineswegs aus. „Weil Todd Marillenbrand reingeschmuggelt hat und das Zeug reinhaut.”
„Sag es ihr halt nicht”, schlug die Kimerahybridin vor, „Meine Ausrede hast du. Dad?”
„Ich werde mich hüten, fremder Leute Kinder zu erziehen”, sagte Liam, „Ich sollte nur erwähnen, dass du vielleicht etwas gemässigter trinken solltest, Cliffard. Und, Harmony ...”
„He, ich war die ganze Nacht klar! - Wäre auch wirklich schade gewesen, Boyce nicht leiden zu sehen ...” Kurz war es am Tisch still, dann lachten alle vier los. Der drohende pädagogische Rundumschlag war damit verhindert. „Mal was anderes: Schon was von Ariel, Corinna oder Louise gehört?”
Liam nickte: „Klar, alle drei mit Jason und Zeta per Portal nach Clearwater.”

Huch? Corinna und Louise inmitten so vieler Leute, die wussten, was Liam und Harmony waren? Nicht dass die junge Hybridin glaubte, jemand würde es verraten wollen, aber falls jemand annahm, die Gäste wüssten es bereits, wäre es nun einmal ... dumm.
„Zeta war es übrigens, die Boyce als Elefanten betitelt hat”, fügte der Kimera an Cliffard gewandt hinzu, worauf jener perplex nickte.
„Wie hat der Ball Zeta gefallen?”, fragte Harmony nach, „Jetzt abgesehen vom Tanz mit Boyce?” Liam grinste breit. „Naja, okay, vielleicht hat ihr genau das doch ganz gut gefallen, sie durfte schön böse gucken”, zuckte sie mit den Schultern, „Ich frage sie dann selber.” Sie ... nun, wenn Zo'or in weiblicher Gestalt den Ball besuchte, musste er mit diesem Pronomen rechnen.

Cliffard beteiligte sich am Frühstück recht fleissig und überwand nach der halben Zeit sogar halbwegs seine schüchterne Ader. Mit Hilfe einer Kleiderbürste, eines Kamms und etwas Wasser brachte er dann den Anzug, seine Frisur und sogar die geknickte Fliege in Ordnung, bevor er sich schliesslich dankbar verabschiedete und sich zur nächsten Bushaltestelle aufmachte. Kaum war der junge Mann aus der Türe, drehte Liam die zwischenzeitlich automatisch ausgeschaltete Lampe an der Treppe wieder senkrecht.

„Netter Kerl”, sagte Aby.
„Ja”, nickte Harmony und musterte ihre Stiefmutter genau, „Alles bestens mit dir? Keine üblen Nachwirkungen?”
Aby verschränkte streng ihre Arme. „Wenn du mit üblen Nachwirkungen Schlafmangel meinst, dann sind da welche”, sagte sie, „ansonsten fühle ich mich grossartig.”
„Achje ...” Liam seufzte laut auf. „Wenn ich mir nicht absolut sicher gewesen wäre, das ohne fiese Überlastung fertigzubringen, hätte ich es ganz sicher nicht gemacht. Okay?”
„Naja, ich dachte ja nur ...”, murmelte Harmony.
„Du dachtest nur, dass Ha'gels Erfolgsquote nicht so berauschend war”, nickte er, „und er zudem Glück hatte, dass Mutter als CVI-Trägerin eine Menge mehr wegstecken konnte als ein normaler Mensch.” Er kehrte in die Küche zurück und setzte sich. Aby und Harmony folgten ihm. „Das stimmt natürlich”, sagte er dann, „aber Rücksichtnahme stand damals nun überhaupt nicht auf seinem Programm.”
„Hmm.” Das hatte Harmony gar nicht bedacht - aber ihr Vater hatte natürlich recht. Sie legte schön angebräuntes Toastbrot und Emmentaler bereit und begann zu stapeln.
„Wenn man nicht stur durch die Wand rennt, ist die Sache so sicher, dass ich ja auch guten Gewissens Le'or erklären konnte, wie er es machen muss”, fügte Liam hinzu, „Hätte ich sonst auch nicht gemacht.” Er rammte die Gabel in eine bedauernswerte halbe Tomate. „Wenn ihr gestattet, dass ich zum Punkt komme: Ich weiss schon, was ich tue - und Hunger hab ich auch noch.”
„Weiss ich, mein Schatz”, flötete Aby, „beides.”
Harmony grinste breit und biss in ihren Toastturm.
„Ja, Flöckchen, nun, da du weisst, dass es auch ohne Lebensgefahr geht”, schmunzelte Liam, „komm bitte nicht auf die Idee, mir zu schnell einen Enkel anzuhängen, ja? Einfach ist es nämlich nicht, ganz im Gegenteil, und dein Energielevel würde das auch noch nicht verkraften.”
Tatsächlich? „Ich bin doch viel älter als du damals.”
„Stimmt - aber es hat ja Joyce die Energie geliefert, nicht ich”, erklärte er, „ausserdem mussten wir nichts neu ordnen, wir waren ja ohnehin kompatibel. Du weisst schon, Tripelhelix und Tripelhelix.”
Wusste sie. „Klar.” Und dass Mums Energielevel schon damals wahrlich unvorstellbar gewesen war, wusste sie auch, aber für Mum, die ihr eigenes Interdimensionskraftwerk war, war das natürlich nur normal.

* * *

Die ruhige Fortsetzung des Frühstücks, ohne Schulaufgaben im Nacken oder Schulstunden auf dem Plan, brachte Harmony zu Bewusstsein, dass sie damit jetzt wirklich fertig war. Sie konnte nun den Sommer dazu nutzen, durch die Welt zu ziehen und sich alles einmal anzusehen. Sie konnte sich auch einen Ferienjob suchen und das Arbeitsleben kosten (sie wusste, wie es schmeckte, sie erinnerte sich ja).
Nein, sie würde einfach Ferien machen und sich im Herbst darauf stürzen, den Pilotenschein zu machen und Aerodynamik und Interdimensionalphysik zu lernen. Es war in Dads Leben ein halbes Jahr als Pilot, an das sie sich erinnern konnte, und sie teilte die Begeisterung ihres Vaters fürs Fliegen.
Nur zum Militär wollte sie nicht, also eben Zivilflug.
Die Nutzung von Shuttles zum Personen- oder Güterverkehr wurde ja zumindest schon mal angetestet, aber noch würde Harmony sich auf jeden Fall mit konventionellen Maschinen herumschlagen müssen.

Mit Ende des Frühstücks machte sich die Familie (zu viert, ja!) mit reichlich Gepäck nach Clearwater auf - nur kamen sie gerade mal bis zum Portal, bevor ihr Nachbar Cole Singer wild schnaufend zu ihnen gelaufen kam und noch wilder mit den Händen fuchtelte. „Herr Nachbar, General ... Sie gehen in die geheime Stadt, ja? Ich möchte mit!”
„Mr. Singer, das ist leider nicht möglich”, schüttelte Liam den Kopf.
Cole schnaufte noch ein bisschen weiter, bis er schliesslich ohne Tonkulisse einer Dampfmaschine weitersprechen konnte: „Bestimmt ist das möglich. Da sind ja Sniper in den Dachfenstern.” Als Beweis knallte es und ein Dachsegment des Portalhäuschens zersprang.
„Was zum ...”, war Liam alarmiert.
„General, ich hab keine Wahl, die haben meinen Jungen.” Gut, damit war Singers Handlung verständlich.
„Warum müssen Sie mit und nicht einer von denen?”, fragte Liam, die Antwort bestand aus Schulterzucken. „Die können uns sehen und hören?”
„Ja, Sir”, bestätigte Cole und tippte rechts unter den Kieferknochen, wo ein dezenter blauer Fleck eine CVI-Implantation anzeigte, „Wir zwei sollten mal durchs Portal gehen, die werden ungeduldig. Ihre Frau und Tochter müssen aber da bleiben und Ihr Global auch.”
„Aby, alles wird ...”
„Los, geh! Du wirst schon das Richtige tun”, unterbrach Aby, „Los.” Kurz sah Liam noch Harmony an, sie spürte auch einen beruhigenden Impuls, dann legte er sein Global auf den Boden, stellte sich mit Singer ins Portal und verschwand. „Tja, was jetzt?”, seufzte Aby, „Können die uns jetzt noch sehen und hören?
”Ja, Mrs. Kincaid, das können wir.„ Harmony runzelte verdutzt die Stirn und zog den kleinen Lautsprecher unter dem nächsten Gebüsch hervor. ”Ich schlage vor, Sie kommen zu uns und bringen das Global mit. Sie wissen ja, wo Ihr Nachbar wohnt.

 

Ende von Kapitel 10

 

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