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  „Die andere Seite” von Sythazen/Bianca Nunberger   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Entstehungsdatum: Samstag, 8. Februar 2003
Alle hier vorkommenden Personen gehören den jeweiligen Eigentümern. Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Was vor achtzehn Jahren geschah ...
Zeitpunkt:  zweite Staffel - einige Monate nach 1x22 The Joining
Charaktere:  Bob Morovsky, Commander William Boone
 
Anmerkung der Autorin:  Über Feedback jeglicher Art würde ich mich sehr freuen. Auch gegen Kritik habe ich nichts, solange sie konstruktiv ist. Lest bitte auch meine anderen Stories, wenn euch diese hier gefällt.
 

 

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Kapitel 18

 

Entsetzt starrte Bob Morovsky die Ärztin ob ihrer Diagnose über den Zustand seines langjährigen Freundes an. Er fasste es einfach nicht.
Er mochte einfach nicht wahrhaben, dass dieser all seine Erinnerungen und all sein Wissen einfach so verloren haben sollte, was etwas war, das ihn weitaus mehr erschreckte als jedwede andere Diagnose. Nun ja - fast jede andere, aber es war einfach unglaublich schockierend. Wie sollte er sich nun Will gegenüber verhalten? Was ihm sagen und vor allem wie? Wie sollte er seinen Freund erneut dem Schmerz des Verlustes über seine geliebte Ehefrau Kathy aussetzen? Wie konnte er so etwas tun? Auch wenn Will es damals nicht nach außen hin gezeigt hatte, so wäre er an dem Tod seiner Frau beinahe zerbrochen - besonders, als er dann auch noch erfahren musste, dass sein ehemaliger Freund und Militärdienstkollege den Anschlag auf seine Frau verübt hatte.

Das war mehr als ein Mensch einfach so würde ertragen können. Weit mehr, als Bob ausgehalten hätte, dessen war er sich sicher. Er hatte sich zwar schon vor über zwanzig Jahren von seiner Ehefrau getrennt, doch das war nicht geschehen, weil sie sich nicht mehr liebten. Nein, eher das genaue Gegenteil war der Fall gewesen - dass sie sich zu sehr geliebt hatten. Denn seine Frau hatte es einfach nicht mehr ertragen können, Nacht um Nacht wach in ihrem Bett zu liegen und auf einen möglichen Anruf zu warten, dass ihm etwas geschehen war. Erst zwei Jahre nach ihrer Trennung hatte er ein Einsehen gehabt und sich einen Bürojob geben lassen, hatte sich aus dem offenen Straßendienst abziehen lassen, eine Entziehungskur gemacht und sich dann wieder bei seiner Frau gemeldet. Doch zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät gewesen. Viel zu spät, denn sie hatte nicht auf ihn gewartet, sondern sich ein neues Leben mit einem anderen Mann aufgebaut. Einem, der zwar auch im Außendienst tätig war, doch nur um Stromzähler abzulesen und nicht, so wie er zuvor, um gemeingefährliche Kriminelle hinter Schloss und Riegel zu befördern. Sie hatte ihm klipp und klar gesagt, was sie von ihm die ganzen Jahre über gehalten hatte und ihn quasi vor die Türe gesetzt. Gut, es war nicht sein Haus gewesen, sondern das ihres neuen Ehegatten, aus welchem sie ihn stellvertretend für ihr früheres Leben hinausgeworfen hatte, doch schmerzte es deswegen nicht weniger. Er hätte deswegen erneut mit dem Trinken anfangen können, doch wollte er weder ihr diesen Triumph gönnen noch sich eine zusätzliche Niederlage antun und dann - ja dann hatte er William Boone kennen gelernt.

Achtzehn Jahre und .... Nein, fast schon neunzehn Jahre war es her, wenn man die drei Monate seines angeblichen Todes nicht mitrechnete, dass er in jener Nacht, nachdem seine Frau einige Stunden zuvor seine Träume von einem völligen Neuanfang mit ihr ein für alle mal mit ihrem Hinauswurf vernichtet hatte, halb blind vor Tränen mit seiner geladenen Waffe in der rechten Hand auf dem Brückengeländer gesessen hatte und nur noch auf das nächste größere Schiff wartete, das unter ihm die Flussbrücke passieren würde, so dass niemand durch den Schuss, mit dem er seinem so trost- und sinnlos gewordenen Leben ein Ende bereiten wollte, gestört werden würde.

Das nächste Schiff hatte sich bereits in eine für ihn annehmbare Nähe an den Brückendurchlass heranmanövriert, als ihm siedendheiß einfiel, was am spätestens nächsten Morgen wohl geschehen würde. Irgendwelche Menschen würden seine Leiche finden und die Polizei rufen. Seine Kollegen würden ihn zweifelsohne identifizieren und ... wegen den Umständen seines Todes an einen Mord oder gar eine Hinrichtung durch irgendeinen seiner in langen Dienstjahren erworbenen Feinde denken. Sie konnten schließlich nicht wissen, dass er, Bob Morovsky, der gerade einen Tag zuvor befördert worden war und seit einigen Monaten auch wieder abstinent lebte, durch das Verhalten seiner Frau in den Tod getrieben worden war. Nein, für seine Kollegen würde es nicht den geringsten Grund geben, an einem Verbrechen zu zweifeln, und ehe er seinen Plan also durchzog, musste er erst noch dafür sorgen, dass sie sich keine unnötige Arbeit mit seinem Dahinscheiden machen mussten. Schließlich hatte die Polizei, wie er aus eigener Erfahrung nur allzu gut wusste, immer mehr als genug zu tun, und da brauchte er ihr nicht noch mehr aufzuhalsen.

So fing er also an, mit, wie er erstaunt feststellte, absolut ruhigen Fingern im verwaschenen Licht der Brückenbeleuchtung mit einem fast nicht mehr lesbaren Kugelschreiber seinen Abschiedsbrief zu schreiben. Er war sich nicht ganz sicher, woher die plötzliche Feuchtigkeit auf dem zerknittertem Stück Papier stammte, von dem von oben auf ihn herunte tropfenden Wasser der Straßenlaterne, die irgendwo noch ein wenig Wasser vom vergangenem Regen gesammelt haben musste, oder von den Tränen, welche sein damals noch faltenloses Gesicht herab liefen. Immer weiter schrieb er, auf wie er nach einem flüchtigen, von Gleichgültigkeit geprägten Blick auf die Rückseite seines Abschiedsbriefes feststellen konnte, einem alten Einkaufszettel, auf welchem die drei Liter Milch, das Sandwichbrot, das extra große Glas Erdnussbutter und die zwei Packungen Cornflakes verzeichnet waren.

Dann endlich war er auch mit diesem Teil seines Lebens fertig. Er wollte das nun noch mehr zerknitterte Stück alten Rechenpapiers, das er zu seinem Abschiedsbrief umfunktioniert hatte, schon in seinen von Plastik umhüllten Ausweis stecken, wo es vom eiskalten Wasser des Flusses nicht berührt werden konnte, als ihm noch ein weiterer Punkt einfiel, den er auf gar keinen Fall vergessen durfte aufzuschreiben - seinen neuen Partner, den man ihm nach seiner Beförderung zugewiesen hatte. Dieser war ganz neu im Polizeidienst und hatte dennoch schon einen Posten, der dem seinigen gleichgestellt war. Bob war deswegen nicht traurig oder verbittert, dass ein Grünschnabel, der wohl einfach etwas länger als er die Schulbank gedrückt hatte, gleich zu Anfang im Polizeidienst eine Stellung erhielt, für welche er selbst schon damals fast ein Jahrzehnt lang hart hatte arbeiten müssen, denn auch dieser hatte etwas geleistet. Sicher nicht auf der Straße, sondern nur in der Theorie, aber in einer Zeit, in welcher mehr und mehr Computer einen Grossteil ihrer Arbeit erleichterten, womit die alten Hasen, zu denen er sich bereits zählte, nichts anzufangen wussten, da konnte etwas Frischblut nichts schaden. Schließlich konnten beide Seiten voneinander profitieren und lernen.

Dieser Neue hieß irgend etwas mit Boose oder Doone oder dergleichen. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sich mit der Akte des erst in einigen Tagen ankommenden Frischlings zu beschäftigen und ...
Nun, er hatte jetzt erst recht keine mehr. Sollte ein anderer sich um den Neuzugang kümmern und ihn unter seine Fittiche nehmen. Sicher, er hätte sich darauf gefreut, ihn einzuarbeiten und ihm das wirkliche Leben auf den Straßen zu zeigen und nicht nur - wie er stark vermutete - das bisher von diesem gekannte Büroleben hinter einem Schreibtisch und diesen neumodischen Computern, und auch nicht alle seine Kollegen würden, so musste er sich traurig eingestehen, den plötzlichen Aufstieg des Neuen so uneingeschränkt akzeptieren wie er, Bob Morovsky es tat, doch sollte dies nicht mehr seine Sorge sein. Seine Probleme endeten heute Nacht, und es stellte für ihn eine Erleichterung dar, dies wissen zu dürfen.

Also pfriemelte er den bereits in seinen Ausweispapieren steckenden Abschiedsbrief wieder aus der engen Plastikfolie hervor - was zugegebenermaßen keine sehr leichte Aufgabe war - und fügte den zuvor geschriebenen Worten noch ein paar Sätze hinzu, mit denen er die Männer und Frauen seiner bald nun ehemaligen Dienststelle aufforderte, dem Neuen gegenüber tolerant zu sein und ihn nicht allzu sehr auf den Prüfstand zu stellen, sondern ihn statt dessen zu unterstützen, wo sie dies nur konnten. Zum Schluss wollte er noch einige mahnende Worte direkt an den Neuen hinzufügen, etwas, das ihm sehr am Herzen lag, da es ihm sein Vater, der auch Polizist gewesen war, einmal gesagt hatte und dessen Bedeutung ihm erst jetzt, heute am Ende seiner Dienstzeit, so richtig bewusst wurde, doch gab der zuvor eh schon schlecht schreibende Kugelschreiber nun gerade an dieser Stelle seinen Dienst auf. Wütend und frustriert starrte Bob auf den vor ihm liegenden Abschiedsbrief. Er hätte ihn so belassen können. Es stand genug darauf, um allen Beteiligten klar zu machen, dass er es durchaus ernst meinte und dass sie sich keine Gedanken um das Geschehene machen sollten, doch konnte er es nicht. Er musste einfach noch das letzte Stück vollenden und erst dann konnte er seinen Frieden mit sich und der Welt um sich herum machen. Doch wie sollte er seinen Brief vollenden, wenn der einzige Stift, den er bei sich trug, nicht mehr schreiben wollte?

Er wusste einen kleinen Gemischtwarenladen in der Nähe, nur ein paar Straßenecken weiter, der um diese Zeit noch aufhatte und er war sich auch sicher, dass er dort den benötigten neuen Kugelschreiber würde finden können, doch konnte er nicht so einfach dorthin marschieren und dann wieder hier her zurückkehren. Er fürchtete sich - er hatte wahnsinnige Angst, dass er, wenn er sich einmal von dem schmalen Geländer, auf dem er mit dem Rücken zur Straße und den Beinen über dem über fünfzig Fuß unter ihm dahin rauschenden Fluss saß, fortbewegt hätte, er es nicht mehr schaffen würde, dorthin zurückzukehren.
Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen und sein Atem kam in flachen, kurzen Stößen. Die linke Hand ballte sich um den Brief zur Faust, die rechte krallte sich um das nasskalte Geländer, als plötzlich und wie aus dem Nichts kommend sich ein dunkelblau und grün gestreifter Kugelschreiber direkt vor seinem Gesicht zu materialisieren schien.

Erstaunt die Augen weit aufreißend, starrte er, nach Luft schnappend, auf den direkt vor ihm in der Schwebe hängenden Stift, einfach nicht fassen könnend wie ihm geschah. „Was ...? Wie ...?”, brachte er unbewusst stammelnd hervor. Unbewusst, weil ihm erst, als er eine Antwort auf seine gestotterten Worte erhielt, klar wurde, dass er sie nicht nur gedacht, sondern wohl auch laut ausgesprochen hatte.

„Sie wollten doch einen Kugelschreiber, oder?”, erkundigte sich eine ruhige, freundliche und dennoch distanziert wirkende Stimme, die, als er darauf nicht regierte, in einem etwas besorgt scheinenden Tonfall fortfuhr: „Oder ist Ihnen ein anderer Stift lieber? Ich hätte auch noch einen Füller oder verschiedenfarbige Buntstifte dabei.”

Erst jetzt wurde Bob die Hand bewusst, welche, den blaugrün gestreiften Kugelschreiber immer noch direkt vor sein tränenfeuchtes Gesicht haltend, bewegungslos in der Luft hing und ihm anbot, wonach er verlangt hatte. Dort war es, das Werkzeug, mit dem er seinen Abschiedsbrief vollenden konnte, einfach so, vollkommen unerwartet aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht. Mit nun doch etwas zitternden Fingern löste er seinen Griff um das nasse kalte Brückengeländer - was ihm zu seiner Verwunderung nur sehr langsam und unbeholfen gelang - und griff nach dem reglos vor ihm gehaltenen Stift, dabei ein leises ‚danke sehr’ murmelnd.

„Oh, nichts zu danken”, erwiderte die immer noch freundliche und dennoch distanziert wirkende Stimme, weiterhin mit langsam und nicht hastig ausgesprochenen Worten vor sich hin plaudernd. „Es ist mir eine Ehre, muß ich sagen. Schließlich begegnet man nicht alle Tage - oder sollte ich lieber sagen, alle Nächte? - einem Mann, der sich über seine weiteren Schritte derart im Klaren ist und der nicht mehr vom Leben verlangt als einen einfachen Kugelschreiber. Ich finde es äußerst beruhigend zu wissen, dass es auch noch solche Individuen gibt, die ...”

... und immer weiter tönte die Stimme in seinen Ohren. Bob hatte jedoch, nachdem er den blaugrün gestreiften Kugelschreiber angenommen hatte und ihn nun fest in seiner Hand hielt, nicht mehr hingehört und begonnen, entschlossen wie zuvor, mit demselbigen und nun wieder vollkommen ruhiger Hand, seinen Abschiedsbrief zu vollenden. Endlich hatte er es geschafft und nun auch den letzten Satz, der, wie ihm plötzlich aufging, am meisten bedeutet hatte, an seine Kollegen und den Neuen niedergeschrieben, faltete das Stück des ehemaligen Einkaufszettels aufs Sorgsamste zusammen und steckte es zum Schluss wieder in seinen von Plastik umhüllten Ausweis. Jedenfalls hatte er das vorgehabt, doch konnte er diesen - so sehr er auch suchte und jede einzelne seiner Taschen durchwühlte - einfach nicht mehr finden. Eine Tätigkeit, bei der ihm erst jetzt wieder die wohl die ganze Zeit über auf ihn einredende Stimme so richtig bewusst wurde. Eine Stimme, welche weder aufdringlich noch nervend klang. Weder fordernd noch bittend, sondern die einfach nur da war und ihm so etwas wie - ja, wie einen Anker zu bieten schien, an welchem er sich festhalten und notfalls auch ... Nein, soweit wollte er nicht denken. Er hatte schließlich etwas zu erledigen. Etwas, das keines weiteren Aufschubes mehr bedurfte. Etwas, das ihn von seinen Sorgen und Problemen und von den zerstörten Träumen von einem Neuanfang mit seiner geliebten Ehefrau, die nun in den Armen eines anderen Mannes ihr Glück gefunden hatte, endgültig und ein für alle Male befreien würde.

„... und an einem anderen Tag, als der Himmel fast schwarz vor dunkel und regenschwer herab hängenden Sturmwolken war, da hatte ich doch tatsächlich einen rot und blau gestreiften Papageien in den Ästen des vor meinem Fenster stehenden Apfelbaums entdeckt. Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich dieses doch recht ungewöhnlichen Vogels gewahr wurde. Natürlich versuchte ich sofort, ihn mit dem alten Fischfangnetz meines Großvaters, das dieser an meinen Vater und dieser wiederum an mich vererbt hatte, einzufangen und ...” Der stets gleich bleibende Monolog stockte plötzlich, als der Blick des Fremden auf den nun mehr unbenutzten Kugelschreiber fiel und dieser anscheinend erst jetzt auf die hosen- und jackentaschendurchwühlende Suche seines Gegenübers aufmerksam wurde. ”Oh, entschuldigen Sie meine Unaufmerksamkeit ... Suchen Sie einen weiteren Stift? Ich habe einen gelben, einen roten, einen blauen und einen weißen mit roten Punkten - oder waren es kleine Herzen? - darauf. Dann habe ich noch einen weiteren neongelben Kugelschreiber, einen giftgrünen Filzstift sowie vier normale Bleistifte, wovon einer extra dick ist und sehr gut zum Portraitzeichnen geeignet scheint und ...”

„Meinen Ausweis!”, stieß Bob, von der schieren Anzahl der Stiftsammlung des Fremden überwältigt, hervor, „ich suche nur meinen Ausweis, um ... nun ...”

„Ah, verstehe - der ist vorhin, als Sie den Kugelschreiber entgegennahmen, dort nach unten gefallen”, erwiderte der - wie Bob erst jetzt bewusst wurde, kaum einen Meter entfernt neben ihm auf dem Brückengeländer sitzende - Mann. Dieser hatte jedoch im Gegensatz zu ihm selbst die Beine auf der Straßenseite baumeln und saß mit dem Rücken zum Fluss. Bei den Worten ‚nach unten’ hatte er mit dem Daumen auf den nachtdunklen Fluss hinter sich gezeigt.
Bob Morovskys Blick folgte der Daumenbewegung und erst jetzt fiel ihm wirklich die enorme Höhe auf, in welcher er saß. Oder sollte er lieber Tiefe sagen, in die er bald stürzen würde? Bob schluckte und starrte wie hypnotisiert auf den so unendlich tief unter ihm dahin rauschenden Strom. Erst jetzt wurde ihm die Kälte bewusst, die schon die ganze Nacht über geherrscht hatte und ihm regelrecht in die Knochen biss. „Das ist wirklich sehr ...” Er schluckte.

„Schade. Ich weiß”, beendete der neben ihm sitzende Mann nun wieder in demselben Tonfall wie zu Anfang seines Auftauchens - wann war dies überhaupt geschehen, fragte sich Bob, nur ein wenig über sich selbst verärgert, da er als - ja als bald ehemaliger Polizist doch eigentlich sofort hätte bemerken müssen, dass sich ihm ein Unbekannter in einem derart offen vor ihm liegenden und übersichtlichen Gebiet näherte.

‚... tief’, hatte Bob eigentlich, erschaudernd und immer mehr frierend, sagen wollen. Doch traf das andere ebenfalls zu und erinnerte ihn wieder daran, dass er nun keine Möglichkeit mehr hatte, seinen Kollegen den gerade geschriebenen Abschiedsbrief zukommen zu lassen. Er beendete den ihm vorausgenommenen Satz mit einem stummen Nicken und dachte sich sein eigenes Satzende einfach nur, ohne es auszusprechen.

„Kann ich vielleicht noch etwas für Sie tun?”, erkundigte sich da doch tatsächlich der Fremde wieder mit dieser höflich distanzierten Stimme, der man nichts weiter entnehmen konnte, als die ehrliche Bereitschaft, einfach nur für einen da zu sein. Eine Stimme, die nicht verurteilte oder anklagte. Eine Stimme, in der weder Zorn noch Enttäuschung über die geplante Tat mitschwangen - die einfach nur existierte und alles, was da wohl noch kommen mochte, uneingeschränkt und ohne lauthals irgend welche aus Unkenntnis geborenen Vorwürfe zu erheben, das Kommende einfach akzeptieren würde.

Bob Morovsky war erleichtert über diese Stimme, erleichtert und froh - und er fühlte sich sicher, sicher in dem, was er zu tun hatte. Doch wie mit dem verlorenen Stift zuvor, oder dieses Mal noch weitaus schlimmer, konnte er es einfach nicht. Wenn er sich jetzt erschoss, oder - wie ihm ein erneuter Blick in die Tiefe zum Fluss hinunter verriet, auch nur sprang - dann würden seine Kollegen am nächsten Tag wieder mit derselben Problematik beschäftigt sein, welche er ihnen gerade durch den Abschiedsbrief zu ersparen gehofft hatte. Niemand würde wissen, was wirklich geschehen war. Niemand würde auch nur ahnen, dass er freiwillig aus dem Leben geschieden und nicht ermordet worden war. Niemand würde auch nur ahnen können, dass ...
Doch das stimmte nicht.
Einen gab es, der Bescheid wissen würde.
Eine Stimme, die schon seit - er wusste einfach nicht, seit wie langer Zeit schon bei ihm war und ihm schon einmal geholfen hatte. Würde diese Stimme, nein, der Mensch, der über sie verfügte, ihm erneut einen Gefallen erweisen? Natürlich würde sie es - nein, der Mensch es ... denn er hatte ihm doch gerade eben erst angeboten, ihm weiter zu helfen. Erleichtert aufatmend nickte Bob und streckte seine Hand mit dem beschriebenen Stück alten Rechenpapiers in Richtung der Stimme hin aus, was zugleich die Richtung war, in welcher ...
Seine Hand stockte mitten in der Bewegung, hielt erschreckt inne, leicht bebend wie ein Vogel, der, auf der Stelle flatternd, sich nicht entscheiden konnte, ob er nun vor der sein Nest ausraubenden Katze flüchten oder es doch lieber verteidigen wollte. Hielt inne, weil ihm erst jetzt in diesem von Klarheit geprägten Moment so richtig bewusst wurde, dass die Stimme zu einem Menschen gehörte, einem lebendigen Menschen, den er zwar flüchtig in seiner Nähe auf dem Brückengeländer sitzen gesehen hatte, welchen er aber nicht als solchen erkannt hatte. Einem Menschen, der nun mit Sicherheit seine Chance nutzen, ihn an dem ausgestreckten Arm ergreifen und ihn vom Geländer in Sicherheit reißen würde. Hielt inne in der Erwartung, dass die Katze sich der nun viel schmackhafteren Beute - nämlich dem erstarrten und von Unschlüssigkeit geprägten Vogel zuwenden würde und ...
Aber das geschah nicht. Der zwischen seinen zitternden Fingern hängende Brief wurde nicht dazu genutzt, ihn zu packen und in eine vermeintliche Sicherheit zu bringen, sondern ihm schlicht und einfach, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, sanft entzogen und sorgfältig in der rechten Innentasche der schwarzen Cordjacke verstaut, welche der Fremde aufgeknöpft über seinem schlichten, aber nichtsdestotrotz auch nicht gerade billigen Baumwollhemd trug.
Bob seufzte leise, erleichtert darüber, dass er es bald geschafft haben würde. „Bringen Sie das bitte zu ... Zum nächsten ... Oder ... Oder geben Sie es einfach dem nächsten Polizisten, der Ihnen über den Weg läuft, ja?”

„Das dürfte kein allzu großes Problem für mich sein”, versicherte ihm die Stimme freundlich, woraufhin Bob nur stumm nickte und ein leises Dankeschön murmelte. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?”, fuhr die Stimme fort, sich bei ihm zu erkundigen.

Statt einer Antwort schüttelte Bob den Kopf, in Gedanken bereits ganz mit den nun folgenden Schritten beschäftigt. Seine rechte Hand, in welcher er bisher den Zettel gehalten hatte, nein nicht den Zettel, sondern seinen Abschiedsbrief, wanderte fast schon ohne sein Zutun an seine Seite und schob die Jacke an der rechten Seite nach oben, um so an die darunter an seinem Gürtel befestigte Pistole zu gelangen. Ruhig und entschlossen zog er sie hervor. Sie glänzte leicht in dem trüben Licht der Straßenlaterne, und man konnte deutlich erkennen, wie überaus sorgsam gepflegt sie war. Fast schon liebevoll strich er über den geschwungenen Kolben und das glatte, mattschwarze Rohr und mit einer seit vielen Jahren geübten Handbewegung, die quasi aus dem Handgelenk heraus geschah, schwang er sie herum und die leere Trommel öffnete sich. Aus seiner rechten Jackentasche zog er einige neue Patronen und schob sie in die dafür vorgesehenen Löcher. Dann schloss er die Trommel wieder mit derselben geübten Handbewegung und mit einem ebenso in Fleisch und Blut übergegangenen Griff entsicherte er die einfache Waffe. Sicher, viele seiner Kollegen zogen die neueren Pistolen vor. Die, in denen man eine ganze Patronenreihe nur durch den Griff von unten nach oben schieben musste und welche dann sofort nachgeladen waren. Ein weiterer Vorteil dieser neuen Waffen war auch, dass sie mit allerlei Schikanen ausgestattet waren, wie zum Beispiel automatisches Nachladen, Infrarotzielsensoren und noch einigem mehr, das er persönlich - wie auch schon seit Vater vor ihm - für vollkommen überflüssig hielt.

Langsam hob er die entsicherte Waffe, hatte sie schon auf halbem Wege zu seinem Kopf, als ihm plötzlich wieder der Fremde einfiel, welcher, wie er nach einem kurzen Blick zur Seite feststellte, immer noch an derselben Stelle saß wie zuvor und ihn, wie ihm auffiel, äußerst aufmerksam beobachtete. „Gehen Sie!”, stieß Bob hervor, da er nicht wollte, dass - ja was eigentlich ... Dass er bei seinem Tun beobachtet wurde, oder noch eher, dass der stille Beobachter zum Ende hin doch noch seine passive Haltung aufgeben und versuchen würde, ihn daran zu hindern. „Ich bitte Sie ... Gehen Sie einfach fort.”

„Das kann ich nicht tun”, antwortete ihm die Stimme, sanft und dennoch ohne auch nur den Hauch eines Zweifels an der Entschlossenheit ihres Besitzers mitklingen zu lassen.

„Ich wusste es”, murmelte Bob mit einem leise ausgestoßenen Seufzer.

„Was denn?”, kam auch sogleich die erwartete Frage.

„Dass Sie versuchen werden, mich aufzuhalten”, erwiderte Bob immer noch leise, mit belegter Stimme, und fügte dann in einer Anwandlung von kindlichem Trotz hinzu: „Aber ich werde mich nicht aufhalten lassen.”

Kurz herrschte tiefes Schweigen, ehe die andere Stimme wieder sprach: „Dessen bin ich mir bewusst, und ich habe auch nicht vor, Sie an dem, was Sie tun wollen, zu hindern.”

Bob schwieg, irritiert durch den offen zum Vorschein kommenden Widerspruch zwischen den Worten und dem Handeln des Anderen. Er verstand nicht, was damit bezweckt wurde. Oder wollte der Fremde ihn durch seine bloße Anwesenheit davon abhalten, seinen Plan in die Tat umzusetzen? Wenn dem so war, dann hatte er sich aber deutlich geschnitten. Er würde es tun ... Er würde sich die ersehnte Ruhe und den gewünschten Frieden verschaffen, und nichts und niemand, auch kein Zuschauer, konnte ihn davon abhalten. „Dann gehen Sie endlich ... Ich werde es tun ....”
Wie um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, hob Bob die frisch geladene und entsicherte Pistole ein Stück weiter an und drückte sich den eiskalten Lauf gegen die rechte Schläfe. Er musste nur noch den Finger krümmen und ...
Doch er konnte es nicht. Nicht solange er beobachtet wurde. Nicht solange diese ruhigen, alles hinnehmenden Augen auf ihn gerichtet blieben und ihn einfach nur - ohne Anklage oder dergleichen - beobachteten. „So verschwinden Sie doch endlich!”, stieß er hervor, halb schluchzend.

Wieder schüttelte der Fremde den Kopf und erklärte, ebenso bestimmt wie zuvor: „Das kann ich nicht tun.”

Bob hatte zu zittern begonnen und holte mehrmals tief Atem. „Gehen Sie ... Verschwinden Sie sofort! Warum sind Sie nur so verdammt stur und ...”, schrie er schon fast, wobei ihm erst jetzt bewusst wurde, dass er die Waffe, die geladene und entsicherte Waffe nicht mehr gegen seine Schläfe gedrückt, sondern gegen den Fremden gerichtet hielt. „Na los ... machen Sie schon endlich ... oder ... oder ich ...!”

„Sie haben das hier falsch geschrieben”, gab die trotz seiner Drohungen gelassen gebliebene Stimme zurück. „Hier - dieser Vokal ... Und ein ‚m’ kommt in dem Wort nicht vor”, erklärte der Mann, klingend wie die Ruhe selbst.

Fassungslos und ungläubig starrte Bob Morovsky auf den ziemlich zerknitterten Zettel, welchen ihn der Fremde entfaltet und offenbar auch gelesen nun unter die Nase hielt. Etwas, das nicht nur irgendein Zettel war, sondern ganz allein ‚sein’ Zettel ... sein Abschiedsbrief. „Sie sind verrückt ... vollkommen wahnsinnig!”

Eine schmale Augenbraue des nun etwas deutlicher erkennbaren Mannes wanderte langsam zu dessem roten Haaransatz hinauf, als er mit deutlicher Verwunderung in der Stimme fragte: „Aber wie kommen Sie denn darauf? Ich habe Sie nur auf einen Fehler in diesem Brief hingewiesen, der Ihnen ziemlich wichtig zu sein scheint. Sie wollen doch sicherlich nicht, das ein derart wichtiges Schriftstück nur so vor Fehlern strotzt ... Nun, wären es nur Rechtschreibefehler, so würde mich das nicht weiter stören. Doch sehen Sie einmal hier ... es ist eindeutig ein Fehler in einem Personennamen, und ich war mir sicher, das Sie niemanden beleidigen wollten, indem Sie seinen Namen in einem Dokument von solcher Tragweite falsch schreiben.”

Keuchend klammerte sich Bob Morovsky an seine Waffe. Die kurz zuvor noch ruhigen und entschlossenen Hände zitterten nun unkontrolliert und konnten den Griff der Pistole nur noch schwer zwischen den schweißfeuchten Fingern halten. Immer noch wies die Mündung auf den Unbekannten, den er, dank der sich nun langsam im Osten über den Stadtrand hinweg hebenden Sonne, inzwischen deutlicher zu erkennen vermochte. „Sie sind vollkommen irre ...” krächzte er und musste erst einmal heftig ob seines vollkommen ausgetrockneten Halses schlucken. „Ich ... ich könnte Sie erschießen ... Ist - ist Ihnen das nicht bewusst?!”
Als daraufhin keine Antwort erfolgte, sondern er statt dessen immer noch seinen Abschiedsbrief vorgehalten bekam, befürchtete er allmählich, nicht eher in Ruhe gelassen zu werden, bis er auf das Spiel des anderen eingegangen wäre, also fragte er schließlich, mehr als nur ein wenig entnervt: „Von welchem Namen reden Sie? Ich habe keine solchen falsch geschrieben ... ich kenne jeden einzelnen ihrer Träger schon jahrelang und würde keinen derartigen Fehler machen ...”

„Diesen hier.” Ein langer, schlanker Finger des Fremden wies auf den untersten - und, wie Bob nach kurzer Überlegung feststellte, einzigen - Namen, den er in seinem Abschiedsbrief überhaupt erwähnt hatte.

Morovsky blinzelte einige Male wie eine Eule, die gerade aus ihrem tagsüber stattfindenden Schlaf erwachte, und starrte immer wieder zwischen dem Zettel und dem Mann, welcher ihm selbigen direkt unter die Augen hielt, hin und her.
„Ich begreife nicht ...”, brachte er, nur noch verwirrt und sich absolut unverstanden fühlend, hervor. „Woher wollen Sie wissen, wie ich diesen Namen hätte schreiben sollen?”

„Also ist es wohl doch eine beabsichtigte Beleidigung?”, erkundigte sich der Mann, weiterhin höflich bleibend und mit einem Ausdruck in den graugrünen Augen, welchen Bob nicht im Entferntesten zu beurteilen wusste.

„Das ... Das ist ... Natürlich wollte ich den hinter dem Namen stehenden Menschen nicht beleidigen ... Es ist ... Es ist nur einfach nur so, dass ... Also ich ... Ich habe ihn noch nie getroffen und - er ist ein Neuer, ein Grünschnabel und ...”
Bei dem Worten ‚Neuer’ und ‚Grünschnabel’ schien sich kurz das Gesicht des Fremden zu einem halbem Lächeln verziehen zu wollen, doch konnte sich Bob dessen, wie so vielem an diesem beginnenden Tag, wie es schien, nicht hundertprozentig sicher sein.

Der Fremde nickte und lächelte dann plötzlich ganz offen. „Nun, dann bin ich ja froh, das zu hören. Ich wäre doch sehr betrübt darüber gewesen, dass mein neuer Kollege es nicht einmal für nötig hält, meinen Namen richtig zu schreiben, wenn er vorhat, seinen Abschied zu nehmen”, sagte er, und während Bob Morovsky vor Überraschung der Mund offen stand und die Waffe plötzlich viel zu schwer für seine aufs heftigste zitternden Hände wurden, sprang der Fremde - nein, sein zukünftiger Partner, der viel älter war als er es gedacht hatte, jedenfalls sah er nicht nach dem erwarteten Grünschnabel von der Akademie aus - von dem Brückengeländer herab und landete äußerst geschickt und ohne viel Lärm zu verursachen - welcher ihn in diesem Moment nur erschreckt hätte - auf der nassen glitzernden Straße.
Während Bob nur weiterhin fassungslos und sich wie in einem schlechten Traum fühlend auf den sich ihm langsam nähernden Mann starren konnte, war dieser auch schon heran, streckte ihm die Hand entgegen und entzog seinen klammen und steif gewordenen Fingern, den eiskalten Griff der Pistole. „Ich denke, die brauchst Du nicht mehr ... oder doch?”, erkundigte er sich, wieder mit dieser ruhigen, alles akzeptierenden Stimme, die Bob die ganze Nacht über begleitet hatte.

Stumm, weil er sich nicht in der Lage fühlte, auch nur ein einziges Wort aus seiner wie zugeschnürten Kehle hervor zu quetschen, konnte Bob Morovsky nur den Kopf schütteln und mit tränenverschleiertem Blick die sanft rötlich strahlende aufgehende Sonne betrachten. Eher nebenbei bemerkte er, wie ihm der Fremde - nein, sein ihm neu zugeteilter Partner - vom Brückengeländer half, ihn sanft und behutsam ein Stück die Straße hinunter führte und ihn dort in ein mit weichen Ledersitzen ausgestattetes Cabriolet sinken ließ. Ebenso wenig bekam er mit, wie sein neuer Partner um den Wagen herum eilte, neben ihm auf der Fahrerseite einstieg, den Motor startete und mit laut aufquietschenden Reifen losraste. Das letzte, was er hörte, ehe ihn die Erschöpfung überwältigte, war diese Stimme - die Stimme, die ihn die ganze Zeit über nicht losgelassen hatte.
„Übrigens - meinen Namen schreibt man B. O. O. N. E.”

 

Ende von Kapitel 18

 

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