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  „Freundschaft” von Taoynin   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Ein Klinikbesuch bringt Da'an und Jemen in Gefahr
Zeitpunkt:  dritte Staffel, zwischen „Liebe deinen Feind” und „Die Agentin”
Charaktere:  Da'an, Jemen Tyler, Liam Kincaid, Zo'or und andere
 

 

FREUNDSCHAFT

Kapitel 4

 

Da'an war in den letzten Wochen und Monaten seinen diplomatischen Verpflichtungen nicht in dem von ihm gewünschten Maße nachkommen können. Der von Präsident Thompson verhängte Ausnahmezustand hatte die Menschen verunsichert. Kritik an den Companions war alltäglich geworden, die mit der Veröffentlichung der Taelon-Projekte durch die TV-Produzentin Shelly George einen neuen Höhepunkt fanden. Zo'or hatte zwar durch seine heroische Tat am Ende der Geiselnahme die Aufmerksamkeit von seinem zweifelhaften Tun ablenken können, aber Da'an war sich bewußt, daß das Ansehen der Taelons gelitten hatte und ihre eigentliche Mission immer mehr in Gefahr geriet. Es war eine Entwicklung, die ihn zutiefst beunruhigte.

Da'an fühlte eine Erschöpfung, die nicht durch eine Energiedusche auszugleichen war. Aber er ignorierte es. Seine Hand zitterte, als er in dem Datenstrom seine Termine hin und herschob. Doch wieder weigerte er sich hartnäckig, die Zeichen zu akzeptieren und konzentrierte sich auf seinen virtuellen Kalender. Es waren deutlich mehr Anfragen hereingekommen.

„Guten Tag, Da'an.”

„Jemen! Wie schön, daß Sie schon wieder zurück sind.” Da'ans Hand fuhr durch die Luft und beendete den Datenstrom. Dann erhob er sich. Tyler kam langsam näher und formte den Taelongruß. Da'an erwiderte ihn lächelnd. Es überraschte den Companion, daß ihn der Anblick seiner neuer Beschützerin derartig erfreute, bis ihm bewußt wurde, daß er einfach die freundschaftliche Nähe eines Menschen vermißte. Liam war zumeist mürrisch und ungehalten und viel zu sehr damit beschäftigt, die Welt zu retten.
Was Da'an suchte, war das unvoreingenommene Gespräch. Er wollte nicht in jedem Augenblick daran erinnert werden, warum er hier war. Er wollte die Last der Verantwortung ablegen, auch es nur für einen kurzen Moment war. „Haben Sie schon eine Wohnung gefunden?” fragte er interessiert.

Jemen nickte. „Ein Appartement, nur ein paar Blocks weiter. In Washington hat es eindeutig Vorteile, eine Companion-Beschützerin zu sein. Vielleicht liegt es aber auch an der Großstadt. In Kyllburg haben die Leute von uns so gut wie keine Notiz genommen, was natürlich manchmal auch seine Vorteile hat. - Wohin führt uns unser erster Termin?”

Da'an lächelte über ihre Eifer. „Ein Kinderkrankenhaus”, berichtete er dann. „Die dortige Verwaltung plant einen Anbau und benötigt dringend die finanzielle Unterstützung der Bürger. Durch die Anwesenheit eines Companion erhoffen sie sich einen größeren Erfolg ihrer Veranstaltung.”

„In gewisser Weise ist es unlogisch, aber die Menschen sind eher bereit, ein Projekt zu unterstützen, das von einer bekannten Person gefördert wird.” Sie zog ihr Global hervor. „Ich werde mich mit Agent Lassiter in Verbindung setzen, um den Sicherheitsplan zu überprüfen.”

„Das ist nicht nötig”, sagte Da'an. „Alle notwendigen Vorkehrungen sind bereits getroffen. Wir haben noch etwas Zeit. Wollen Sie mir nicht im Garten ein wenig Gesellschaft leisten?”

Jemen wunderte sich zwar ein wenig, nickte aber dann. Schweigend spazierten sie nebeneinander her. „Was hat Major Kincaid dazu gesagt, daß ich jetzt Ihre Beschützerin bin?” fragte sie nach einer Weile.

Da'an musterte sie kurz. „Ich will aufrichtig sein. Es hat nicht seine Zustimmung gefunden. Er erachtet es als einen Fehler.”

Jemen schob die Hände in die Hosentasche. „Vielleicht ist es auch einer”, sagte sie leise.

„Der Major ist um mein Wohlergehen besorgt, nun, da er mehr Zeit mit Zo'or verbringen muß. Aber ich denke, er macht sich zu viele Gedanken. Er steht Fremden immer sehr mißtrauisch gegenüber. Ich bin jedoch überzeugt, daß er seine Einstellung revidiert, wenn er Sie erst einmal etwas näher kennengelernt hat.”

„Die Skepsis des Majors ist gerechtfertigt, Da'an.”

Der Taelon blieb stehen und musterte sie überrascht. „Wie meinen Sie das?”

„Ich muß mich erst noch beweisen. Als Di'mags Beschützerin habe ich versagt. Ich war nicht bei ihm, als er mich brauchte. Wenn sich das wiederholt...”

„Sie fühlen sich schuldig, obwohl Sie sich für etwas verantwortlich machen, das Sie gar nicht beeinflussen konnten. Manche Dinge lassen sich einfach nicht aufhalten, Jemen. Sie sollten es sich nicht so zu Herzen nehmen.” Da'an nahm seine Wanderung wieder auf.

„Das muß ich aber, Da'an”, sagte sie ernst. „Ich muß mich in Frage stellen. Denn wenn ich die Situation aufgrund fehlerhafter Einschätzung nicht richtig erkannt habe, dann bedeutet es, daß ich mir auch nicht der Gefahr bewußt war.”

„Ich verstehe Ihre Selbstzweifel. Aber Sie müssen sich davon befreien, sonst wird es Ihr weiteres Handeln beeinflussen und Sie zusehends verunsichern. Letztendlich geschieht das Gegenteil von dem, was Sie sich erhoffen.”

„Aber muß ich nicht zunächst erst einmal wissen, ob der Fehler bei mir lag?” wandte sie ein. „Wie kann ich sicher sein, daß ich in Zukunft die richtigen Entscheidungen treffe? ”

Der Taelon blieb erneut stehen und wandte sich ihr zu. „Auf dem Mutterschiff war es Ihre Kompetenz, die Zo'or in Frage stellte. Doch Sie ließen sich nicht einschüchtern. Ihre Ausbildung zur Polizistin und Sicherheitsbeamtin gab Ihnen das notwendige Selbstvertrauen. Was hat sich verändert?”

Sie schlug die Augen nieder. „Jetzt geht es um Ihr Leben, Da'an.” Als sie wieder aufschaute, traf sie sein Blick. Er sah sie voll Güte und Warmherzigkeit an. „Und ich vertraue es Ihnen an... weil ich an Sie glaube, Jemen. Und Sie sollten es auch.”

Sie seufzte schwer auf. „Ich habe es nicht verdient, Da'an.” Kummer regte sich in ihren Zügen. „Ich bringe Sie nur in Gefahr.”

Stumm betrachtete er ihr Gesicht, das ihm mittlerweile so vertraut schien, als kannten sie sich schon jahrelang. Welch tiefer Schmerz verbarg sich hinter ihren Worten... Es rührte ihn auf eine Weise, die er nicht verstand. „Glauben Sie an das Schicksal, Jemen?” Es war keine rhetorische Frage. Vielmehr schien sich dahinter der aufrichtige Wunsch zu verbergen, das, was zwischen ihnen vorging, zu verstehen. „Ich weiß es nicht, Da'an”, sagte sie verhalten. „Ich weiß nicht, ob es ein Segen oder ein Fluch wäre.”

„Aber es würde vieles erklären”, erwiderte er. Einem Impuls folgend streckte er seine Hand aus, sie zu berühren. Jemen fuhr zurück.

„Sie weichen meiner Berührung aus”, stellte er konsterniert fest. „Ist es Ihnen so... unangenehm?”

Heftig schüttelte sie den Kopf, trat aber einen weiteren Schritt zurück. „Es ist nicht so, wie Sie denken, Da'an. Ich kann nicht... Es tut mir leid...”, stieß sie atemlos hervor.

Der Taelon bemerkte Furcht in ihren dunklen Augen. „Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Jemen. Verzeihen Sie mir.” Aufmerksam beobachtete er sie.

Jemen hatte unwillkürlich den Atem angehalten. Jetzt ließ sie die Luft langsam entweichen. „Schon gut”, murmelte sie, ohne ihn dabei anzusehen. Sie wußte, daß ihr Verhalten seltsam erscheinen mußte. Aber ihr blieb keine andere Wahl.

„In Ihnen ist ein großes Geheimnis, daß Sie vor der Welt verbergen. Aber wenn Sie als meine Beschützerin arbeiten, läßt es sich manchmal nicht vermeiden, einander zu berühren. Ich respektiere jedoch Ihren Wunsch nach Distanz. Ich verspreche Ihnen, daß ich nicht gegen Ihren Willen handle.”

Sie nickte flüchtig und sah unsicher zur Botschaft. „Müssen wir nicht langsam los?”

„Ja, wir werden schon erwartet.” Da'an drehte sich auf der Stelle um und strebte dem Gebäude zu, während ihm die junge Beschützerin verwirrt nachschaute. Der Taelon war also nicht ganz bei der Wahrheit geblieben, als er sagte, sie hätten noch Zeit. Demnach war ihm das Gespräch wichtiger gewesen als die Einhaltung des Termins. Aber was hatte er sich davon versprochen? Ging es vielleicht um das, was sie vor ihm verbergen mußte? War seine Neugierde geweckt? Und nun suchte er nach einem Weg, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Dieser Gedanke gefiel Jemen ganz und gar nicht. Es machte Da'an so berechnend und würde bedeuten, daß er seine eigenen Belange über alles andere stellte.

Mit einem Male wurde ihr klar, daß sie unbewußt von ihm weit mehr erwartet hatte. Dabei war sie nur seine Beschützerin. Er hatte ihr niemals seine Freundschaft angeboten. Und deshalb hatte sie auch kein Recht, seine Beweggründe zu verurteilen. Da'an war nicht Di'mag.

Jemens Schultern strafften sich. Ich bin nur seine Beschützerin, dachte sie. Nun mußte sie diese Tatsache akzeptieren und sich ihrer Aufgabe widmen. Das wurde von ihr erwartet. Nichts anderes. Wenn Da'an ihrem Geheimnis auf den Grund gehen wollte, dann würde er den richtigen Weg finden müssen.

 
* * *
 

Als Da'an und Jemen die Kinderklinik erreichten, warteten zwei unangenehme Überraschungen auf die Beschützerin. Zum einen war der Eingangsbereich des Krankenhauses mit Menschen bevölkert. Ein derartiger Ansturm war jedoch nicht im Sicherheitsplan berücksichtigt worden. Sie konnte dafür zwar nicht verantwortlich gemacht werden, aber sie sah sich mit einer erschwerten Situation konfrontiert. Zum anderen entdeckte sie Liam Kincaid im Foyer. Er sprach mit Da'ans Sicherheitsleuten und schien ihnen Anweisungen zu geben. Soviel also zu Da'ans Vertrauen! dachte sie mißmutig und drehte sich nach dem Taelon um.

Der Klinikleiter, der sie nach ihrer Landung persönlich vom Shuttle ins Haus geführt hatte, sagte gerade zu dem Außerirdischen: „Wir haben hier auf der Galerie für Sie ein Podium vorbereitet, damit Sie Ihre Ansprache halten können. Wir halten das für sinnvoller, als wenn Sie unten im Foyer sprechen, zumal man Sie hier oben auch besser sehen kann.”

Da'an nickte zustimmend.

„Gut. Dann folgen Sie mir bitte. ”

Jemen setzte rasch ihren Ohrhörer auf und schob das kleine Mikrofon näher an ihren Mund. „Mr. Tilton? Hier spricht Jemen Tyler, Da'ans Beschützerin.”

„Ja, Miss Tyler?” meldete sich der Chef des Sicherheitsteams.

„Geben Sie mir einen Statusbericht!”

„Alles ruhig hier unten. Major Kincaid hat zusätzliche Sicherheitskräfte angefordert, die den Außenbereich überwachen.”

„Geben Sie mir Major Kincaid!” befahl sie unwillig. Ihr Blick folgte Da'an und dem Klinikleiter. Es waren eindeutig zu viele Menschen auf dieser Galerie. Da hätte er ja gleich ein Bad in der Menge nehmen können.

„Ich bin in Ihrer Leitung, Tyler”, meldete sich Kincaid.

Jemen senkte die Stimme, während sie zu Da'an aufschloß. „Ich wurde nicht darüber unterrichtet, daß Sie ebenfalls hier sein würden.”

„Nun, jetzt wissen Sie es”, gab er zurück. „ich bin gleich bei Ihnen.” An seiner atemlosen Stimme konnte sie erkennen, daß er gerade die Treppe zur Galerie hinauflief. Und dann stand er auch schon hinter ihr. „Hallo.”

„Hallo”, grüßte sie zurück. Es hätte frostiger nicht sein können.

Da'an, der sich nach Jemen umschaute, entdeckte nun Liam und kam überrascht zurück. „Major! Hatten Sie mir nicht gesagt, es würde Ihnen unmöglich sein, uns bei diesem Termin zu begleiten?”

„Ich konnte es doch einrichten, Da'an.”

Dr. Wahrig, der Klinikleiter, brachte sich räuspernd in Erinnerung. „Da'an? Würden Sie mich bitte zum Podium begleiten?” Der Taelon nickte ihm zu und setzte sich in Bewegung, warf Liam aber die Schulter einen verwunderten Blick zu.

„Was hat das zu bedeuten, Major?” fragte Jemen ungehalten.

„Die Sache hier ist eine Nummer zu groß für Sie”, erwiderte er. „Wieso wurden so wenige Sicherheitsleute eingeteilt? Das Außengelände ist gänzlich ohne Bewachung.”

Jemen kommentierte seinen Vorwurf mit einem eisigen Blick. „Da müssen Sie schon Da'an fragen. Oder Mr. Tilton. Ich habe den Sicherheitsplan nicht erstellt.”

„Schon gut”, lenkte Kincaid ein. „Aber ich schlage vor, daß Sie zukünftige Termine mit mir abstimmen”, sagte er etwas freundlicher. „Bis Sie eine Routine dafür bekommen. Solche Veranstaltungen bergen immer ein großes Sicherheitsrisiko.”

Jemen schwieg ostentativ.

„Wir sollten nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten”, fügte er hinzu. „Ich schlage vor, daß Sie bei Da'an bleiben, während ich mich hier auf der Galerie ein wenig umsehe.”

„Nein”, sagte sie sofort. „Ich werde mich umsehen.”

„Meinetwegen.” Kincaid sah ihr nach. Genau das hatte er erreichen wollen. Es war ihm lieber, wenn sich Da'an in seiner Nähe aufhielt. Langsam ging er in Richtung Podium, begann damit, die Leute um den Taelon herum in Augenschein zu nehmen. Das Foyer füllte sich jetzt. Liam registrierte, daß Tyler weitere Sicherheitskräfte auf die Galerie beorderte, damit sie die Menschenmenge im Auge behielten.
Der Klinikleiter hielt eine kleine Ansprache und übergab das Wort an den Taelon. Augenblicklich wurde es still, als Da'an zu sprechen begann. Seine warme Stimme erfüllte den Raum. Wieder einmal wurde Kincaid die außergewöhnliche Präsenz des Außerirdischen bewußt. Kein anderer Taelon konnte auf diese Weise die Herzen der Menschen erreichen. Er hielt ihnen vor Augen, wie wichtig die Kinder für das Fortbestehen einer Spezies waren. Sie waren die Zukunft. Liam merkte gar nicht, daß er bald wie alle anderen auch, gebannt den Worten Da'ans lauschte. Erst als sich Tyler bei ihm meldete, wurde ihm bewußt, daß er sich hatte ablenken lassen. „Bei mir ist auch alles ruhig”, sagte er rasch und konzentrierte sich wieder auf seine Pflichten.

Da'ans Rede schien die in ihn gesetzte Hoffnung zu erfüllen; schon zückte der eine oder andere bereitwillig die Geldbörse. Dr. Wahrig dankte dem Taelon für seine Unterstützung und übergab an seinen Mitarbeiter, der dem interessierten Publikum anhand von Zeichnungen, die im Foyer auf einem großen Monitor abgebildet wurden, einen Überblick über den geplanten Anbau gab.

 
* * *
 

Jemen lehnte sich kaum merklich gegen den Türrahmen des Empfangsraumes und unterdrückte ein Gähnen. Dr. Wahrig hatte Stufe 2 seines Planes in Angriff genommen. Der Taelon hatte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Projekt gelenkt, nun ging es darum, dem Gesundheitsministerium auf geschickte Weise einen großzügigen Zuschuß zu entlocken. Dem Klinikleiter lag der Anbau wirklich sehr am Herzen, und so wurde nichts dem Zufall überlassen. Aber derzeit zeigte sich der Minister noch ziemlich zugeknöpft, obwohl ihm der Architekt begeistert seinen Entwurf zeigte, die Mitarbeiter des Ärzteteams von den neuen Möglichkeiten schwärmten und der Verwaltungschef eine vielversprechende Kosten-Nutzungs-Aufstellung präsentierte.

Jemen betrachtete Da'an, der sich sehr aufgeschlossen zeigte. Trotzdem war sie überzeugt, daß er dem Geplänkel nur wenig abgewinnen konnte. Aber wie sollte ein Wesen, dessen Spezies weder über eine Wirtschaft im irdischen Sinne noch über Zahlungsmittel verfügte, verstehen können, daß die Erweiterung der Klinik, die in seinen Augen gar keiner Diskussion bedurfte, lediglich eine Frage des Geldes war? Im Grunde war es ein beschämendes Zeugnis, daß die Menschheit gerade ablieferte. Plötzlich wurde aus dem leichten Geplänkel eine heftige Diskussion, in der alle Gäste hineingezogen wurde - nur Da'an nicht. Der Taelon hatte sich unmerklich von den Kontrahenten zurückgezogen und einen beobachtenden Posten eingenommen. Jemen sah sich nach Kincaid um, aber der unterhielt sich gerade sehr angeregt mit einer jungen Frau. Nachdem sie sich über Funk mit Tilton in Verbindung gesetzt hatte und von ihm die Bestätigung erhielt, daß nichts Ungewöhnliches zu vermelden sei, gesellte sie sich zu Da'an. „Was halten Sie davon, wenn wir uns mal für ein paar Minuten verdrücken?” fragte sie ihn halblaut.

Da'an musterte sie. Neugierde blitzte in seinen hellen Augen auf. „Was haben Sie vor, Jemen?” fragte er leise und zugleich erwartungsvoll zurück.

Sie sah ihn geheimnisvoll an. „Warten Sie's ab, Da'an.”

Möglichst unauffällig dirigierte sie den Taelon zur Tür. Aber niemand achtete auf sie. Alle waren in ihrem Streit vertieft, so wie Liam in sein attraktives Gegenüber vertieft war. Draußen auf dem Gang atmete sie tief durch. „Wie halten Sie so etwas nur aus, Da'an?”

Da'an betrachtete sie ein wenig verständnislos. „Die Menschen unterscheiden sich von den Taelons - gewiß. Ich denke, Toleranz...” Er brach ab, denn Jemen war den Gang bis zur nächsten Kreuzung hinuntergeschlichen und winkte ihm zu. „Hier entlang, Da'an.” Sie wartete, bis er zu ihr aufgeschlossen hatte und blieb dann an seiner Seite, denn nun kamen sie zu den einzelnen Stationen, und sie wollte vermeiden, daß sie auffielen. Eine große gläserne Tür mit der Aufschrift „Dermatologie” öffnete sich automatisch, als sie durch eine unsichtbare Schranke gingen. „Woher ahnten Sie, daß es mein Wunsch war, die Kinder zu sehen?” fragte Da'an überrascht.

Sie lächelte. „Es war das Naheliegendste. Schließlich geht es hier um Kinder.” Schwestern und Ärzte kamen ihnen entgegen, sie höflich grüßend. Aber niemand schien sich zu wundern, sie hier anzutreffen. Jemen suchte den Bereitschaftsraum auf. „Ist es möglich, daß Da'an einige Kinder besucht?” fragte sie eine Schwester, die gerade Akten in verschiedene Fächer sortierte. Ein strenger, prüfender Blick traf sie, der sich sogleich in ein warmes Lächeln wandelte, als Da'an in der Tür erschien. „Selbstverständlich”, sagte die Schwester. „Es ist uns eine besondere Freude, Ihnen unsere Station zeigen zu dürfen. Ich bin Mrs. Normann. Aber alle nennen mich hier Schwester Nancy. - Oh, da werden unsere Kinder aber Augen machen!” fügte sie strahlend hinzu. Während sie voranging, betrachtete Da'an wohlwollend die Umgebung. „Sie haben es hier sehr hübsch. Die Kinder fühlen sich bei Ihnen sicher wohl.” Er deutete auf die vielen Bilder an den Wänden, den Mobiles, die von den Decken hingen.

„Vorsicht! Stolpern Sie nicht!” warnte die Schwester, und der Taelon stoppte jäh vor einem Plastikbagger. Große braune Kulleraugen bohrten sich förmlich in ihn hinein, und ein kleiner Mund öffnete sich sprachlos.

„Das ist Kevin”, stellte Schwester Nancy den Knirps vor. „Kevin, das ist Da'an. Du kennst ihn doch bestimmt aus dem Fernsehen.”

„Bist du ein Marsmensch?” wollte Kevin wissen. Er kletterte aus seinem Bagger und stellte sich vor Da'an hin.

Da'an lächelte sanft auf ihn herunter. „Nein, ich bin ein Taelon.”

Ein fröhliches Grinsen zeigte sich jetzt auf Kevins Gesicht. „Macht nichts”, sagte er und schob seine Hand in die Da'ans. „Komm, dann können wir zusammen spielen.”

Die Krankenschwester wollte ihn gerade darauf hinzuweisen, daß der Taelon nicht nur seinetwegen gekommen sei, aber Jemen gab ihr ein Zeichen, ihn gewähren zu lassen. Sie hatte die Freude in Da'ans Gesicht gesehen.

Kevin führte Da'an in das Spielzimmer. Dort wurde es plötzlich sehr still. Aber schon nach kurzer Zeit war der Taelon von einer großen Kinderschar umringt, die ihn aufgeregt bestürmte. Als Jemen und Schwester Nancy das Zimmer erreichten, saß Da'an bereits auf einem Stuhl, und auf seinem Schoß hockte ein kleines Mädchen, das ihn anstrahlte, während ihn die anderen mit ihren Fragen bombardierten.

„Hoffentlich wird es ihm nicht zuviel”, sagte Schwester Nancy ein wenig besorgt. „Die Kleinen können manchmal ganz schön wild sein.”

Jemen lächelte. „Ich denke, er kommt schon zurecht. Gönnen wir ihnen den Spaß.” Sie betrat nun ebenfalls das große Zimmer. Neugierige Blicke trafen sie, aber es dauerte erst eine ganze Weile, bevor jemand an ihrer Jacke zupfte und sie fragte, wer sie denn sei. „Ich bin Da'ans Beschützerin”, erklärte sie.

„Warum mußt du Da'an denn beschützen?” fragte ein kleines Mädchen, dessen Arme dick bandagiert waren.

Jemen ging in die Hocke. „Nicht alle Menschen sind damit einverstanden, daß die Taelons auf der Erde sind. Und einige Menschen sind sogar ziemlich böse darüber. Damit sie Da'an nicht wehtun können, beschütze ich ihn. So muß er nicht selbst auf sich achtgeben, sondern kann andere Dinge machen, euch besuchen zum Beispiel.”

„Ich möchte auch eine Beschützerin werden”, sagte das Mädchen begeistert. „Sobald ich gesund bin, werde ich damit anfangen.”

Jemen streichelte ihr vorsichtig über das Haar. „Warum nicht... „, sagte sie sanft. „Aber ein bißchen wachsen solltest du schon”, fügte sie lachend hinzu.

Das Mädchen verfiel in angestrengte Nachdenklichkeit. „Ich muß ja auch noch in die Schule”, fiel es ihm ein, und es zog einen Schmollmund. „Ist Da'an noch da, wenn ich groß bin?”

„Tja...” Was sollte sie dem Kind erzählen? Tatsächlich wußte niemand so genau, wie lange die Taelons auf der Erde bleiben würden.

„Ich kann ja inzwischen mit den Kindern von den Außerirdischen spielen”, überlegte die Kleine. „Wie viele Kinder hat Da'an?”

„Kinder!” wiederholte Jemen perplex. „Die genaue Stückzahl? Nun... ähm.” Sie sah in Richtung Da'ans. Der Taelon schaute ebenfalls zu ihr hinüber, so als hätte er die Frage des Mädchen gehört. Schließlich senkte er den Blick, und seine Hand preßte sich gegen seine Brust, so als sei er an etwas erinnert worden, daß ihn bekümmerte. Schließlich wandte er sogar seinen Kopf ab, so als wollte er vermeiden, daß seine Emotionen allzu sichtbar wurden. „Weißt du”, wandte sich Jemen wieder an das Mädchen. „Die Taelons sind auf einer großen Forschungsreise. Sie sind lange durch das Weltall geflogen, bevor sie zu uns kamen. Und weil sie vorher nicht wußten, wie gefährlich ihre Reise werden würde, haben sie all ihre Kinder zu Hause gelassen.”

„Oh, wie schade”, sagte die Kleine und trippelte zu Da'an hinüber. Sie hätte ihn gern umarmt, aber mit ihren verbundenen Armen ging das nicht, und deshalb sagte sie zu ihn: „Ich hab' dich lieb, Da'an.”

Der Taelon berührte zart ihre Wange, aber er sagte kein Wort, und er vermochte auch nicht mehr zu lächeln.

Die anderen Kinder schienen seinen Kummer zu spüren, denn plötzlich schmiegten sich alle an ihn, versuchten ihn auf ihre Weise zu trösten. Jemen war an das Fenster getreten. Sie fragte sich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, Da'an hierherzubringen. Di'mag hatte ihr nie etwas von den Taelons erzählt, was im unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer Anwesenheit auf der Erde zutun hatte. Er hatte es der besonderen Umständen wegen vermieden, aber Jemen war sich nicht so sicher, ob er tatsächlich nur verhindern wollte, daß sie von den Geschehnissen beeinflußt wurde. Sie hatte Furcht in seinen Augen gesehen. Was konnte einen Taelon derart ängstigen?
Erst nach einer langen Weile - und auch nur, weil die Kinder wieder lebhafter geworden waren - warf sie einen Blick über die Schulter. Da'an schien sich gefangen zu haben; er studierte gerade sehr interessiert ein Bild, das ein Rotschopf für ihn gemalt hatte. Erleichtert seufzte sie auf und wandte sich wieder der Aussicht zu.

„Sollten wir nicht langsam zu den anderen zurückgehen?” fragte Da'an plötzlich. „Bevor man uns vermißt...”

„Ja... gleich”, antwortete Jemen abwesend. Sie hatte aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen, so als wäre jemand über das tiefergelegene Flachdach gelaufen. Sie öffnete die Tür, die hinaus auf den schmalen Balkon führte, und sah gerade noch, wie jemand über das Geländer sprang und im Haus verschwand.

„Beunruhigt Sie irgend etwas?” fragte Da'an, der ihr gefolgt war. „Was ist mit Ihnen, Jemen?” Er sah überrascht in ihr wie erstarrt wirkendes Gesicht.

„Nichts”, sagte sie. „Es ist nichts, Da'an. Aber wir sollten jetzt zurückgehen.” Sie trat an ihm vorbei in das Zimmer zurück und eilte zur gegenüberliegenden Tür. Durch die Glasscheiben konnte sie hinaus auf den Korridor sehen. Er war leer und wirkte friedlich. Ein trügerischer Frieden. Tief in Jemen begann es zu vibrieren. Unendlich vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt breit. Im Hintergrund hörte sie Da'an, der sich von den Kindern verabschiedete und dabei bestrebt war, sie davon abzuhalten, ihnen zu folgen. Sie schob ihren Kopf langsam durch den Spalt und horchte. Absolute Stille. Dann - ein leises Geräusch - wie Turnschuhe, die sich über das Linoleum schoben. Ein Klicken. Jemen schloß sofort die Tür und wandte sich hastig dem Taelon zu. „Ich befürchte nichts Gutes”, sagte sie. „Lassen Sie uns über den Balkon zurückgehen.”

„Und die Kinder?” fragte Da'an besorgt.

„Wir können sie doch nicht mitnehmen, Da'an. Damit machen wir doch erst recht auf uns aufmerksam und bringen sie nur unnötig in Gefahr.” Ihre Stimme klang jetzt ungeduldig. Sie wartete eine weiteren Einwand erst gar nicht ab, sondern drängte ihn zur Außentür. „Und ihr seid jetzt schön brav und spielt weiter, bis Schwester Nancy kommt”, sagte sie zu den Kindern. „Das würde Da'an nämlich sehr froh machen.”

„Kommt ihr denn wieder?” fragte Kevin.

„Wir kommen wieder. Das ist ein Versprechen.”

Eilig liefen Jemen und Da'an den Balkon entlang. Im Laufen aktivierte die Beschützerin ihr Mikro. „Kincaid!” stieß sie aufgeregt hinein. „Da'an und ich befinden uns in der Dermatologie, auf dem Balkon. Ich glaube, wir werden verfolgt.”

„Was?!” schrie Kincaid zurück.

Jemen hatte das Gefühl, als müßte ihr Trommelfell zerspringen, und beinahe hätte sie das Mikro aus dem Ohr gezerrt. „Schicken Sie das Team her! Sofort!” zischte sie. „Schneller, Da'an!” Sie hatten das Ende des Balkons fast erreicht. Links sah sie eine Glastür und betete, daß sie nicht verschlossen war. Dann ging alles plötzlich blitzschnell, und sie konnte nur noch instinktiv reagieren. Eine Gestalt sprang hinaus auf den Balkon und feuerte los. Jemen hechtete auf die Tür zu, stieß sie nach innen auf und riß im Fallen den Taelon mit in das Zimmer hinein. Sofort war sie wieder auf den Beinen, zerrte ihn hoch und zog ihn am Arm zur Korridortür. Aber diesmal war selbst Da'an so überrascht, daß er ihre Berührung nicht bewußt wahrnahm.

Draußen im Gang kamen ihnen Kincaid und seine Leute entgegen. „Bringen Sie Da'an zum Shuttle! Rasch!” rief sie den Männern zu.

Kincaid riß den Mund auf. „Was...” Aber sie hob energisch die Hand und signalisierte ihm, still zu sein. Dann deutete sie auf das Zimmer, aus dem sie gerade herausgekommen waren. Liam verstand. Beide zogen sie nun ihre Waffen und wagten sich langsam vor. Aus dem leeren Krankenzimmer drang kein Laut. Kincaid wechselte einen knappen Blick mit Jemen und nickte ihr zu. Dann stieß er die Tür weit auf und sprang zurück hinter dem sicheren Pfosten. Vorsichtig spähte er um die Ecke, stellte fest, daß das Zimmer leer war, und stürmte zur Balkontür. „Da läuft er!” rief er und lief den Balkon entlang, bis er eine Stelle fand, um auf das Flachdach zu springen. Jemen folgte ihm hastig. Sie sah den Flüchtenden. Er hatte das Ende des Daches erreicht und erklimmte eine Leiter, um auf das nächste Geschoß zu kommen.

„Verdammt!” fluchte Jemen laut, denn Kincaid lief dem Fremden hinterher, ohne auf seine eigene Sicherheit Rücksicht zu nehmen. Wenn der Flüchtende innehielt und zurücksah, würde sich ihm ein perfektes Ziel bieten. „Sicherheitsteam!” rief sie in ihr Mikro. „Die verdächtige Person befindet sich auf dem mittleren Dach. Vermutlich wird sie sich auf der Rückseite einen Weg nach unten suchen. Kommen Sie sofort zum Wirtschaftsgebäude...”

„Wir sind schon auf dem Weg”, antwortete ihr Tilton.

„Und wir brauchen zusätzliche Verstärkung.” Jemen überlegte, ob sie sich Tilton und seinen Leuten anschließen sollte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Vermutlich würde sie ihnen nur im Weg stehen und ihre Arbeit erschweren. „Wir haben schon Verbindung zur hiesigen Polizei aufgenommen”, erklärte ihr Tilton. „Wenn uns der Kerl noch nicht entwischt ist, dann kriegen wir ihn auch.”

„Ich werde dem Major folgen.” Jemen sprang auf das Flachdach und rannte zu der Leiter hinüber. Dort verhielt sie einen kurzen Augenblick, um ihr Global hervorzuziehen. Hastig rief sie das Sicherheitsprotokoll auf. Für diese Veranstaltung hatte man ihr eine Reihe von Anweisungen und Informationen zur Verfügung gestellt. Aber der erhoffte Plan von der Klinik fehlte. Entweder war so etwas gar nicht vorgesehen oder man hatte es vergessen. Sie erklimmte rasch die Leiter und lugte vorsichtig über den Rand, konnte aber weder Kincaid noch den Attentäter entdecken. Das Geschoß war zudem zu unübersichtlich. Es gab zu viele Vorbauten, zu viele Versteckmöglichkeiten. Jemen überlegte. Hinter diesem Geschoß kam das Wirtschaftsgebäude. Wenn sich der Flüchtende in diese Richtung bewegte, lief er Tilton und seinen Leute praktisch in die Arme. Zurück konnte er ebenfalls nicht, weil ihm Kincaid vermutlich schon im Nacken saß. Blieb also nur noch der Weg nach rechts...

Jemen kletterte die Leiter wieder hinab und lief zurück ins Gebäude. Im Korridor der Dermatologie herrschte große Aufregung. Schwester Nancy stand in einer Gruppe von Ärzten und Krankenschwestern und hob gerade in einer hilflosen Geste die Arme. „Oh, Miss!” rief sie beinahe erleichtert, als sie Jemen erblickte. „Was um Himmels Willen geht hier vor?”

„Wir haben alles unter Kontrolle”, rief die Beschützerin im Vorbeilaufen. „Halten Sie nur die Kinder zusammen.” Sie ignorierte die Rufe der Ärzte, die eine Erklärung forderten, und folgte dem Gang, bis sie zu einer Gabelung kam. Hier wandte sie sich nach rechts. Eine Markierung wies ihr den Weg zum Treppenhaus. Erneut zog sie ihre Waffe, hielt sie aber unter ihrer Jacke versteckt, als sie die Stufen zum nächsten Stockwerk hinaufeilte. Ihr Herz pochte wie wild, aber es war weniger die ungewohnte Anstrengung. Irgend etwas in ihr sagte, daß der Attentäter genau diesen Weg nehmen würde. Auf der nächsten Etage angekommen, verhielt sie. Hinter der gläsernen Tür sah sie einige Besucher, die sich vor dem Fahrstuhl versammelt hatten. Sie wirkten ruhig. Wenn er hier durchgekommen war, hätte sie es an dem Verhalten dieser Menschen merken müssen. Er war auf der Flucht, und er hatte einige Stockwerke hinter sich. Er konnte sich nicht innerhalb dieser kurzen Zeit seiner Umgebung anpassen. Jemen hastete weiter. Adrenalin schoß durch ihren Körper. Sie kam sich plötzlich wie die Gejagte vor. Ruhe bewahren! dachte sie. Du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren.

Und dann stand er plötzlich vor ihr und sah sie an.

Er trug einen Gesichtsschutz. In seiner rechten Hand lag locker die Waffe. Jemen starrte ihn an - bereit, bei der kleinsten Bewegung sofort die eigenen Waffe zu ziehen. Aber er neigte nur ein wenig den Kopf, schien sie zu mustern.

Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals hinauf. Die verrücktesten Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Wenn sie nun gezwungen war zu schießen, wohin würde sie zielen? Würde sie einfach abdrücken? Würde sie auf seine Hand zielen? Auf seine Beine? Ich habe noch nie einen Menschen getötet. Es war eine Sache, während eines Kampfes zu schießen oder wenn man sich verteidigen mußte, denn dabei blieb einem keine Zeit, darüber nachzudenken, was aus dem anderen werden würde. Aber jetzt - in diesem Augenblick - da lag es an ihr, darüber zu entscheiden. Jetzt stand noch ein lebender, atmender Mensch vor ihr. Und obwohl nur wenige Sekunden verstrichen war, wußte sie, daß er ihre Unsicherheit spürte und sie gegen sie verwenden würde. Alles in ihr spannte sich an.

Der Fremde nahm langsam eine Stufe nach der anderen, bis er nur noch etwa zwei Meter von ihr entfernt war. Jemen hatte langsam ihre Pistole aus der Jacke hervorgeholt, ohne sie auf ihr Gegenüber zu richten. Innerlich fluchte sie, weil sie vergessen hatte, Kincaid zu kontaktieren. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, daß er den Attentäter nicht aus den Augen verloren hatte... Allerdings -, wenn er jetzt plötzlich im Treppenhaus erschien, konnte der Fremde in Panik geraten und sie einfach über den Haufen knallen. Sie mußte also handeln.

Aber dann geschah etwas Unerwartetes.

Der Fremde griff nach seinem Gesichtsschutz und zog ihn langsam vom Kopf. Zerzaustes blondes Haar kam zum Vorschein. Tiefblaue Augen, in denen es lebhaft funkelte. Es waren gleichzeitig kalt blickende Augen, die jeden Menschen unwillkürlich zum Frösteln gebracht hätten. Doch Jemen fror nicht. Es war ihr, als bildete sich hinter ihrer Stirn eine kleine Flamme, die stetig wuchs, bis sie zu einem alles verzerrenden Feuer wurde. Glühendes Feuer, das durch ihre Adern rann...

Ein schwaches Lächeln glitt über sein jungenhaftes Gesicht, als er das Haar mit der einen Hand zurückstrich. Er versteckte die Waffe unter seinem Pullover und zog nun auch seine Jacke aus. Achtlos ließ er sie zu Boden fallen. Dann stieg er weiter die Treppe hinab, bis er mit ihr auf gleicher Höhe war. Jemen. Seine Lippen formten ihren Namen, ohne ihn auszusprechen. Sie starrte ihn wortlos an. Es kam erst wieder Leben in ihr, als er durch die Glastür verschwunden war. Sie zog ihr Global hervor und rief Kincaid.

„Ich habe ihn verloren”, meldete sich der Companion-Beschützer frustriert. „Verdammt. - Wie sieht es bei Ihnen aus?”

„Ich befinde mich hier im Treppenhaus. Ich habe eine Jacke und einen Sichtschutz gefunden. Damit wird es uns schwerfallen, ihn noch zu erwischen.”

Kincaid fluchte.

„Ich kümmere mich jetzt um Da'an”, sagte sie.

„Warten Sie!” rief Liam, aber sie hatte die Verbindung schon unterbrochen.

Da'ans Shuttle befand sich noch auf dem Parkplatz, von einigen Polizisten gesichert. Sie sah Tilton, der sie jetzt entdeckt hatte und auf sie zueilte. Aber sie ignorierte ihn und betrat das Shuttle. „Da'an, wieso sind Sie nicht zur Botschaft geflogen?”

„Jemen! Geht es Ihnen gut?” fragte der Taelon besorgt.

„Mir ist nichts passiert”, sagte sie rasch und nahm neben ihm Platz. „Wir haben den Verdächtigen leider aus den Augen verloren. Aber wir sollten doch jetzt besser aufbrechen.” Sie vermied es dabei, ihn anzusehen.

„Was ist mit dem Major?”

„Er koordiniert die Suche”, log sie.

Da'an spürte, daß sie bestrebt war, den Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Und deshalb gab er seinem Piloten sogleich das Zeichen zum Aufbruch. Noch während des Fluges meldete sich Zo'or vom Mutterschiff, der von dem Attentat erfahren hatte. „Da'an, wie ich sehe, ist dir nichts geschehen. Das beruhigt mich”, heuchelte der Synodenführer. „Ich bin zutiefst schockiert über diesen Vorfall. Wie konnte es überhaupt dazukommen?”

Da'an musterte ihn mit einem unergründlichen Blick. „Es ist jetzt noch zu verfrüht, darüber zu sprechen”, erklärte er. „Ich bin auf dem Weg zur Botschaft. Dort werde ich die Ankunft Major Kincaids abwarten. ”

„Konnte der Terrorist wenigstens gestellt werden?”

„Nein. Bisher noch nicht.”

„Dann solltest du dich umgehend um eine Überarbeitung der Sicherheitsbestimmungen bemühen. Wenn der Terrorist entkommen konnte, wird er möglicherweise eine neuen Weg suchen, sein Werk zu vollenden. - Ich erwarte umgehend deinen Bericht.”

„Wie du meinst, Zo'or”, erwiderte Da'an und beendete die Kommunikation. Jemen starrte stumm vor sich hin. Vor ihrem geistigen Auge erschien die Gestalt des jungen Mannes. Ich konnte ihn doch nicht töten, dachte sie verstört. Ich kann doch nicht meinen eigenen Bruder töten...

 

Ende von Kapitel 4

 

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