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  „Freundschaft” von Taoynin   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Februar 2004
Mission Erde/Earth: Final Conflict gehören Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Jemen will zum Portal zurückkehren, ohne Zo'or. Doch der ist damit alles andere als einverstanden. Schließlich entschließt er sich zu ein wenig mehr Offenheit, was Muruwi angeht.
Zeitpunkt:  dritte Staffel, zwischen „Liebe deinen Feind” und „Die Agentin”
Charaktere:  Jemen, Zo'or, Sandoval, Go'rik, Da'an, Liam, Ke'rak, Astral
 

 

FREUNDSCHAFT

Kapitel 18

 

Jemen stand still am Rande des Plateaus, völlig versunken in der Betrachtung der zerklüfteten Landschaft mit ihren unzähligen Schluchten und bizarren Felsformationen. Zo'or wanderte in nicht all zu weiter Entfernung von ihr auf und ab, hin und wieder stehen bleibend und ihr einen irritierten Blick zuwerfend. Er verstand ihr Verhalten nicht. Es entsprach in keinster Weise den gängigen Mustern. Zwar bestätigte es erneut die Unberechenbarkeit dieser Spezies, aber es half ihm auch nicht weiter. „Es gibt Dinge, die kann man einem Menschen nicht erklären”, sagte er.

Langsam wandte sie sich ihm zu. Hatte sie vielleicht darauf gewartet, dass er dieses Thema erneut zur Sprache brachte? „Sie machen es sich damit sehr einfach, Zo'or. Für mich klingt das nämlich mehr wie eine perfekte Ausrede, um über gewisse Dinge nicht reden zu müssen. Nicht nur, was das La'ha'shii angeht. Wann immer ich etwas über Ihre Spezies herausfinden wollte, sind Sie mir ausgewichen. Wollen Sie mir allen Ernstes weismachen, dass ich nicht intelligent genug bin, um Ihre Erklärungen zu verstehen?” Sie verließ ihren Platz und kam auf ihn zu. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, blieb sie kurz stehen und sah ihn stirnrunzelnd an. „Sie haben es ja nicht einmal versucht. Kann ein Mensch nicht besser beurteilen, ob er etwas versteht oder nicht?”

Zo'ors Blick folgte ihr, als sie in die Spalte hinabkletterte. Sie wollte ihn provozieren, zweifellos. Aber diesmal war er darauf vorbereitet. Eine weitere unbedachte Äußerung würde sie ihm nicht entlocken können. Die Neugierde dieser Spezies war wirklich unerträglich. Warum nur mussten sie immer alles ergründen? Sie selbst legten doch größten Wert auf die Wahrung ihrer Privatsphäre. Durfte er nicht ebenso viel Respekt erwarten? Er verdrängte den aufkommenden Ärger, denn im Moment gab es Wichtigeres, als sich mit einem Menschen zu streiten. Der vorangegangene Konflikt - noch im Nachhinein erboste ihn ihre unverschämte Behauptung, er wäre für Di'mags Tod verantwortlich - hatte die ohnehin angespannte Situation zwischen ihnen erheblich verschärft. Er war keineswegs gewillt, ihr Verhalten zu tolerieren. Aber vor die Wahl gestellt, sich entweder mit ihr zu einigen oder allein den Weg zur Kolonie fortzusetzen, zog er den Kompromiss vor.

„Ich schlage vor, dass wir hier die Nacht abwarten”, sagte er, als er zu ihr in den Graben hinabstieg. „Wir sind hier relativ gut geschützt und Ihnen wird die Ruhe gut tun. Morgen früh können wir dann unseren Weg zur Kolonie fortsetzen.” Er ließ seine Stimme bewusst autoritär klingen, um kein Zweifel darüber aufkommen zu lassen, wer hier das Sagen hatte.

Jemen zeigte keine Reaktion. Sie hatte ihre Jacke ergriffen und schüttelte den Sand heraus. Aber nach einer Weile sagte sie: „Sie können mir keine Befehle mehr erteilen, Zo'or ... Schon vergessen? Ich habe gekündigt.”

Aber mit dieser Antwort hatte er gerechnet. „Als Sie Beschützerin wurden, haben Sie sich verpflichtet, unsere Regeln und Gesetze anzuerkennen. Sie hätten sich Ihren Vertrag besser durchlesen müssen, denn dann wüssten Sie, dass Sie nur von dem Taelon, in dessen Dienste Sie eingetreten sind, vorzeitig aus dem Vertrag entlassen werden können.” Eine derartige Regelung gab es gar nicht, aber Zo'or war überzeugend genug, um Jemen irritiert aufblicken zu lassen.

„Ich habe niemals einen Vertrag gesehen, geschweige denn einen unterschrieben”, sagte sie ungehalten.

„Ihr Fehler”, kommentierte er ungerührt. „Ihre Zustimmung ist praktisch mit einer Unterschrift gleichzusetzen.” Ein selbstgefälliges Lächeln umspielte seine Lippen, während sie überrascht schwieg. „Als Synodenführer besitze ich jedoch das Recht, einen Vertrag für ungültig zu erklären”, fügte er nach einer Weile hinzu. „Ich bin auch durchaus geneigt, Ihrem Wunsch zu entsprechen. Das hängt aber davon ab, wie kooperativ Sie sich zeigen.”

„Dann muss ich Sie leider enttäuschen. Ich habe weder Zeit noch Lust, mir Ihr Wohlwollen zu verdienen.” Entschlossen streifte sie die Jacke über.

Diesmal war es Zo'or, der irritiert schwieg, denn wieder einmal verhielt sie sich anders als erwartet und brachte ihn so aus dem Konzept. „Ihr Menschen seid wahre Meister im Erfinden von Regeln und Gesetze und ebenso, wenn es darum geht, sie zu brechen”, sagte er schließlich.

„Ja, es stimmt, die Menschen haben viele Regeln und Gesetze, und je größer die Gemeinschaft, um so umfangreicher wird die Sammlung. Es lässt sich gar nicht vermeiden, dass manche Regeln gebrochen werden, sei es versehentlich, in voller Absicht, um sich einen Vorteil zu verschaffen, oder weil es sich um antiquierte Normen handelt. Aber Ihnen geht es in Wirklichkeit gar nicht darum, dass ich einen Vertrag breche. Sie benutzen es nur als Vorwand, um an mein Pflichtbewusstein zu appellieren.”

„Was haben Sie jetzt vor?”

Ohne ihn anzusehen, sagte sie: „Ich werde Wasser suchen und dann diesen Spalt erkunden. Ich glaube, dass er sich durch das ganze Plateau zieht. Ich könnte einen sehr großen Teil des Weges einsparen, wenn ich auf diese Weise zur Wüste gelange.”

„Sie wollen zurück zum Portal?” fragte er verblüfft. „Das ist völlig absurd. In Ihrem geschwächten Zustand wäre das der reine Selbstmord. Außerdem nützt Ihnen das Portal überhaupt nichts, denn es bringt Sie nicht weg von hier.”

Jemen gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Interessant, dass Sie mich jetzt als zu schwach befinden. Vorher haben Sie sich einen Dreck darum geschert, ob ich unseren Marsch durchstehe. Oder entwickeln Sie plötzlich so etwas wie Verantwortungsgefühl?” Sie wartete keine Entgegnung ab, sondern wandte sich zum Gehen. „Ich kann nicht mehr viel länger auf diesem Planeten bleiben. Ich brauche Nahrung, sonst sterbe ich. Für Sie ist es unrelevant, ob Sie ein paar Tage oder ein paar Wochen ausharren müssen.”

Mit einer überraschend schnellen Bewegung stellte sich ihr der Taelon in den Weg. „Ich werde das nicht zulassen”, sagte er. „Ihr Plan ist nicht nur töricht, er verspricht auch keinerlei Aussicht auf Erfolg. Sie werden allenfalls den Jaridian in die Hände fallen.”

„Sie gehen von dem Schlimmsten aus”, sagte sie, „aber wir wissen nicht mit Sicherheit, ob mich die Jaridian töten werden. Immerhin bin ich ein Mensch...”

„Sie sind in erster Linie meine Verbündete, weil Sie mit mir gemeinsam geflohen sind. Das macht Sie in deren Augen automatisch zu einen Feind.”

Einen kurzen Augenblick bedachte sie seine Worte. Dann sagte sie: „Ich habe bisher keinen einzigen Jaridian gesehen, und mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass sie gar nicht nach uns suchen. ”

„Und wie erklären Sie sich das Shuttle, dass ich gesehen habe?” hielt er ihr entgegen.

„Ein einziges, Zo'or! Und das in der ganzen Zeit. - Hendriks hatte vor, Sie den Jaridian auszuliefern. Aber er hielt sich nicht an den vereinbarten Zeitpunkt, sondern zog den Transfer vor. Er ging davon aus, dass es unerheblich sein würden, wann letztendlich Sie auf Jaridia ankämen. Er wusste ja nichts von Muruwi und dass dieser Ort nur ein Zwischenstopp sein würde. Die Jaridian haben vergeblich auf uns gewartet und sind dann wieder abgezogen. Vermutlich sind sie davon ausgegangen, dass Hendriks seinen Teil der Abmachung nicht eingehalten hat.”

„Wir haben Fußspuren hinterlassen.”

„Die wurden vielleicht verweht.”

„Nein, Tyler, Ihre Überlegungen stützen sich auf nur sehr vage Vermutungen. Und eines lassen Sie dabei vollkommen unberücksichtigt: Ein Jaridian gibt seine Beute niemals auf.”

„In diesem Fall müssten es ja sehr miserable Jäger sein, wenn sie uns nach der ganzen Zeit noch immer nicht gefunden haben”, bemerkte Jemen spöttisch.

Zo'or musterte sie gründlich. Es war ihr offensichtlich ernst damit, zum Portal zurückzukehren. Gab es vielleicht eine andere Möglichkeit, sie umzustimmen? Es konnte doch nicht angehen, dass er vor dieser Menschenfrau kapitulierte. „Ich teile Ihre Ansicht zwar nicht, aber falls Sie Recht haben ... was erhoffen Sie sich davon, umzukehren?”

Jemen fuhr sich durchs Haar und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. „Ich denke, es war ein Fehler, das Portal zu verlassen. Ich bin davon ausgegangen, dass uns niemand folgen würde, weil Hendriks Major Kincaid geschnappt hatte. Woran ich aber nicht gedacht habe, das war Sandoval. Er befand sich ja bereits auf dem Weg zum Versteck.”

Interesse zeigte sich jetzt in dem Gesicht des Taelons, das aber sehr rasch wieder verschwand. „Es war tatsächlich ein Fehler von Ihnen, uns in die Berge flüchten zu lassen, ein ausgesprochen dummer obendrein”, sagte er selbstgefällig. „Aber da ich Ihnen hinsichtlich der Kolonie nicht ganz die Wahrheit gesagt habe, denke ich, dass wir hiermit quitt sind. Wir werden also morgen früh umgehend zum Portal zurückkehren.”

Jemen schüttelte entschieden den Kopf. „Ich werde gehen. Und Sie werden weiterhin nach der Kolonie suchen. So erhöhen wir auf jeden Fall unsere Chancen.”

Zo'or sah sie überrascht an. „Wir sollen uns trennen?”

„Sie wissen, dass wir keine andere Wahl haben. Ich könnte mich hinsichtlich des Portals erneut irren.” Sie atmete tief durch und versuchte sich etwas zuversichtlicher zu zeigen. „Einer von uns beiden wird es schon schaffen.”

Die Vorstellung, den Weg allein fortzusetzen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Unbehagen regte sich in ihm. Doch mit welchem Argument sollte er sie aufhalten, ohne sich nicht selbst eine Blöße zu geben? Was er brauchte, war etwas mehr Zeit, um sich eine bessere Taktik zu überlegen. „Einverstanden”, sagte er. „Wir werden es so machen, wie Sie es vorschlagen. Aber ich bestehe darauf, dass Sie die Nacht abwarten.”

„Meinetwegen”, sagte sie und zog die Jacke wieder aus. Sie hatte ohnehin nicht vorgehabt, während der Dunkelheit zu marschieren, sondern wollte sich irgendwo einen Schlafplatz suchen. Eigentlich kam es ihr ganz gelegen, wenn sie die Nacht hier verbringen konnte. Trotz der Aversion, die sie ihm gegenüber verspürte, vermittelte seine Gegenwart ein gewisses Maß an Sicherheit und würde sie wesentlich ruhiger schlafen lassen.

Kurze Zeit später saßen beide - in einem angemessenen Abstand - in ihren Sandkuhlen. Jemen hatte ein paar „Lebensretter” aufgespürt und löschte ihren Durst. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf dem Planeten verspürte sie ein vages Hungergefühl, als sie auf das weißliche Fruchtfleisch starrte. Ohne weiter zu überlegen, suchte sie nach einem passenden Werkzeug und fand es in Form einer kleinen schmalen Metallleiste, die in dem Kragen ihrer Jacke eingearbeitet war und sich leicht entfernen ließ. Sie schälte ein Stück aus der Frucht und steckte es zögernd in den Mund. Es hatte einen undefinierbaren Geschmack, war aber nicht unangenehm. Das ermutigte sie, mehr davon zu essen. Hin und wieder sah sie zu dem Taelon hinüber. Zo'or hatte sich so gesetzt, dass er nicht in ihre Richtung schauen musste. Aber das war ihr nur recht so.

Jemen stapelte die restlichen Lebensretter auf einen kleinen Haufen und legte sich dann zum Schlafen nieder. An ihrem Schenkel drückte plötzlich etwas sehr unangenehm. Zunächst vermutete sie einen kleinen Stein, und deshalb richtete sie sich auf, um ihren Schlafplatz zu säubern. Tatsächlich war der Störenfried aber etwas, dass sich in ihrer Hosentasche befand. Neugierig geworden kramte sie es hervor. Es waren zwei kleine Datendiscs, wie sie häufig von Di'mag benutzt wurden, wenn er spezielle Auszüge seiner Arbeit an menschliche Kollegen weiterreichen wollte. Doch diese beiden waren adressiert. Jemen las ihren eigenen Namen auf einer der Disc und auf der anderen den Zo'ors. Nur dunkel erinnerte sie sich daran, dass sie sie in ihrem Appartement eingesteckt hatte. Was mochte auf ihnen gespeichert sein? Eine Nachricht von Di'mag? Hinweise auf das Attentat?

Jemen legte sich wieder hin und betrachtete nachdenklich die beiden kleinen Datenträger. Ein seltsames Gefühl beschlich sie, verdichtete sich in ihrem Magen zu einem dicken Klumpen. Was, wenn sie eine Wahrheit enthielten, die sie mit etwas Neuem konfrontierte? Ihr Blick wanderte zu Zo'or hinüber, der just in diesem Moment seine Sitzhaltung veränderte und dabei in ihre Richtung sah. Rasch verbarg sie die beiden Discs in ihrer Handfläche und stellte sich schlafend.

 
* * *
 

Sandoval wagte sich nicht zu rühren und hielt immer wieder unwillkürlich den Atem an, so als könnte sich selbst die kleinste Bewegung als verhängnisvoll erweisen. Sein Blick streifte den Jaridian, der ebenso wie er danach trachtete, sich von dem Schock zu erholen. Ihren unmittelbaren Absturz hatten sie verhindern können, aber ihre augenblickliche Position war alles andere als sicher.

„Wir ... brauchen ... einen besseren ... Halt”, stieß Go'rik angestrengt hervor. Sein Kopf wandte sich zur Seite und betrachtete die Wand neben sich. „Da sind ein paar ... kleine Spalten ... Schauen Sie mal! Glauben Sie, dass Sie sich da für eine Weile festhalten können?”

„Was haben Sie vor?” fragte der Asiate atemlos zurück.

„Mein Gürtel ... Wenn es mir gelingt, ihn zu lösen, können wir ... ihn vielleicht benutzen...” Go'rik schob ächzend Sandovals Handgelenk, das er noch immer umklammert hielt, näher an die Wand heran. Dessen Finger ertasteten einen schmalen Riss. „Es wird gehen ...aber nicht lange.”

Go'rik ließ ihn vorsichtig los, gleichsam darauf bedacht, sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Sandoval fühlte, wie erneut Adrenalin in seinem Körper freigesetzt wurde und durch seine Adern strömte, während sein Blick unverwandt auf den Jaridian gerichtet war. So langsam begann er zu verstehen, was Go'rik vorhatte. Offensichtlich wollte er seinen Gürtel dazu verwenden, um ihn, Sandoval, zu sichern und um damit wieder eine Hand frei zu bekommen. Er hing derzeit in einer völlig verdrehten Haltung in der Felswand, und es war sicher nur eine Frage der Zeit, wann seine Kraft nachließ. Schon jetzt war es dem Asiaten unbegreiflich, dass er diesen Zustand überhaupt aushielt. Aufgeregt beobachtete er, wie der Jaridian den Gürtel löste und vorsichtig aus den Schlaufen zog und dann wieder nach seiner Hand griff. Keine Sekunde zu spät, denn schon drohten Sandovals Finger aus der Spalte zu rutschen. Atemlos vor Anspannung starrten sich beide an.

„Eine kleine Pause”, presste der Jaridian angestrengt hervor und lehnte keuchend den Kopf zurück. Er atmete tief durch und führte Sandovals Hand erneut zur Wand. Es bedurfte mehrerer Anläufe, bis er das eine Ende des Gürtels an den Schlaufen seines Hosenbundes befestigt hatte. Das andere Ende wickelte er vorsichtig um das Handgelenkt des Asiaten. Nun galt es noch eine schwierige Hürde zu bewältigen. Das war der Moment, wenn Sandoval nach dem Gürtel greifen würden. Der Ruck konnte Go'rik den Halt kosten und musste vermieden werden. Deshalb griff er wieder nach dem Handgelenk und nickte Sandoval zu. Sprechen konnte er nicht. All seine Kraft konzentrierte sich darauf, sich am Felsen zu halten. Aber Sandoval verstand ihn auch so. Seine Finger ertasteten den Gürtel und zogen ihn langsam auf Spannung. „Ich habe ihn”, stieß er aufgeregt hervor. Erst dann ließ ihn der Jaridian los. Sekundenlang gerieten sie gefährlich ins Wanken, und der Schrecken stand ihnen sichtbar ins Gesicht geschrieben. Dann konnte Go'rik nach einem Vorsprung, den er schon vorher anvisiert hatte, greifen - und die Gefahr war gebannt...

 
* * *
 

Da'an und Liam hatten die untere Ebene der Station aufgesucht und insgesamt vier Räume gefunden - jeweils zwei rechts und links neben der Rampe. Es wurmte den jungen Mann ein wenig, mit welcher Leichtigkeit der Taelon die Durchgänge aufspürte. Er benutzte dazu einfach seine Energiesignatur. Liam hatte zwar mehrmals auf dem Mutterschiff miterlebt, wie sich Da'an auf diese Weise Zutritt zu verschiedenen Räumen verschafft hatte, aber wenn es auch hier so einfach war, warum hatte er ihn dann erst suchen lassen? Da er jedoch mit keiner zufriedenstellenden Antwort rechnete, sprach er es gar nicht erst an.

Sämtliche Räume hatten eine ovale Form und waren etwa vier Meter lang und drei Meter breit. Auf regalähnlichen Gebilden, die mit den Wänden fest verbunden schienen, standen eine unglaubliche Vielzahl an antiken Gegenständen, die Ma'el offensichtlich gesammelt hatte. Auch ohne entsprechende Kenntnisse ahnte Liam, dass es sich um eine ganz besondere Sammlung handelte, die das Herz eines jeden Altertumsforschers hätte höher schlagen lassen. Vorsichtig nahm er eine kleine Statuette aus gebranntem Ton hoch, die einen knienden Krieger mit einer schweren Keule und einem kegelförmigen Helm darstellte. Die heraldischen Muster auf seiner Tunika erinnerten an einen Ritter aus dem mittelalterlichen Europa, doch Da'an erklärte ihm, dass es sich um eine Figur der Mochica handelte. Auch die beiden kugeligen Krügen mit auffällig lebendig gemalten Szenen und eine aus einer Kürbisschale hergestellte Schüssel mit Einlegearbeiten aus Muscheln und Steinen, die sich ebenfalls auf dem Regal befanden, gehörten zu diesem frühem peruanischen Volk.

Liam war beeindruckt. „Woher wissen Sie das alles?”

„Ich habe mich eine Zeitlang sehr ausführlich mit der menschlichen Geschichte befasst. Noch nie zuvor bin ich einem Volk begegnet, das eine solche Vielzahl an unterschiedlichen Kulturen aufweist.” Da'an wandte sich den Datalogs zu, die es hier ebenfalls in großer Anzahl gab. „Ich finde das sehr faszinierend.”

„Und es gibt keine andere Spezies, die sich mit uns vergleichen lässt?”

„Vergleichen ist nicht der richtige Ausdruck, Liam. Jede Welt entsteht unter anderen Bedingungen. Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff - das sind Elemente, wie sie überall im Universum vorkommen. Was sie jedoch innerhalb einer einzelnen Welt bewirken, das hängt von vielen Faktoren ab. Die von den Menschen als humanoide Form betrachtete eigene Gestalt ist jedoch etwas, das sich auf einigen Planeten sehr erfolgreich entwickelt hat. Wir Taelons vermuten, dass es so etwas wie einen universellen genetischer Generalschlüssel gibt, der dafür verantwortlich ist...”

„Ein Generalschlüssel?” wiederholte Liam verblüfft.

„Die Entwicklung humanoider Wesen wird durch eine bestimmte Gruppe von Erbfaktoren kontrolliert”, erklärte Da'an. „Ihre Wissenschaftler nennen sie homöotische Gene. Sie sind für die Herausbildung komplexer körperbaulicher Merkmale und Organe verantwortlich und sorgen dafür, dass zum Beispiel eine Hand immer eine Hand wird und an der richtigen Stelle wächst. Die Veränderung bestimmter Merkmale wie Gesichtsform oder Hautfarbe wird dagegen durch den Einfluss äußerer Bedingungen hervorgerufen. Es ist gut möglich, dass bei bestimmten menschenartigen Spezies die genetische Grundausstattung identisch ist. Vielleicht gilt das sogar für das gesamte Universum.”

„Spekulativ betrachtet.”

„Das ist richtig”, bestätigte der Taelon. „Auf der Erde wurden im gesamten Tierreich und beim Menschen die gleichen, kurzen DNA-Sequenzen entdeckt, die für die genetische Steuerung der Embryonalentwicklung verantwortlich sind. Lediglich die Anzahl der homöotischen Gene variiert. Somit stammen sämtliche Lebewesen von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Ich bin kein Molekularbiologe, aber möglicherweise handelte es sich bei der Erbsubstanz jenes Urwesens um eine einfache homöotische DNA-Sequenz, und theoretisch könnte sie im ganzen Universum verbreitet sein.”

Nachdenklich griff Liam nach einer kleinen bronzenen Figur. „Das würde bedeuten, dass wir uns viel ähnlicher sind”, murmelte er.

„Im weitesten Sinn - ja.” Da'an empfand es als wohltuend, nach langer Zeit wieder einmal ein Gespräch mit seinem Beschützer führen zu können, ohne dass es sofort zum Streit zwischen ihnen kam. „Vielleicht können wir dieses interessante Thema später noch einmal aufgreifen”, bot er an und aktivierte die Datalogs, eins nach dem anderen. Obwohl sich Liam auf die jeweiligen Datenströme konzentrierte und aufmerksam Ma'els Worten lauschte, konnte er mit den gewonnenen Informationen nicht viel anfangen. Es handelte sich offensichtlich um ausführliche Berichte, die der Taelon während seines Aufenthaltes auf der Erde angefertigt hatte. Auch Da'an wirkte alles andere als zufrieden. „Ma'el hat zwar alles chronologisch aufgezeichnet, aber völlig wahllos angeordnet. Beobachtungen, Analysen, Experimente - es gibt keinerlei Ordnung.”

„Vielleicht steckt dahinter eine Absicht”, überlegte Liam. „So wollte er sicherstellen, dass seinen Berichten volle Aufmerksamkeit gewidmet wird. - Kommen Sie, Da'an, wir müssen weitersuchen.” Als der Taelon nicht reagierte, sondern nach einem weiteren Logbuch griff, zog er seine Jacke aus und verknotete die Ärmel. „Bei diesen Räumen scheint es sich nur um ein Archiv zu handeln. Das hilft uns im Moment aber nicht weiter. Wir werden Ma'els Aufzeichnungen einfach mitnehmen...” Er unterbrach sich, als im Boden eine stetig ansteigende Vibration zu spüren war, die fast augenblicklich in die heftige Erschütterung überging und beide aus dem Gleichgewicht brachte. „Was war das, Da'an?” fragte er erschrocken.

Der Taelon sah ihn ebenfalls überrascht an, hielt sich aber mit einer Erklärung nicht auf, sondern verließ fast augenblicklich den Raum.

Heftige Fluktuationen ließen das virtuelle Glas, das den Bereich der unteren Ebene vom Weltraum trennte, erzittern. Zeitweise verzerrte es sich dermaßen, dass es aussah, als würden sich zwei verschiedene Dimensionen überlagern. „Anscheinend gibt es eines Verbindung zwischen dem virtuellen Glas und dem Kraftfeld”, überlegte Da'an. Er wirkte jetzt sehr besorgt. „Leider weiß ich zu wenig über die Auswirkungen eines tachyonischen Feldes. Aber es hat den Anschein, dass die beginnende Deaktivierung des Schutzschirmes auch die Funktion des virtuellen Glases beeinträchtigt. - Liam, wir haben keine andere Wahl, als umgehend die Energie der Station umzuleiten.”

Diesmal hatte seine Beschützer keine Einwände. „Dann werde ich inzwischen Ma'els Aufzeichnungen einsammeln”, schlug er vor. Doch Da'an hielt das für keine gute Idee. „Wenn das virtuelle Glas kollabiert, verschließen sich automatisch alle Räume. Ich kann Sie dann vielleicht nicht mehr befreien. Am sichersten sind wir immer noch im Labor aufgehoben. - Kommen Sie, Liam!”

 
* * *
 

Obwohl die Aussichten, Go'rik auf Anhieb zu finden, eher schlecht standen, war Ke'rak ganz zuversichtlich. Niemand kannte sich mit den Shuttles so gut aus wie er. Er wusste, welche Technik anfällig war und mit welchen Schwierigkeiten Go'rik unter Umständen zu kämpfen hatte. So war er auch davon überzeugt, dass nur ein Defekt für das Ausbleiben ihres Anführers in Frage kam. Die Kommunikationseinheit war eines der Geräte, die sehr häufig ausfielen. Nun galt es herauszufinden, welchen Weg er genommen hatte. Es gab zwar eine Flugüberwachung, die sich in dem alten Frachter befand, aber ihre Reichweite war begrenzt. Ke'rak hatte sie einmal ausgebaut, in der Hoffnung, dass sie in der Kolonie effektiver funktionierte. Aber dort gab es zu große Störfelder, und all seine Bemühungen, das Gerät ausreichend abzuschirmen, waren ergebnislos verlaufen. Obwohl sie ständig mit solchen Fehlschlägen konfrontiert wurden, hatte er es als persönliches Versagen betrachtet und eine ganze Weile gebraucht, sein angeknacktes Selbstbewusstein wieder aufzurichten. Es war auch deshalb so enttäuschend für ihn gewesen, weil sich sein Plan als undurchführbar erwies, nämlich sämtliche technische Geräte des Frachters, der ansonsten keinen Nutzen mehr für sie besaß und zudem viel zu weit entfernt am Rande des großen Kraters lag, in die Kolonie umzulagern, um sie dort zum Einsatz zu bringen. Damit hätten sie sich die ständigen Flüge erspart, was nicht nur einer vorzeitigen Ermüdung des ohnehin immer knapper werdenden Materials vorgebeugt hätte. Ke'rak dachte dabei mehr an Ra'nun, der sich immer viel zu lange in dem Frachter aufhielt. Ihm graute es davor, dass eines Tages alle drei noch zur Verfügung stehenden Shuttles auf einen Schlag ausfielen.

Neben der Überwachungseinheit befand sich ein weiteres sehr wichtiges Gerät in dem Frachter. Es war mit dem Flugschreiber der Shuttles verbunden und zeichnete ihre Flugbewegungen auf. Ke'rak entschied sich jedoch nach kurzer Überlegung gegen einen Abstecher zum Krater. Er wollte die ihm noch zur Verfügung stehende Zeit bis zum Einbruch der Nacht dazu nutzen, nach Go'rik Ausschau zu halten und vertraute seinen Fähigkeiten. Niemand anders konnte defekte Shuttle so schnell aufspüren wie er. Wenn ihn die anderen verblüfft fragten, wie er denn dies anstelle, ohne genauere Informationen und mit nur einer vagen Himmelsrichtung, dann pflegte er mit einem Schmunzeln zu sagen: „Ich kann sie riechen.” Obwohl es absurd klang, lag doch eine gewisse Wahrheit darin. Durch die besondere Zusammensetzung der Atmosphäre verflüchtigten sich die Rückstände des Shuttleantriebes extrem langsam. Sie bildeten praktisch eine unsichtbare Spur. Aber nur Ke'rak war es möglich, sie aufzuspüren, obwohl alle anderen ebenfalls über einen ausgeprägten Geruchssinn verfügten. Diesmal musste er jedoch nicht auf seine Fähigkeiten zurückgreifen. Als er die einzige Passage, die unmittelbar zu den Schluchten führte, ansteuerte, entdeckte er sehr rasch Go'riks Gefährt am Rande des Plateaus. Er überflog einige Male ein weiträumiges Gebiet, musste dann jedoch seine Suche abbrechen, da es bereits dunkel wurde. Nachdem er das Shuttle untersuchte hatte, nahm er Verbindung zur Kolonie auf. „Gib mir Astral”, befahl er dem Jaridian, der an diesem Tag zur Kommunikationsüberwachung eingesetzt worden war.

Kurze Zeit später erschien die Ärztin auf dem kleinen Monitor. Obwohl sie sehr aufgeregt wirkte, widerstand sie der Versuchung, ihn mit ihren Fragen zu überfallen. Äußerst diszipliniert forderte sie ihn auf, zu berichten.

„Ich habe das Shuttle gefunden. Es befindet sich in der Nähe der Großen Tiefen auf dem Plateau. Wie ich schon vermutet habe... es gab einen technischen Defekt. Die Steuerung ist ausgefallen. Allerdings...” Ke'rak brach ab.

„Allerdings was?” hakte Astral beunruhigt nach.

„Die Kommunikationseinheit ist in Ordnung. Go'rik hätte sich also mit uns in Verbindung setzen können.” Sekundenlang blieb es still zwischen ihnen. Dem Techniker wurde plötzlich bewusst, dass er auf eine Entscheidung ihrerseits wartete. Er war kein Führender, aber sie ebenso wenig, und eigentlich hätte sein Bericht als erstes dem Stellvertreter Go'riks gelten müssen. Wenn sie nun ähnliche Schlussfolgerungen zog... Die einzige Möglichkeit, sich aus dieser verfänglichen Situation zu befreien, bestand darin, dem Gespräch eine unoffizielle Note zu geben. Während er darüber nachsann, wie er dies am besten bewerkstelligen konnte, sagte Astral: „Ra'nun hat Tor'mec zu sich befohlen und ihn über unsere Aktion unterrichtet. Wir haben von beiden die ausdrückliche Erlaubnis, fortzufahren.”

Unwillkürlich atmete Ke'rak auf. Gleichzeitig bestürzte es ihn, dass sein Unbehagen so ersichtlich gewesen sein musste, dass sie sich dazu aufgefordert sah, ihm aus der Verlegenheit zu helfen. „Auch wenn sich Go'rik nicht gemeldet hat, so muss das nicht unbedingt etwas bedeuten”, sagte er.

Astral nickte bedächtig. „Das ist richtig. Vielleicht ist er auf den Taelon gestoßen, so dass keine Zeit blieb, um noch eine Nachricht abzusetzen.” Sie überlegte kurz. „Wenn sie sich tatsächlich in den Schluchten befinden, hat es wenig Sinn, weiter nach ihnen zu suchen... selbst mit den Suchscheinwerfer.”

„Aber es wäre einen Versuch wert”, wandte er ein.

„Wir müssen weiterdenken, Ke'rak. Du hast dir Go'riks Shuttle angesehen. Glaubst du, dass du es reparieren kannst?”

„Ja, schon...”

„Gut. Dann wird das jetzt deine Aufgabe sein. Bei Tageseinbruch setzt du dann deine Suche fort. Wir bleiben im ständigen Kontakt.”

„Wäre es denn nicht besser, wenn ich nach der Reparatur in die Kolonie zurückkehre, um Verstärkung zu holen?” Der Techniker sah sie verwirrt an. „Mit zwei Shuttles sind doch unsere Chancen viel größer.”

„Bis jetzt ist Go'riks Verschwinden in der Kolonie noch nicht auffällig geworden. Das würde sich aber schlagartig ändern, wenn wir ein Suchteam zusammenstellen würden. Tor'mec hat Ra'nun davon überzeugt, dass dies für erhebliche Unruhe sorgen würde.”

„Dieser Zwischenfall kommt ihm wohl sehr gelegen”, konnte sich Ke'rak nicht verkneifen.

„Ich weiß.” Astral wirkte jetzt sehr bekümmert. „Mir gefällt auch nicht, wie sich die Dinge entwickeln. - Aber im Moment haben wir es noch in der Hand.” Sie sah ihn eindringlich an. „Es war gut, dass wir diejenigen waren, die die Suche aufgenommen haben. Tor'mec wird es nicht wagen, dich durch jemand anderen zu ersetzen. Dann wäre es nämlich ersichtlich, dass er es auf Go'riks Position abgesehen hat... Ke'rak, ich weiß, du wirst Go'rik finden und heil zur Kolonie zurückbringen.”

Das von ihr so offen demonstrierte Vertrauen ließ den Techniker ein Stückchen größer werden. „Ich werde mich sofort an die Reparatur des Shuttles begeben”, sagte er eifrig. „Und danach nehme ich die Suche auf.” Er hielt ihren Blick fest, bis ihr Antlitz auf dem Monitor verblasste und eine kurze Sequenz die Beendigung der Verbindung anzeigte.

 
* * *
 

Jemen war in einen unruhigen Schlaf gefallen, aus dem sie jäh erwachte. Es war dunkel um sie herum. Sofern man auf diesem Planeten überhaupt von Dunkelheit sprechen konnte. Muruwis Trabant strahlte eine derart starke Helligkeit aus, dass nur wenige Sterne am Firmament zu erkennen war. Selbst in den Graben drang genügend Licht, um Konturen erkennen zu können. Und das erste, das ihr auffiel, war der leere Platz, auf dem zuvor Zo'or gesessen hatte. Sofort kam ihr der Gedanke, dass er sich bereits auf dem Weg zur Kolonie gemacht hatte, und Ärger regte sich in ihr. Er hätte sie wenigstens darüber informieren können. Soviel durfte man sogar von diesem Taelon erwarten. Warum überhaupt hatte er es plötzlich so eilig? Und warum hatte er darauf bestanden, dass sie die Nacht abwartete, bevor sie ihren Rückweg antrat? Ach, zum Teufel mit ihm! Jemen hatte keine Lust, sich ihren Kopf zu zerbrechen. Antworten würde sie ohnehin nicht finden. Sie griff nach einem der übriggebliebenen Lebensretter und aß etwas von dem Fruchtfleisch. Das Zeug war gar nicht so übel. Zumindest schien es ihr nicht zu schaden. Ihr war nicht schlecht geworden, und es zeigten sich auch ansonsten keine nachteiligen Symptome. Allerdings wusste sie nicht, ob ihr Körper diese Art Nahrung verwerten konnte. Ja, sie wusste nicht einmal, ob die Frucht überhaupt Nährstoffe besaß.

Jemen lauschte sorgfältig in sich hinein und kam zu dem Ergebnis, dass sie sich trotz der besonderen Umstände sehr gut fühlte. Sie war nicht mehr so erschöpft, und bis auf den Muskelkater in Beinen und Armen verspürte sie keine Beschwerden. Alles in allem konnte sie eigentlich recht zufrieden sein. Es hätte auch schlimmer kommen können. Bei diesem Gedanken musste sie allerdings lächeln. Jeder, der in eine Notlage geriet, versuchte wohl, sich mit diesem Satz Mut zuzusprechen. Es hätte auch schlimmer kommen können... Und wenn es schlimmer wurde?

Um zu verhindern, dass sie sich mit ihren Grübeleien selbst verrückt machte, begann Jemen damit, einen der Lebensretter auszuhöhlen. Sie hatte sich nämlich überlegt, dass es ganz sinnvoll wäre, wenn sie sich für ihren Rückweg Proviant anlegte. So war sie nicht darauf angewiesen, unterwegs nach den Früchten Ausschau zu halten. Während sie das Fruchtfleisch in schmale Streifen schnitt, wanderten ihre Gedanken wieder zu Zo'or. Sie konnte seinen plötzlichen Aufbruch noch immer nicht verstehen. Obwohl ... Betrachtete man das Ganze aus seiner Perspektive, ergab sein Verhalten durchaus einen Sinn. Er benötige keine Ruhepausen. Warum also sollte er bis zum anderen Morgen warten, bevor er seinen Weg fortsetzte? Und vermutlich hatte er sich nicht veranlasst gefühlt, sie über sein Vorgehen zu informieren, weil sie selbst ja den Vorschlag gemacht hatte. Aber warum hatte er dann darauf bestanden, dass sie die Nacht abwartete? Er hatte sich doch wohl kaum um sie gesorgt. Nein, nicht Zo'or. Nicht dieser Taelon.

Und wenn ihm nun etwas zugestoßen war?

„Verdammt!” Jemen legte die ausgehöhlte Frucht beiseite und sprang auf. Irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht, und es wurde Zeit, dass sie sich Gewissheit verschaffte. Rasch durchquerte sie den Graben und kletterte die Felsen hinauf. Im nächsten Augenblick erschrak sie so heftig, dass sie beinahe ihren Halt verloren hätte. Zo'or stand nur wenige Meter von ihr entfernt am Rande der Schlucht und starrte in die Tiefe. Er hatte sich weder heimlich aus dem Staube gemacht, noch war ihm etwas zugestoßen. Wahrscheinlich wollte er sich nur ein wenig ablenken und die Wartezeit bis zum nächsten Morgen verkürzen. Langsam ließ sich Jemen auf einen Felsbrocken nieder und atmete tief durch. Sie war erleichtert, weit mehr, als sie sich gegenüber eingestehen wollte. Sie wusste, es war ein irrelevantes Gefühl, denn dieser Taelon war weder ihr Freund noch ein verlässlicher Begleiter. Aber in dieser Einöde war er das einzige Lebewesen weit und breit - das einzige Wesen, das ihr das Gefühl vermittelte, nicht vollkommen allein zu sein.

Nach einer Weile sah sie auf und beobachtete den dunklen Graben. Tief in sich fühlte sie das wachsende Unbehagen, dass dem nächsten Tag galt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, wenn sie sich trennten. Das hier war bereits die zweite Planetennacht. Unter Umständen würde sie für den Rückweg sogar länger brauchen, da sie nicht den ursprünglichen Pfad zurückverfolgen konnte. Zo'or mochte ein alles andere als angenehmer Weggefährte sein, aber seine unmögliche Art hatte dafür gesorgt, dass sie sich immer wieder aufraffte, selbst wenn sie mit ihren Kräften am Ende war. Würde sie die notwendige Disziplin aufbringen und sich zum Weitergehen zwingen können, wenn sie erschöpft war und ihr Körper schmerzte? Und wenn sie auf unüberwindbare Hindernisse stieß? Das gesamte Plateau war von Spalten durchzogen, mal verzweigten sie sich, mal endeten sie in einer Sackgasse. Allein hier den richtigen Weg zu finden, würde sehr schwierig sein. Und dann wusste sie noch nicht einmal, ob es einen passierbaren Übergang zu dem Sandsteingebirge gab. Ihr Plan mochte von der Überlegung her logisch sein ... sich aufzuteilen, verdoppelte ihre Chance. Aber vielleicht war sie gerade dabei, einen wirklichen Fehler zu begehen, weil sie ihre Situation überhaupt nicht korrekt einschätzen konnte.

Jemen hob ein wenig den Kopf, so dass sie über den Rand der Felsen sehen konnte. Sie war unschlüssig geworden, und das gefiel ihr überhaupt nicht. Zo'or, den sie jetzt wieder im Blickfeld hatte, stand noch immer an der gleichen Stelle. Von ihm konnte sie keine Unterstützung erwarten. Er würde ihr vermutlich weder von ihrem Vorhaben abraten, noch sie darin bestärken und allenfalls nur vorschlagen, mit ihm gemeinsam nach der Kolonie zu suchen. Das Beste war wohl, wenn sie sich wieder hinlegte und ausruhte. Entschlossen richtete sie sich auf. Ein paar Stunden Schlaf vollbrachten vielleicht das Wunder und ließen sie die Dinge wieder etwas optimistischer sehen. Sie warf einen letzten Blick auf den Taelon und wollte dann in den Graben hinabklettern. Doch dann stutzte sie. Etwas an Zo'ors Haltung wirkte seltsam, so seltsam, dass es sie veranlasste, auf das Plateau zu steigen und ihn genauer zu betrachten. Er stand noch immer am Rand der Schlucht, aber erst jetzt wurde ihr bewusst, wie nah er tatsächlich dem Abgrund war ... so als wollte er...

Jemen fühlte, wie sich ihr Herzschlag von einer Sekunde auf die andere beschleunigte. Mit raschen Schritten näherte sie sich dem Außerirdischen. „Wenn es das ist, wonach es aussieht, dann vergessen Sie es lieber sofort.”

Zo'or drehte sich überrascht um. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Wonach sieht es denn aus?”

„Nun, Sie werden wohl kaum die Aussicht genießen”, sagte sie und starrte ihn finster an. Bei allem, was sich dieser Taelon bisher geleistet hatte, war dies der Gipfel der Unverschämtheit, und sie war nicht länger bereit, sein Verhalten zu tolerieren.

Sein Blick wirkte noch immer verständnislos, aber dann schien er mit einem Male zu begreifen. „Sie vermuten, dass ich mich in den Abgrund stürzen wollte.” Seine Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln. „Welch absurder Gedanke!”

„Absurd, ja - denn Ihr Plan würde dabei nicht aufgehen.”

„Mein Plan?” echote er verblüfft.

„Dass ich Sie rette, um sich so meiner Loyalität zu vergewissern.”

„Aus welchem Grund...” Zo'or unterbrach sich und sah sie lange an. „Ich glaube, ich verstehe so langsam. Sie nehmen tatsächlich an, dass es meine Absicht war, mich von Ihnen retten zu lassen, um in Ihnen ein Gefühl von Verantwortung entstehen zu lassen. Und vermutlich denken Sie, dass ich das alles nur inszenieren wollte, um Sie daran zu hindern, zum Portal zurückzukehren, statt mich wie bisher zur Kolonie zu begleiten.” Er schüttelte leicht den Kopf - eine Geste, die sowohl Unverständnis wie Ratlosigkeit zum Ausdruck brachte. „Sie glauben mir noch immer nicht, dass ich mit Di'mags Tod nichts zutun habe. Vermutlich halten Sie mich für einen rücksichtslosen Außerirdischen, der nichts unversucht lässt, seine eigene Situation zu verbessern.”

Für einen kurzen Augenblick geriet Jemens Selbstsicherheit ins Wanken. Aber sie hatte sich schnell wieder gefangen. „Was ich von Ihnen halte, spielt hier keine Rolle”, sagte sie unfreundlich. „Aber ich lasse mich von Ihnen nicht für dumm verkaufen. Wenn es etwas gibt, dass Ihnen ... missfällt, dann sollten Sie es mir sagen, anstatt mir mit diesen blöden Spielchen zu kommen.” Sie deutete auf den Abgrund. „Ich weiß nämlich, dass Ihnen nichts passieren kann, sollten Sie tatsächlich abstürzen.”

Zo'or war eigentlich nicht in der richtigen Stimmung, sich mit ihr auseinander zusetzen. Er hatte in den vergangenen Stunden über ihren Vorschlag, sich zu trennen, um so ihre Chancen zu erhöhen, sehr gründlich nachgedacht und war einer befriedigenden Lösung um keinen Schritt nähergekommen. Das machte ihn ungehalten. Noch mehr erboste ihn aber ihre Unterstellung, mit einem vorgetäuschten Unfall ihre Hilfsbereitschaft erzwingen zu wollen. Er fühlte sich in gewisser Weise von ihr durchschaut. Zwar hatte er derartiges nicht geplant, aber auch nur, weil er auf diese Idee noch gar nicht gekommen war. „Und wie kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?” fragte er gegen sein Willen.

Sie lächelte spöttisch. „Als wir in der Felswand über den schmalen Sims gingen, befahlen Sie mir, dicht hinter Ihnen zu bleiben. Sie wären ein derartiges Risiko aber niemals eingegangen, wenn tatsächlich für Sie eine Gefahr bestanden hätte.”

Jetzt lächelte Zo'or ebenfalls - anerkennend. „Es ist wirklich bedauerlich, dass Sie Ihre Funktion als Beschützerin gekündigt haben. So langsam entwickeln Sie ein Gespür für diese Tätigkeit.”

Jemens Gesichtsausdruck verfinsterte sich erneut. Sie sah in seinen Worten nur einen Versuch, von seinem missglückten Plan abzulenken.

Der Taelon wandte sich dem Abgrund zu und warf einen Blick in die Tiefe. „Absurd”, sagte er mehr zu sich. „Allerdings ... Gibt es bei den Menschen nicht ein Sprichwort? Wenn man jemanden das Leben rettet, ist man anschließend für ihn verantwortlich. So heißt es doch, oder?”

„Das ist richtig. Aber es ist eben nur ein Sprichwort.”

„Heißt das, dass Sie sich nicht daran halten würden?” fragte er verwundert.

Jemen starrte ihn an. Entweder war er noch durchtriebener als es bisher den Anschein hatte oder dies waren die ersten Anzeichen dafür, dass er langsam, aber sicher dem Wahn verfiel. „Einen Teufel würde ich tun, mich für Sie verantwortlich zu fühlen!” Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht fassen. „Was fällt Ihnen noch alles ein, um sich meiner Hilfe zu versichern?” Als er keine Antwort gab, fuhr sie fort: „Was hat es mit der Kolonie auf sich, dass Sie sich nicht allein dorthin trauen? Und kommen Sie mir jetzt nicht mit irgendwelchen Ausflüchten.”

Der Taelon schwieg noch immer, aber seine Hände, die sich auf und abbewegten, verrieten seine Unruhe. Nach einer Weile - Jemen rechnete nicht mehr mit einer Antwort und war nahe daran, zurück in den Graben zu klettern - sagte er: „Ich befürchte, dass ich in der Kolonie nicht willkommen bin.”

„Und wie kommen Sie darauf?”

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist so etwas wie eine Vorahnung.”

Jemen sann darüber nach, welche Befürchtungen er hegen mochte. „Sind Ihre Brüder vielleicht zu den Jaridian übergelaufen?”

Zo'or sah sie an, als habe sie sich gerade einen Scherz mit ihm erlaubt.

„Wäre das so undenkbar?”

„Es ist nicht nur undenkbar, sondern völlig ausgeschlossen”, erklärte er nachdrücklich. „Und wir brauchen darüber auch nicht diskutieren.”

„Was ist es denn dann?” Jemen ließ sich auf einen Felsbrocken am Rande des Grabens nieder und sah aufmerksam zu ihm hinüber, als er es ihr gleichtat. Zo'or wich ihrem Blick aus. Es war von ihm nicht eingeplant gewesen, sie über das, was er wusste, in Kenntnis zu setzen. Nun, seine Informationen waren mehr als dürftig, aber doch reichten sie aus, seine Spezies in einem schlechten Licht zu präsentieren. Er wusste sehr wohl, dass er - sollte es ihnen tatsächlich gelingen, diesen Planeten zu verlassen und Jemen Tyler über das berichten, was ihr zu Ohren gekommen war - von der Synode zur Rechenschaft gezogen werden würde. Er konnte kaum darauf hoffen, dass sie sich ihm gegenüber nachsichtig zeigten. Dafür besaß er zu viele Gegner, die nur auf eine solche Gelegenheit warteten. Seine weitere Vorgehensweise musste wohlüberlegt sein und ihm sowohl den gewünschten Nutzen bringen wie auch sein Risiko gering halten. Wie konnte man einen Menschen davon abhalten, unerwünschte Schlussfolgerungen zu ziehen? Indem man seine Sichtweise beeinflusste. Überzeugt, das richtige Mittel gefunden zu haben, wandte sich Zo'or der jungen Frau zu.

„Die Ereignisse, die hier auf Muruwi ihren Anfang nahmen, fanden lange vor meiner Zeit statt”, begann er.

Seine Stimme hatte einen für Jemen ungewohnten sanften Ton angenommen, und sie fragte sich, ob er sie auf diese Weise für sich einnehmen wollte. Der Gedanke daran war ihr irgendwie unangenehm. Ihr wurde plötzlich bewusst, wie schroff und abweisend sie sich ihm gegenüber verhalten hatte und damit im Grunde seine befremdliche Art imitierte, die sie insgeheim so missbilligt hatte. Es war leicht, die Fehler immer bei dem anderen zu suchen. Das bin nicht ich, dachte sie bestürzt. Ich habe mich verändert ... der Planet hat mich verändert. Beschämt senkte sie den Kopf. Wie hatte das nur geschehen können? Wann hatte sie angefangen, so selbstgerecht zu urteilen?

Zo'or rutschte geräuschvoll auf seinem Felsen hin und her, denn er war sich nicht sicher, ob er noch ihre volle Aufmerksamkeit besaß. Die menschliche Körpersprache war ihm nicht vertraut genug, um sie in jede Einzelheit begreifen zu können. Welch seltsame, ja bedauernswerte Wesen diese Menschen doch waren. Nur jemanden, der die komplexen Signale von Mimik und Haltung zu erkennen vermochte, blieben lästige Rückfragen erspart. Wie einfach dagegen war das Gemeinwesen. Sekundenlang richtete er seinen Blick nach innen und lauschte dem kaum wahrzunehmenden Wispern... Seine mentalen Fühler streckten sich, suchend... Zu weit entfernt ... Kein Trost ... Allein...

„Welche Ereignisse?” Jemen räusperte sich und brachte sich damit in Erinnerung.

„Ja...” Zo'ors Gestalt straffte sich, während ein kaum wahrzunehmendes blaues Leuchten über sein Antlitz huschte. „Ich will Ihnen von diesen Ereignissen berichten. Und vielleicht werden Sie dann verstehen. - Muruwi war einst ein Planet der Wissenschaft und der Künste”, begann er nach einer kurzen Pause. „Ein Ort blühenden Lebens und Schönheit, wie es seinesgleichen in der gesamten Galaxie kein zweites Mal gab. Angesicht dieser zerstörten Umgebung vermag es jedoch schwer fallen, sich so etwas vorzustellen.” Er deutete in einer weit ausholenden Bewegung auf die Schluchten.

Jemen konnte sich seiner Auffassung nicht ganz anschließen. Die Canyons waren kaum durch einen Angriff der Jaridian entstanden. Aber vermutlich symbolisierten sie für ihn die Zerstörung schlechthin.

„Warum wurde ausgerechnet Muruwi angegriffen?” fragte sie. „Gab es hier irgendwelche militärische Einrichtungen?”

„Die Jaridian sind Schlächter”, antwortete Zo'or und fiel ungewollt wieder in seinen überheblichen Tonfall zurück. „Sie machen keinen Unterschied zwischen friedlichen Kolonien oder militärischen Einrichtungen.”

„Aber das ergibt keinen Sinn, Zo'or. Niemand vergeudet Munition, um einen Planeten einzunehmen, wenn er ihm keinen Nutzen bringt. Es sei denn, er brächte ihm einen strategischen Vorteil.”

„Wer sagt Ihnen, dass die Jaridian logisch vorgehen?” fuhr er sie an. „Muruwi befindet sich an der äußeren Peripherie unseres früheren Gebietes. Um sich einen strategischen Vorteil zu verschaffen, hätten sie ihn nicht dem Erdboden gleichmachen müssen. Es hätte vollkommen genügt, die wenigen Taelons, die hier lebten, gefangen zu nehmen. Aber die Jaridian kennen nur eine unstillbare Mordlust. Sie jagen uns, um uns zu töten ... und sie werden erst ruhen, wenn sie ihr grausames Ziel erreicht haben.”

Jemen schwieg unangenehm berührt. Der Zorn in Zo'or verflüchtigte sich wieder, und sein Gesicht nahm wieder einen sanfteren Ausdruck an. „Verzeihen Sie mir, Tyler. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber wenn Sie wie ich tagtäglich mit ansehen müssten, wie Ihr eigenes Volk niedergemetzelt wird, dann würden Sie meine Verzweiflung und meinen Hass verstehen. - Doch nun will ich Ihnen weiter berichten. Der Angriff auf Muruwi wurde von meinem Volk nicht einfach hingenommen, und es entbrannte ein heftiger Kampf. Es ging den Taelons nicht um Vergeltung, vielmehr war es ihr Bestreben, die wenigen Überlebenden der Kolonie zu retten. Noch wurden ihre Hilferufe wahrgenommen. Sie erschütterten das gesamte Gemeinwesen.”

„Was geschah dann?” fragte Jemen. Sie konnte keine Zusammenhänge erkennen, die Aufschluss über Zo'ors gegenwärtige Befürchtungen geben konnten.

„Die Jaridian hatten ihren Feldzug gegen uns genauestens geplant, während mein Volk relativ unvorbereitet war. Tatsächlich waren die bisherigen Konfrontationen als allgemeine Grenzstreitigkeiten abgetan worden. Niemand rechnete ernsthaft damit, dass es irgendwann in einen Krieg ausarten könnte. Diese Sorglosigkeit sollte sich bitter rächen. Nicht nur, dass wir Muruwi gänzlich aufgeben mussten, wir waren sogar gezwungen, uns zurückzuziehen und verloren dadurch einen beträchtlichen Teil unseres Gebietes, das im späteren Verlauf der Kampfhandlungen zu einer Art neutralen Zone wurde.”

„Und was wurde aus den Taelons, die sich noch auf Muruwi befanden?”

„Sie waren zu einem qualvollen Tod verurteilt. Ohne die Aussicht, jemals wieder zu uns zurückkehren zu können, konnten sie auf Dauer nicht überleben.” Wie beim überwiegenden Teil der mit Muruwi verbundenen Ereignisse wusste Zo'or nicht wirklich, was passiert war. Es war seine eigene Interpretation der wenigen Informationen, die er sich mühsam zusammengesucht hatte. Aber sie erschienen ihm anschaulich genug, um dieser Menschenfrau eine Vorstellung der Tragödie vermitteln zu können.

„Zo'or ... ich verstehe noch immer nicht ganz, was das mit uns zutun hat. Die einzigen Überlebenden des Massakers sind letztendlich doch gestorben. Wer aber befindet sich dann jetzt in der Kolonie?”

„Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende, Tyler. Wie ich schon anfangs bemerkte: diese Ereignisse fanden lange vor meiner Zeit statt. Im Verlauf des Krieges geriet Muruwi in Vergessenheit. Niemand war besonders erpicht darauf, die Erinnerung an diese Kolonie lebendig zu halten. Bis meine Brüder eines Tages ein Signal auffingen. Es stammte von einem automatischen Sender, der aus unerklärlichen Gründen aktiviert worden war. Sie müssen wissen, bevor Muruwi von den Jaridians zerstört wurde, beherbergte es den größten wissenschaftlichen Datenbestand meiner Spezies. Der Verlust war enorm, und nun gab es plötzlich Hoffnung, dass zumindest ein Teil der Forschungsergebnisse gerettet worden war - von den Taelons, die seinerzeit das Massaker überlebt hatten. Man kann nur erahnen, unter welch großen Anstrengungen sie die Trümmer der Gebäude nach intakten Datenspeichern durchsuchten, getrieben allein von der Hoffnung, dass eines Tages doch noch die Rettung nahte. Wahrscheinlich haben sie in einer der vielen Höhlen Schutz gesucht, die jedoch verhinderten, dass uns das Funksignal erreichte. Unsere Geologen vermuteten, dass ein Erdbeben diese Höhle freilegte. Muruwi besitzt zwei große Kontinentalplatten, die aneinander reiben. Die Canyons sind gewissermaßen Spannungsrisse in der Planetenoberfläche. Es gibt allerdings keinen Grund zur Beunruhigung. Erdbeben treten in diesem Gebiet eher selten auf. Die Taelons, die hier lebten, waren mit ihrer Umgebung vertraut. Sie hätten niemals einer der Höhlen aufgesucht, wenn irgendeine Gefahr bestanden hätte. - Zwischen dem Massaker von Muruwi und dem Auffangen des Signals war eine lange Zeit vergangen. Die Frontlinie hatte sich verlagert, und die Kämpfe fanden an einem weit entfernten Punkt der Galaxie statt. Und so schickten meine Brüder ein Rettungsteam aus, die Datenspeicher zu bergen.”

„So langsam verstehe ich”, sagte Jemen, als er innehielt. „Als das Rettungsteam auf Muruwi eintraf, warteten bereits die Jaridian auf sie. Eine Falle?”

„Möglicherweise. Ich kann lediglich Vermutungen anstellen, da mir Einzelheiten zu den Ereignissen fehlen. Ob Falle oder nicht, das Bergungsteam saß auf jeden Fall auf Muruwi fest.” Zo'or hatte den Punkt seiner Erzählung erreicht, der nun größte Aufmerksamkeit verlangte, wollte er sicherstellen, dass Tyler keine falsche Schlüsse zog. Aber mit einem Male geriet er ins Wanken. War dies wirklich die richtige Entscheidung? Irgendjemand hatte Muruwi und alles, was damit verbunden war, zu einem Tabu erklärt und sämtliche Aufzeichnungen vernichtet. Wenn er diese Tatsache ignorierte, nahm er sich vielleicht die Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Auch wenn das bedeutete, dass er Tyler gegenüber aufrichtig sein musste.

„Es existieren keine Aufzeichnungen über einen Rettungsversuch”, sagte er schließlich, darauf vertrauend, dass ihm, sollte er sich bezüglich Tylers Loyalität irren, ein Ausweg einfiel.

„Sie meinen, Ihr Volk hat bewusst das Scheitern der Rettungsmission verheimlicht? Weil es ihnen zum zweiten Mal nicht möglich war, einzugreifen. Sie wären zurecht kritisiert worden, denn offensichtlich hatten sie das Risiko unterschätzt.”

Zo'or nickte. „Wenn es auf Muruwi noch Überlebende gibt...”

„... dann werden diese nicht gut auf Sie zu sprechen sein”, vollendete sie seinen Satz. „Denn Sie stehen stellvertretend für Ihr Volk, dass seine Artgenossen schmählich im Stich ließ.”

Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Jemen empfand plötzlich so etwas wie Mitleid. Langsam erhob sie sich und sah ihn nachdenklich an. „Ich kann Sie nicht zwingen, die Kolonie aufzusuchen, aber wenn ich mich irre ... wenn auch für uns kein Rettungsteam unterwegs ist ... was dann?”

„Sie sind der Schlüssel, Tyler”, sagte Zo'or eifrig. „Mit Ihrer Hilfe kann ich dem ganzen Schrecken ein Ende setzen. Wenn Sie mir nur jetzt nicht Ihre Unterstützung versagen. Wir beide haben es in der Hand, meine Brüder nach Hause zu führen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.”

Tief seufzte Jemen auf. „Ich soll Sie also zur Kolonie begleiten.”

„Was ich von Ihnen verlange, ist viel”, sagte er ernst. „Ich weiß, Tyler. Und ebenso weiß ich, dass ich von allen Taelons am wenigsten das Recht habe, an Ihr Mitgefühl zu appellieren. Ich habe mich Ihnen gegenüber arrogant und anmaßend verhalten, und ich habe Sie belogen. Es gibt nichts, das für mich sprechen würde. Wenn Sie jetzt ablehnen, kann ich das durchaus verstehen, aber während unseres bisherigen Zusammenseins habe ich eines erkannt: Sie sind ein fähiger Companion-Beschützer, loyal und aufrichtig. Ihnen kann das Schicksal meiner Artgenossen nicht gleichgültig sein.”

Jemen sah ihn lange an. So misstrauisch und verschlossen sie sich gegenüber anderen Menschen verhielt, so war es bei den Taelons beinahe umgekehrt. Und auch jetzt merkte sie, dass sie Zo'or Glauben schenken wollte, aus einem unerklärbaren Bedürfnis heraus. „Geben Sie mir etwas Zeit”, sagte sie schließlich. „Ich muss darüber erst nachdenken.”

„Dann lass ich Sie jetzt am besten allein”, erwiderte der Taelon. Er wandte sich ab und wollte gerade in den Graben hinabklettern, als ihm ein schwacher Lichtpunkt am Ende des Plateaus auffiel, der sich ihnen rasch näherte. Alarmiert sprang er sofort auf Jemen zu, packte sie am Arm und zerrte sie hinter sich her. „Rasch in den Graben!” schrie er.

„Was..”

Hastig deutete er in Richtung des Sandsteingebirges. „Ein Shuttle!” Er gab ihr keine Gelegenheit, nach dem Licht Ausschau zu halten, sondern zog sie einfach weiter. So schnell es ging, kletterten beide hinab in die dunkle Spalte und verbargen sich in den tiefen Schatten.

 

Ende von Kapitel 18

 

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