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  „Höllenengel” von Susanne   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Juni 2004
Alle hier vorkommenden Charaktere gehören den jeweiligen Eigentümern. Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Zo'or verwendet bei der Vernehmung von Ronald Sandoval mehr als seltsame „Verhörmethoden” und geht einen Deal mit ihm ein. Inzwischen entwickeln sich die Mehr-Gen-Hybriden an Bord zur zukünftigen Gefahr für die Menschheit.
Zeitpunkt:  das Jahr 2345
Charaktere:  Dr. Clares, Dr. Boss, Ronald Sandoval; Zo'or, Haggis und „Augur”; Bethany, Alexis, Kristin, Sy'la und Je'dir; Da'an, Lukas und Carlinde Caspar
 
Warnung: Diese Geschichte beinhaltet Gewaltszenen.
 

 

HÖLLENENGEL

Kapitel 9

 

Armer Ronald Sandoval! Kein Haar-Gel, kein Hairspray und kein dunkler Anzug im Stil des beginnenden 21. Jahrhunderts in seiner Zelle. Der asiatisch aussehende kleine Mann - er war in etwa ein Kopf kleiner als der amerikanisch-europäische Durchschnittstyp - hockte in seinem einfachen schwarz-weißen Hausanzug, der nach seinem Geschmack eher einem Pyjama glich - unzufrieden auf dem Bett. Zugegeben, ein großes bequemes, weichfederndes schneeweißes Bett, nicht so ein hartes schmales graues Zellengestell wie in jedem anderen Gefängnis oder beim Militär. Sein verwundeter Fuß sah beinahe wieder verheilt aus.

Mittlerweile hatte man ihm die Reste seiner Habseligkeiten gebracht: eine alte Taschenuhr, eine Halskette mit Anhänger, einen Ring, zwei alte Landkarten, einen Wohnungsschlüssel, ein Schreibstift, ein Kamm. Die Kleidung? War nicht mehr zu gebrauchen gewesen und war entsorgt worden. Seine Geldbörse mit Ausweis und Kreditkarten? War nicht mehr vorhanden - vielleicht hatte sie Palmer zum Beweis für die anrückende Polizei mitgenommen. Sein Global? Aber nicht doch...

Da Sandoval alle Bücher in seiner „luxuriösen” Zelle zerrissen hatte, musste er ohne Unterhaltung auskommen. Von alter klassischer Musik abgesehen, die er einschalten konnte. Er konnte nur die Holzmuster auf dem Kunststoffboden bewundern oder die kalten weißen Wände aus unverwüstlichem Material. Zu essen gab es zwar kein Steak, nicht mal Hamburger, ja außer Fisch und Meeresfrüchte schien man auf diesem Stützpunkt kein Fleisch zu verzehren. Doch die Verpflegung war ordentlich und reichlich, mal vom seltsamen Geschmack der Cola abgesehen. Mittags hatte es wie gestern wieder eine Art Gemüseeintopf mit Soja gegeben. Gestern schmeckte er indisch, heute eher mexikanisch.

In Anbetracht der widrigen Umstände hatte Sandoval die gewaschenen Haare mit etwas Wasser in Form zu glätten versucht, was aber nicht recht gelang: sie fielen natürlich und damit in seinen Augen wuschelig-unordentlich. So wollte er im Grunde nicht aussehen. Es schadete nicht, vor Zo'or einen ordentlichen Eindruck zu machen. Er hätte sich zwar gerne in herkömmlich-gewohnter Weise rasiert, was nicht erlaubt wurde, und so hatte er sich die Rasiercreme ins Gesicht geklatscht. Sie wirkte tatsächlich, der Bart löste sich auf und wurde mit dem Schaum weggewaschen.

Er hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, wo er gelandet war, und war bereits auf Zo'ors Erklärung neugierig. Sie würde ihm vermutlich nicht in allen Dingen die Wahrheit sagen, doch wusste die Atavus - oder die Taelon? - oder was immer ? - ganz genau, dass sie ihm etwas schuldete. Er konnte sich dennoch nicht vorstellen, dass sie sein Leben aus reinem Altruismus oder Anhänglichkeit gerettet haben sollte. Nein, Zo'or wollte etwas von ihm, und das musste er so teuer wie möglich verkaufen. Noch hatte er ja Zeit, sich einen Preis zu überlegen. - Ja, warum eigentlich nicht... ?

Und irgendwann im Verlauf des Tages kam sie auch. Nach einem leisen Pfeifen schob sich die unsichtbare Tür auf, zwei Kampfmaschinen traten vor und ließen Zo'or eintreten. „Ich brauche euch nicht”, sagte die Taelon zur Wache. „Ich denke nicht, dass Ronald Sandoval so töricht wäre, mich anzugreifen. Lasst uns allein uns stört nicht.” Die Wachen schienen kurz zu lauschen und verließen dann schweigend den Raum. „Ich möchte alleine mit Sandoval sprechen!” sagte sie laut. Zo'or nahm an, dass die Bordintelligenz das respektieren und ihre Aufmerksamkeit aus der Zelle abziehen würde. Dann setzte sie sich aufreizend in einen bequemen Stuhl vor Sandovals Bett, sah ihn an und sagte: „Nun?”

Sie sah wieder großartig aus! Heute trug sie einen Overall aus breiten indigofarbenen senkrechten Seidenstreifen, die durch royalblaue senkrechte Streifen aus zarter Spitze zusammengehalten wurden. Und zwar so raffiniert, dass die Seidenstreifen alles abdeckten, was sie abdecken sollten, aber genügend Haut durchschimmern ließen, die zeigten, dass sie unter dem Hauch von Overall nichts anhatte. Am Kragen und an den Ärmeln hatte das hauchdünne Kleidungsstück weiße kleine Spitzchen, die zum breiten weißen Lackgürtel an den Hüften harmonierten. Dazu trug sie indigofarbene Samtstiefelchen. Und sie duftete wie ein ganzer Parfümladen. Ach - sie war einfach großartig!

Sandoval, weiterhin mit dem Rücken zum Kopfteil des Bettes sitzend, dachte trotzdem nicht daran, seine lässige Haltung aufzugeben und sich etwas respektvoller hinzusetzen.

„Nun”, wiederholte er und verschränkte, mit grimmigen Lächeln, seine Hände um den Brustkorb, „wie haben Sie gedacht, Ihre Schuld bei mir einzulösen?”

Zo'or schluckte und richtete sich ein wenig straffer auf, gleichzeitig sich bemühend, nur ja keine Miene zu verziehen und weiterhin eine arrogante Fassade zur Schau zu stellen. „Ihre Frechheit ist ungebrochen!” stellte sie fest. „Schuld einlösen? Ich schulde Ihnen gar nichts! Und sollte ich das je getan haben, und Sie nicht mir, obgleich Sie mir uneingeschränkt zu dienen geschworen haben, so ist das beglichen. Ich habe Ihnen das Leben gerettet!”

Am liebsten wäre Sandoval aufgesprungen und wäre vor Anspannung im Raum hin- und herspaziert. Aber dann hätte er nur lächerlicherweise gehumpelt und Zo'or daran erinnert, dass er kleiner war als sie, und sie gewöhnlich auf ihn herabschauen durfte. Nein, so hatte er sie direkt vor sich. Er beherrschte sich.

„Sie haben mich grundlos gerettet? Aus Sentimentalität? Aus schlechtem Gewissen heraus? Ach, kommen Sie! Sie wollen etwas, darum.”

„Sie kennen mich noch immer nicht, Ronald Sandoval. Sentimentalität? Ich schulde Ihnen tatsächlich etwas. Ein neues Leben mit einem neuen Anfang. Das wollten Sie doch immer! Keine schwer auf die Seele lastenden Erinnerungen, die man nicht vergessen kann. Menschen sind beschränkt. Der Mensch kann es nicht ertragen, Dinge nicht vergessen zu können. Er verliert den Verstand dabei. - Sehen Sie?” Sie unterstrich die Worte mit taelontypischen Gesten. Und betonte:
„Ich BIN lernfähig. Ich möchte die Fehler meiner Rasse an Ihnen wiedergutmachen. Sie sollen ein neues und sorgenfreies Leben bekommen unter einer neuen Identität und alles was zuvor war, vergessen. Ihr altes Leben und Ihre Frau kann ich Ihnen nicht zurückgeben, aber in einem neuen Leben können Sie alles werden, was sie möchten. Eine neue Familie gründen. Glücklich sein. Statt tot zu verrotten und zu vermodern.”

„Verrotten und vermodern?” wiederholte Sandoval zynisch. „Und ich dachte, für Taelons existiert der Tod nicht, sondern es gäbe nur einen Wandel in eine neue Existenzform. Aber so ganz haben Sie Ihren eigenen Dogmen ja nie getraut, Zo'or, nicht wahr? - Ich jedenfalls möchte weder vermodern noch irgendwo in der Provinz als Hillbilly* unter falschem Namen versauern. Alles was mich interessiert ist, als Ronald Sandoval MACHT zu haben. Wirkliche Macht. Und was ist mit Ihnen?”

„Dinge ändern sich”, erwiderte Zo'or ernst. „Ich habe dazugelernt. Ich habe ohnehin erreicht, was ich wollte: ich lebe noch, meine Art ist nicht ausgestorben. Aber Sie - ich biete Ihnen eine große Chance, weil auch Sie mir das Leben gerettet haben: einen Neuanfang unter einem neuen Namen. Niemand wird Sie erkennen, niemand wird Sie verurteilen. Sie werden wieder so unschuldig sein wie zur Zeit, bevor die Taelons auf die Erde kamen. Sie werden wieder alle Chancen für ein Leben nach Ihrer Wahl haben. Andernfalls werden Sie zwar leben, jedoch in Sicherheitsverwahrung bis zu Ihrem Lebensende. Sie haben es gestern selbst gehört, und ich versichere, es ist jedes Wort wahr: Ihr Gehirn ist so beschädigt, dass sie nicht mehr klar denken können und Sie eine Gefahr für alle Menschen darstellen, und auch für sich selbst.”

„Erzählen Sie mir, was ist das hier?” verlangte der Philippo-Asiate zu wissen. „Das hier ist doch kein Militärstutzpunkt, und kein Gefängnis, auch kein Krankenhaus. Und dann dieser Jaridian... Ist das eine Anlage der Jaridians? Von den Taelons stammt sie jedenfalls nicht.”

Zo'or überlegte kurz, sah Sandoval wieder an und log: „Vor einigen Jahren kam ein fremdes Raumschiff zur Erde mit einigen Taelon-Außenseitern und Jaridian-Desserteuren an Bord. Das Schiff war für die Taelons sozusagen ein Fundstück, ein bemerkenswertes Relikt. Die Insassen waren auf der Suche nach überlebenden Taelons, nur waren sie zur Rettung der letzten Taelons auf der Erde etwas zu spät dran. Auf Grund meiner Schwingungssignatur und dank des Kollektivs wurde ich auf der Erdoberfläche geortet und an Bord gebracht. Auf meinen Wunsch hin wurden auch Sie gerettet. In die Kämpfe der Menschen mit den Atavus hat sich die Besatzung nicht eingemischt, nahm aber umständehalber einige hundert menschliche Flüchtlinge an Bord. Dann waren wir für einige Jahre im Weltraum unterwegs, und Sie schliefen in einem Komazustand im Regenerationstank. Inzwischen haben die Menschen die Atavus besiegt und das Taelon-Mutterschiff vernichtet. Die Menschen an Bord möchten jetzt wieder zurück zur Erde, was aber noch einige Wochen dauern wird. Wenn sie das Schiff verlassen, könnten Sie unter Ihnen sein - jedoch mit neuer Identität.”

Die Mitteilung brachte Sandoval doch etwas aus der Fassung. „Wir sind auf einem Schiff? Einem fremden Schiff?” Er schüttelte den Kopf und dachte kurz nach. „Und was verstehen Sie GENAU unter ‚ein paar Jahren’, Zo'or?”

„Nun”, log Zo'or ohne Skrupel weiter, „54 Erdenjahre.”

„54 Jahre!? Ich war 54 Jahre eingefroren im Tank?” Er konnte es nicht fassen! Und er war nicht einmal gealtert! „Dann schreibt die Erde - warten Sie - das Jahr 2067?”

„So ist es. Sie sind auf der Erde längst vergessen und können ganz neu anfangen.”

„Das reicht mir aber nicht. Was passiert, wenn ich mich weigere? Werde ich trotzdem operiert?”

„So ist es”, antwortete Zo'or. „Die Besatzung geht davon aus, dass Sie nicht klar denken und daher selbst keine logischen Entscheidungen treffen können. Wenn wir die Erde erreichen, werden Sie mit den anderen das Schiff verlassen., als neuer Mensch. Und wir Taelons und Jaridians brechen zu einem anderen Ort auf und versuchen ebenfalls, neu anzufangen.”

Sandoval schwang die Beine über den Bettrand und setzte sich auf die Bettkante, die Arme aufgestutzt. „Dann bleibt wohl alles beim Alten, Zo'or? Und wieder verfährt Ihre Spezies mit mir, wie sie will.” Er lachte bitter auf. „Wieso erwarte ich mir von Ihnen nur etwas anderes?”

„Das ist keine Vergewaltigung”, sagte die Taelon wider erwarten sanft. „Ich weiß, wie sehr Sie heimlich gelitten haben, alle diese furchtbaren Bilder in ihrem Kopf zu haben. Es tut mir sehr leid für Sie. Es ist nur zu Ihrem Besten.” Sie senkte den Kopf und sah grübelnd zu Boden, dem Mann dadurch die Zeit gebend, die Situation zu verdauen.
„Aber bevor Sie alles vergessen, bitte ich Sie, mir etwas zu geben. Raumkoordinaten. Sie haben Sie in Ihrer Erinnerung.”

„Koordinaten? Also doch! Sie wollen etwas, darum das Theater. Welche Koordinaten?”

„Als wir den ausgebrochenen Jaridian einfangen wollten, flogen Sie hinter Lili Marquette und Liam Kincaid her. Wir benötigen die Raumkoordinaten des zerstörten kimeranischen Wissenspeichers. An Hand dieser Raumkoordinaten können wir einen Kurs rekonstruieren zu einem unserer verschollenen Heimatwelten. Sie existiert angeblich noch. Da das Mutterschiff zerstört wurde, sind Sie der einzige, der die Koordinaten besitzt.” Würde Sandoval so vernünftig sein, zu kooperieren?

„Und wenn ich es nicht tue?” sagte er.

„Dann wird die Besatzung, fürchte ich, Sie verhören.”

„Sie können mich! .... nicht verhören!!” Er wurde nun wütend. „Sie brauchen mein Gehirn - intakt. Sonst könnte es doch passieren, dass ich - ups - die Koordinaten einfach vergesse!” Er lachte plötzlich, überlegte und klopfte sich auf die Schenkel. „Nein, Sie sind darauf angewiesen, dass ich sie Ihnen freiwillig mitteile.”

Zo'or runzelte verärgert die Stirn, dass sich die Kräusel bis zum Nasenansatz fortsetzten. Ja, ja - diesen Ausdruck kannte Sandoval schon. Sie warf erwartungsgemäß den Kopf zurück, sah entsagungsvoll seitlich nach oben zu einer Ecke, spreizte die Finger beider Hände und schlang sie so fest um den Lehne, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, als müsste sie sich krampfhaft beherrschen und festhalten, statt davonzulaufen.

„Aber ich verstehe durchaus die Situation”, setzte Sandoval scheinbar ironisch fort. „Mein Gehirn ist eine einzige Müllhalde. Jeder Mensch hat mich gehasst. Vielleicht ist ein Neuanfang wirklich für mich das Beste. Wer bekommt schon die Chance für zwei Leben in einem einzigen zu Leben, statt auf eine Reinkarnation zu warten?”

Jetzt sah ihn Zo'or wieder an. Sie war überrascht vor soviel plötzlicher Nachgiebigkeit. Sandoval stand auf, holte vom Tisch sein Taschenuhr, hielt sie ans Ohr. Natürlich tickte sie nicht. Er zog die Uhr auf, fragte Zo'or nach der Uhrzeit, stellte sie sogar ein und hielt ihr dann die Uhr hin. „Hier - dies möchte ich Ihnen schenken. Zur Erinnerung an mich, Ronald Sandoval, Ex-FBI-Agent. Sie hat für mich einen - nun, sentimentalen Wert. Sie wurde mir einmal geschenkt. Und jetzt möchte ich, dass Sie sie behalten. Denn sehen Sie - wenn ich meine Erinnerungen verloren habe, wird diese Uhr mir nichts mehr bedeuten. Aber vielleicht wird sie IHNEN einmal etwas bedeuten.”

Zo'or nahm die Uhr zögernd an und betrachtete sie in ihrer Hand. „Ich weiß nicht, ob ich das annehmen soll”, sagte sie irgendwie gerührt und sich gleichzeitig fragend, worauf er damit hinauswollte. „Ich bedanke mich jedenfalls und nehme sie an. Ich werde dieses Zeitmessgerät gut aufbewahren.” Sie steckte sie in eine Tasche des Lackgürtels. „Und die Koordinaten?”

Sandoval sah sie nochmals von oben bis unten mit einem langen Blick an. „Ich frage mich, ob in Ihnen noch immer das leidenschaftliche Atavusfeuer brennt?” Sein Atem wurde schwerer. Sein Puls war erhöht. Er schritt langsam um sie herum, sie betrachtend. „Erinnern Sie sich noch, wie es war? - Ja, ich denke, das wilde Feuer ist noch da.”

Er setzte sich wieder auf die Bettkante, das Oberteil des Hausanzugs über Hüfte und Becken ziehend, seufzte, stützte die Arme auf die Bettkante auf und wirkte dabei ziemlich vergnügt. „Für die freiwillige Mitteilung der Raumkoordinaten erwarte ich mir von Ihnen eine Gegenleistung. Ebenso freiwillig, versteht sich. Etwas, was Ihnen - glaube ich - nicht wirklich schwerfällt. Was sie bestimmt einmal in Ihrer Phantasie durchgespielt haben.”

Er sagte es ihr.

(* „Hillbilly zu deutsch: Landei, Hinterwäldler, Bauerntrottel)

 
* * *
 

„Ich muss mich mit dir unterhalten!” sagte Alexis, nachdem sie die kleine Wohnung betreten hatte.
Im Grunde passte das Bethany gar nicht, denn sie wollte in ihrer Bordfreizeit zum Schwimmen gehen. „ Mach's kurz”, meinte sie daher. „Ich bin verabredet.” So höflich war sie dennoch, Alexis auf dem Sofa Platz anzubieten.

„Was ist denn das für eine Musik?” fragte Alexis etwas irritiert.
„Swing. Erde, etwa Mitte 20. Jahrhundert. Ich habe den Kurs ‚Geschichte der Erdmusik’ belegt”, erwiderte Bethany und stellte Alexis ein Glas Eiswasser hin. Wie alle Jaridianblütige schätzten auch Alexis und Bethany die Kälte.

„Schön”, sagte Alexis. „Erinnert irgendwie an die Bocco-Jaridianmusik (1000 v. Chr.).” Sie sah sich kurz um.
„Deine Wohnung wurde auch verkleinert, sehe”, stellte sie fest. „Aber schön eingerichtet. Bei mir sind die Wände so programmiert, dass man den Eindruck bekommt, man lebe in einer Hütte mitten auf einer Insel. Zwei Wände zeigen Strand, Wasser und einen herrlichen blauen Horizont. - Ich genieße es, eine eigene Wohnung zu haben und damit meine Ruhe, sage ich dir. Meine Schwester Kristin lebt ja noch bei Ariel und Ko'lan. Wo Kristin ist, ist immer etwas los. Sie schleppt ständig Freunde an.”

„Alexis - du bist doch sicher nicht hergekommen, um mit mir über Wohnprogramme zu sprechen”, erinnerte Bethany.

„Nein, du hast recht”, sagte Alexis. „Sieh her!” Die dunkelhaarige junge Frau hob die Handfläche der rechten Hand hoch und sah darauf. Aus ihren Fingerspitzen bohrten sich junge grüne Triebe, wuchsen etwa zwei Zentimeter empor, entfalteten Blätter und eine Blüte. Die fünf Gänseblümchen wurzelten direkt in ihrem Fleisch.
Bethany stockte der Atem. Sie beugte sich instinktiv vor, um den Vorgang noch besser zu beobachten.

„Ich wollte dir zeigen, dass du nicht die einzige hier auf dem Schiff bist, die besondere Dinge tun kann.” Die Gänseblümchen standen einige Sekunden, bevor sie vornüber zu Boden fielen und dort liegen blieben. Alexis Hände sahen wieder aus wie zuvor.

„Ich dachte, ich wäre was Besonderes”, klagte Bethany halb im Spaß. Sie hob eines der Blümchen auf und besah es prüfend. Kein Zweifel, die Blume wirkte echt. „Meine Gedanken neigen dazu, sich zu verwirklichen”, fuhr sie fort. „Ich muss immer aufpassen. Und die Gabe wird immer stärker.”

„Bei mir auch. Und meine kleine Schwester Kristin scheint soeben auf den Geschmack gekommen zu sein.”

„Wie ist das möglich?” fragte Bethany. „Keiner unserer drei Völker hat diese Gabe. Es wird nur in menschlichen Märchen davon erzählt.”

„Vielleicht gab es wirklich mal solche Menschen. Ich habe auch keine andere Erklärung dafür. Ob das mit unseren Genen zusammenhängt? Wir sind doch Mehr-Gen-Mischlinge aus Taelons und Jaridians - deren Kimera-Gen sollten wir ebenfalls dazuzählen - und dann haben wir noch das menschliche Erbgut. Wer weiß, was da für Kreuzungen möglich sind.” Alexis nippte am Eiswasser.

„Du hast doch niemand davon erzählt, oder?” versicherte sich Bethany. „Die Menschen haben gerade erst die Taelons und Jaridians zu akzeptieren gelernt. Wenn wir mit solchen Fähigkeiten auftauchen, steinigen sie uns vor Angst. Niemals würden sie gefährliche Kreuzungen wir uns hinnehmen.”

„Ich habe es nicht einmal meinen Eltern gesagt”, versicherte Alexis. „Und was sie sehen, vergessen sie. Wir Mehr-Gen-Mischlinge müssen uns absolut unauffällig und harmlos benehmen und für die nächsten paar Jahrhunderte schweigen. In dieser Zeit werden weitere Kreuzungen wie wir entstehen, und nach und nach wird die ganze Erde mit einer neuen Mischrasse bevölkert werden. Wir müssen warten, bis es genug von unserer Art gibt. Erst dann kann etwas nach außen dringen.”

 
* * *
 

Sy'la massierte sanft Je'dirs Schultern. Sie hockte hinter ihm auf dem Bett in ihrem Quartier. Ihr Mann war noch immer muskulös, die Muskeln fühlten sich immer noch hart und kompakt an. Sie neigte ihren dunkelhaarigen Wuschelhaar-Kopf mit den silberfarbigen Mäschen zu seinem Ohr und flüsterte auf jaridianisch: „Mein großer starker Mann! Ich liebe dich!” Dann umschlang sie ihn von hinten, legte ihren Kopf gegen seinen Rücken mit den Hornzeichnungen. Mit ihren feinen Ohren konnte sie seinen Herzschlag hören. Oh, was für ein vertrautes Geräusch!

Je'dir fasste nach ihren Händen an seiner Brust und hielt sie fest. „Wir sind immer ein gutes Paar gewesen”, sinnierte er mit seiner tiefen Stimme. „Ich hätte mir keine bessere Frau wünschen können.”

„Und ich mir keinen besseren Mann.”

„Die Sache mit Korn't erinnert mich daran, wie alt ich bereits bin. Bald schon werde ich verweht sein, verglüht sein in eine andere Form, und nur meine Kinder werden dir bleiben.”

„Sag so etwas nicht!” beschwerte sich Sy'la und drückte für einen Moment fester ihre Arme um ihn. „Du hast noch so viel Zeit. Du wirst ewig leben. Du wirst ewig in meinem Herzen leben. Du sollst nicht immer so reden.”

Je'dir antwortete nicht. Er wusste, Sy'la hörte es nicht gerne. Doch er wollte, dass sie vorbereitet war. An realen Jahren, wenn man ihren Koma-Schlaf wegrechnete, war er nun einmal weit älter als die Hybridin. Seine Zeit war aufgebraucht, während sie wohl noch einige hundert Jahre vor sich hatte..

Er drehte sich zu ihr um, legte sich auf das Bett und zog sie an sich. „Ah, es tut so gut, von dir massiert zu werden!” lenkte er sie ab, strich ihre Haare aus dem hübschen Gesicht und küsste sie. Um dann fortzufahren: „Und unsere Töchter, fällt dir an ihnen nichts auf in letzter Zeit?”

„Sie sind beide hübsch, und Kristin wird langsam erwachsen”, erwiderte Sy'la und wollte ihren Mann zu mehr verführen. Aber Je'dir blockte ab. Er fühlte sich einfach zu müde zur Leidenschaft.
„Das meinte ich nicht. Ich denke mir - ihre Art, ihre Aura ist so eigenartig. Und sie haben Geheimnisse.”

„Natürlich”, meinte Sy'la und begann spielerisch an seinen Fingern zu knabbern. „Sie sind Hybriden, und die Jungs sehen ihnen hinterher. In diesem Alter hat man viele Geheimnisse vor den Eltern.”

„Und sonst ist dir nichts aufgefallen?” hakte der Jaridian nach. „Sie sind nicht irgendwie - ungewöhnlich?”

„Aber ich bitte dich, Je'dir!” sagte seine Frau. „Was meint du denn damit?”

„Ich kann es nicht genau beschreiben, es ist nur ein Gefühl.” Er spielte mit Sy'las Haaren und strich ihr sachte mit den Fingern über ihre Lippen. „Aber bitte achte in nächster Zeit darauf, ob dir etwas auffällt, ja?” Er zog sie enger an sich und befahl dem Schiff, das Licht zu löschen.

 
* * *
 

„Wie können Sie überhaupt wagen, mir so etwas vorzuschlagen!” fauchte Zo'or wütend.

„Alles hat seinen Preis. Und - ich wette, es ist Ihnen schon mal durch den Sinn gegangen.”

„Sie sind wirklich verrückt, keine Frage. Größenwahnsinnig!”

Sie war hellauf erregt und aufgebracht. Zo'or so in der Zwickmühle zu sehen war für Sandoval ein Vergnügen an sich. Was es auch immer mit den Raumkoordinaten an sich hatte, sie mussten so wertvoll sein, dass Zo'or ihn von den Toten auferstehen hatte lassen. Reine sentimentale Anhänglichkeit konnte es ja unmöglich sein, obwohl Zo'or als Synodenführer früher allemal für eine emotionale Überraschung gut gewesen war. Sie war auf diesem Schiff zwar offensichtlich nicht der Befehlshaber, aber wie er die Taelon kannte, hatte sie gewiss genügend Einfluss erworben. Sie wollten ihm das Gedächtnis nehmen? Über Zo'or würde er wiederauferstehen. Er musste nur seine Netze auslegen.

„Die Taelons haben mir meine Frau geraubt!” rief er voll gespieltem Schmerz. „Und Sie - gerade Sie! haben all meine Verwandten und Freunde ermordet, als sie die Cayman Islands durch einen Tsunami überschwemmen ließen. Die Springflut hat an die 30 000 Tote gefordert!”

„Joshua Doors hatte die letzte Core-Energie vernichtet und uns Taelons damit dem Verhungern ausgeliefert. Ich stand unter dem Einfluss des Gemeinwesens und wusste überhaupt nicht, was ich tat.”

„Das ich nicht lache!” schrie Sandoval sie an. „Ich fordere eine Wiedergutmachung! Geben Sie mir, was ich verlange, und ich kann vielleicht in Frieden aufhören, Ronald Sandoval zu sein. Machen Sie das mit dem ‚Gemeinwesen’ aus.”

„Es gibt kein taelonisches Gemeinwesen mehr”, erwiderte Zo'or. „Wir Neo-Taelons sind jetzt frei.”

„Schön für Sie. Dann wird es Ihnen sogar Freude bereiten. Ich soll sehr gut sein, hat man mir immer versichert.”

Zo'or verzog verbissen den Mund, fluchte innerlich dem Mann die Hölle auf den Hals und dachte kurz nach. Der Mann rang ihr Respekt ab. Er war so, wie die aus ihrer Art mal gewesen waren, vor (zig-Jahrhunderttausenden) oder länger. Kleiner als sie, wagemutig und gemein. - Wer sollte es schon erfahren? In einigen Stunden würde er auf dem Operationstisch liegen. „Also gut”, sagte sie mit blitzenden Augen. Sie zog sich mit ärgerlichen Bewegungen ein paar Handschuhe aus einer Tasche am Gürtel.

„Was soll das werden?” fragte Sandoval. Die Situation war wirklich erheiternd.

„Ich möchte nicht in Versuchung geraten, sie in einen Haufen Asche zu verbrennen”, sagte sie zornig. „Nicht, bevor ich die Koordinaten habe.”

„Nein! Keine Handschuhe. Ich habe inzwischen soviel Core-Energie in mir, dass ich bezweifle, dass Sie das schaffen. Gestohlene Energie vom Deck des Mutterschiffs und gespendete Energie. Ich denke, ich habe mich gut angepasst.” Er fuhr mit den Fingerspitzen sanft über den Stoff ihrer Arme, als sie näher zu ihm kam. Er musste wirklich laut lachen, während Zo'or voll Zorn Wortfetzen auf taelonisch vor sich hinfauchte, als er ihre Hand berührte.

 
* * *
 

Nach einigen Stunden verließ die Taelon die Zelle mit dem Gefangenen. Auf dem Weg durch die Krankenstation traf sie auf Dr. Boss und Dr. Clares. Sie sah ein wenig erhitzt aus und mitgenommen. „Der Gefangene ist mit der Operation nun einverstanden”, sagte sie kurz und bündig. „Wir haben miteinander gesprochen, er weiß, was ihn erwartet.”

„Das ist gut”, meinte Dr. Clares erleichtert. „Das Verhör war wohl sehr anstrengend? Du warst ja eine Ewigkeit bei diesem Mann.”

„Verhör?” Zo'or schien zu überlegen. „Ja, es gab viel zu besprechen. Über vergangene Zeiten und über seine Zukunft. - Bitte entschuldigt mich, ich bin jetzt müde.” Damit ließ sie die beiden stehen und begab sich rasch in ihre Suite, um nur ja keinem Taelon über den Weg zu laufen. Jeder hätte von weitem an ihrer Aura gesehen, was geschehen war. Es war schwer genug, ihre verräterischen Gedanken abzublocken.

Kaum war sie in ihre Wohnung geflüchtet, lehnte sie sich an die Wand und sah zitternd auf ihre Hände mit dem Licht des Shakaravah. Es zerriss sie innerlich. Bei allem, was im Universum existierte! Es war so demütigend!! - Und dennoch fühlte sie sich so seltsam wohl.

 
* * *
 

„Wir werden von ihren - 38 Jahren ? - nur rudimentäre Erinnerungen aus Ihrer Jugend retten können”, erklärte die Ärztin Sandoval. „Weite Bereiche ihrer Erinnerung, vor allem aus ihrer Zeit als Companion-Beschützer unter Zo'or, werden gelöscht - es wäre nicht gut, wenn diese bösen Bilder ihr neues Leben vergiften würden.”

„Ich verstehe”, erwiderte der Mann. „Die Behebung der gesundheitlichen Schäden ist gar nicht eure einzige Absicht. Ihr wollt den Verräter an der Menschheit eliminieren. Wenn schon nicht physisch, dann psychisch.”

„Sie werden nicht vernichtet”, bestritt Dr. Clares geduldig die Unterstellung. „Sie werden derselbe Mann sein wie jetzt, nur wieder mit einem gesunden Gehirn und leider mit wenig Erinnerungen.”

„Aber Sie werden mir nicht sagen, wer und was ich war und was ich getan habe. Ohne Erinnerung - was bleibt da noch von der Persönlichkeit?”

„Haben nicht eben diese unerträglichen Erinnerungen diese Persönlichkeit vernichtet?” fragte sie zurück. - „Meine Güte, was ist denn das?”

Sandoval hatte sich das Oberteil entfernt, bevor er sich auf die Liege legte. Erst jetzt sah Dr. Clares die Hautverbrennungen auf seinem Rücken.

„Zo'or hat Sie gefoltert!” rief die Ärztin empört.

„Aber nein, das ist nichts!” sagte Sandoval leichthin und wehrte sich, genauer betrachtet zu werden. „Wir haben nur - etwas gespielt, und nach der dritten Runde war das Zo'ors sanfte Ermahnung, nun endlich mit einer versprochenen Information rauszurücken.”

„Folter ist hier auf dem Schiff absolut verboten! Ich werde...”

„Sie werden gar nichts! Und Sie werden den Mund halten!” sagte der dunkelhaarige kleine Mann böse. „Wir hatten nur zusammen unseren Spass. Wenn Sie wissen wollen, was Folter ist, wirkliche Folter - dann fragen sie MICH. Ich weiß alles darüber. Ich habe viele Menschen gefoltert. Über viele Stunden lang. Einige starben daran. Also - scheren Sie sich weg, und machen Sie ihre Arbeit!”

 
* * *
 

Zo'or hatte die Koordinaten umgehend an Haggis und Augur weitergeleitet. Sie sah so merkwürdig aus, fand Haggis, konnte aber nicht genau sagen, was es war. Wohl so eine Art instinktives Gefühl. Es kostete die beiden etliche Stunden, aber dann war es soweit: sie hatten die Koordinaten. Die Weltraumkoordinaten von zumindest zwei kimerianischen Wissensspeichern, und wenn alles gut ging, würde man noch weitere errechnen können. Was hielt sie zurück? Sie konnten umgehend aufbrechen und auf Entdeckungsreise gehen, wenn nicht...

Es war ernst, fand selbst Augur. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass die Daseinsebene, von der sie gekommen waren, zu der Daseinsebene wurde, in der sie sich befanden. Mit jedem Tag wurde es gewisser. Und sie wussten noch immer nicht, ob sie letztlich überleben würden oder ob das Universum entscheiden würde, sei drei einfach verschwinden und tot sein zu lassen. Wollten sie wirklich in einem Universum leben, in der Fremde die Erde besetzt hielten und die Dunkelmächte um die Erde geisterten? Aber was um alles in der Welt konnten sie denn tun?

„Am einfachsten wäre eine Zeitmanipulation”, sagte Zo'or. „Wenn wir zurückgingen und die Entstehung der H.A.P. verhindern würden, so hätte es nie diese Linie gegeben. Die Koordinaten nehmen wir mit - in unseren Erinnerungen. Und schreiben sie auf.”

„Die Koordinaten!” lachte Haggis zynisch. „Die sind unser geringstes Problem. Wir können nicht zurück. Meine Berechnungen, mein ganzes Gefühl sagt mir, dass das Universum um ums kollabiert, wenn wir uns noch mal eine Manipulation erlauben. Und dann: adio amigos mit uns allen!”

„Wir haben noch ein einziges Portal zur Verfügung. Es blieb getarnt auf der Erdvergangenheit zurück. Dieses Schiff müsste nur nochmals näher an der Erde vorbeifliegen,” beharrte Zo'or.

„Und wenn es schief geht, dann ist das Team tot, ermordet von den Kraken und den Dunklen. Wenn schon nicht das Universum explodiert1” schimpfte Haggis. „Du glaubst doch nicht im ernst, dass uns das Schiff und die Crew das erlaubt.”

„Ich würde weniger laut unsere Absichten preisgeben”, erwiderte Zo'or kühl. „Roleta hat zwar einen geringeren Wahrnehmungsmodus hier, um unser Privatleben nicht unnötig auszuspionieren, aber wer weiß... Sie wirft Leute vom Schiff, die die Crew und sie selbst gefährden.”

„Ich frage mich, wieso du immer so leicht in Rage gerätst”, gab Augur Zo'or auch noch indirekt recht. „Immer musst du meckern. Woran liegt das nur?” Er bastelte gerade an einer seltsamen Vorrichtung, die wie ein Prototyp einer Maschine aussah. Der wollte doch nicht seinen Vorfahr imitieren...?

„Ich möchte, wenn ich schon nicht weiß, woher ich komme, wissen, wohin ich gehe. Und dass ich nicht in Fetzen zerfalle. - Woher komme ich, Zo'or? Wenn ich mal nachfragen darf?”

„Die Synode hatte Gewebsproben einer ausgezeichneten Mathematikerin, die fähig war, mathematisch bis zur 9. Dimension zu denken. Du bist ein Klon dieser Frau. Ein überlebender Klon von insgesamt dreien. Das Original hieß J.B. Street, Juliet Street, wenn ich mich erinnere. Die Synode setzte große Hoffnungen in die Klone, und ich verteilte die Klone in die verborgenen Raumstationen. Nun, du siehst nicht ganz so aus wie sie. Das Original war schlanker...”

„Oh, danke schön! Ich hatte eine eineiige ältere originale Schwester, und weiß gar nichts von ihr... Warte mal - Street, doch, ich habe etwas von ihr gelesen. War das nicht in deinem Museum, Augur?”

„Sie hatte eine Menge drauf”, knurrte Augur und versuchte, eine Phiole vorsichtig in das Dings hineinzustecken, was immer es war.

„Die anderen Klone sind alle umgekommen”, erläuterte Zo'or weiter. „Soweit wir wissen, wurden alle Raumstationen von den Jaridians zerstört, ausgenommen der, in der du aufgewacht bist. Und selbst dort waren die meisten Schläfer gestorben.”

„Du hattest wirklich einen fürchterlichen Ruf”, meinte Haggis zur Taelon. Sie kaute nachdenklich auf dem Schreibstift herum. „Dabei hast du die verschwundenen Leute vom Widerstand nur vorübergehend aus dem Verkehr gezogen. Die Menschen dachten, es seien alle tot.”

„Viele waren auch tot”, antwortete Zo'or. Das Thema war ihr sichtlich unangenehm. „Aber noch mehr wurden auf die Stationen verteilt. Ich hielt es damals für richtig und logisch. Wir brauchten die Menschen im Kampf gegen die Jaridians. Warum sollte ich gute Kämpfer eliminieren lassen? - Als wir die Core-Energie verloren hatten, waren wir nur nicht mehr imstande, sie zurückzuholen.”

Die Taelon verließ die beiden. Ja, die Lage war besorgniserregend. Zo'or wollte nicht sterben! Verlöschen, verebben, vergessen werden im Nirgendwo. Nur ein Schritt noch, und die Hell's Angels Party wäre endgültig vernichtet. Das Risiko war hoch, aber tragbar, fand sie. Jedenfalls für sie drei. Für sie, Zo'or, war es unumgänglich: Roleta musste zur Erde zurück, und ein letzter Zeitsprung musste versucht werden. Und zwar ohne Wissen der Crew.

 
* * *
 

Nach so langer Zeit einer gräßlichen Gefangenschaft genoß Da'an es, sich zu erholen und sich mit anderen Lebewesen zu unterhalten als mit primitiven menschlichen Wärtern. Als Mitglied des Kimera-Mensch-Taelon-Jaridian-Kollektives hätte der Taelon keineswegs sich Core-Energie zuführen müssen, aber Ko'lan hatte ihm die Benützung seiner Aufladestation gestattet. Zo'or hatte zwar ausführlich über eine gefährliche Quantenenergie-Intelligenz gesprochen, die in „ihrem” Kontinuum existiert haben soll, und die die Quelle dieser Energie war, aber das war doch ein klein wenig weit hergeholt. Nicht die Taelons, sondern diese Intelligenz sollte das Gemeinwesen der Taelons verkörpert haben? Wer sollte denn das glauben? -

Erfrischt, hatte Da'an sich Beschäftigung an Bord gesucht und war dabei auf Lukas gestoßen. In Anbetracht dessen, was dieses Kind auf der Erde erlebt hatte, war der Junge bemerkenswert intelligent, gefasst und wenig eingeschüchtert. Den Taelon hatte er bald als eine Art „Onkel” oder „Mentor” akzeptiert, und wenn der Kleine nicht die Bordschule besuchte, sich mit seinen Pflegeeltern abgab oder mit anderen Kindern spielte, war er meistens bei Da'an. Für Da'an war der Junge eine faszinierende Studie der Entwicklung der menschlichen Psyche.

„Wo gehen wir denn hin?” fragte Lukas und trabte wie selbstverständlich neben dem Taelon her.

„Wir haben heute einige betrübliche Stunden vor uns”, erwiderte Da'an ernst mit entsprechenden Gesten. „Ich habe mein Kind, Mi'nou, verloren. Gefangene sind gestorben, und Zivilisten. Bei unserer Befreiung wurde leider ein ganzes Beiboot vernichtet. Die Menschen und der Jaridian an Bord waren sehr vielen an Bord gut bekannt. Daher findet eine Verabschiedung all dieser Toten statt.”

„Oh, das tut mir leid”, meinte der Junge und ging schweigend neben dem Taelon her, um nach einigen Minuten zu fragen: „Sollten wir uns dann nicht Blumen besorgen? Auf der Erde haben die Toten immer Blumen bekommen, selbst die Inferiores.”

„Nun, an Bord wachsen nur eine gewisse Menge an natürlichen Blumen. Ich nehme an, dass alles von Seiten der Roleta vorbereitet wurde. Du musst wissen, dass wir nur den Geistern der Toten huldigen können. Die biologischen Körper gibt es nicht mehr.”

„Wo ist Mi'nou jetzt?” fragte Lukas unschuldig-neugierig. „Meine Mama sagte immer, es gibt einen Himmel, und dort kommen alle Toten hin und leben fröhlich und für immer ohne Sorgen.”

„Deine Mama war eine kluge Menschenfrau”, erwiderte Da'an. „Wir Taelons fühlen, dass der Geist nicht verlorengeht, sondern in uns, in unserem Kollektiv, weiterlebt, aber in anderer Form. Dasselbe gilt für Jaridians. So ähnlich ist es gewiss auch bei Menschen.” Der Taelon bemerkte, wie das Kind überlegte.
„Stell dir vor”, fuhr Da'an fort, „es wird ein Becher Wasser aus dem Wasserbecken geschöpft. Beim Tod wird der Becher zerschlagen und das Wasser fällt in das Wasserbecken zurück.”

Sie betraten nach einigen anderen Menschen die blumengeschmückte Zentrale, die diesmal vollständig gefüllt war. Dennoch ließ man Da'an, mit Lukas an der Hand, respektvoll zur Mitte hin durch. Dort standen bereits die trauernde Jaridianerin Trestim mit ihrem Sohn Hakar und den Töchtern Veljana und Bashay, die sich von ihrem toten Mann Korn't offiziell verabschieden musste; begleitet von Je'dir, Sy'la und Palwyr und deren Kinder. Etwas abseits standen Ariel mit Ko'lan und die Taelons Ken'tau, Mur'ru, Ka'sar und Neotaelons, zu denen sich Da'an und Lukas gesellten. Ihnen gegenüber standen eine ganze Reihe von Ehepartnern, Verwandten und Freunden der menschlichen Verstorbenen.

3-D-Bilder von den Verstorbenen wurden in die Mitte der Zentrale projeziert, die Hinterbliebenen erzählten von jedem Geschichten, die in Erinnerungen bleiben sollten, und es wurden auch Gebete gesprochen. Alle Toten hatten ein Gedenken, nur nicht...
Lukas schlich sich nach vorne zum Lautsprecher auf dem Podest und plötzlich war er davor. „Ich möchte auch etwas sagen!” rief er hinein. „Ich kenne die anderen nicht, aber ich möchte für meine Mama sprechen!”
Die Menge, die sich bisher flüsternd unterhalten hatte, wurde ganz still und sah zum Jungen hin, der sich so selbstverständlich in die Trauerfeier eingefügt hatte. Er stand da, die Augen ganz rot, und nun begannen Tränen die Wangen runterzurinnen. Lukas wischte sich mit einem Ärmel über die Augen, schluckte ein paar mal tapfer, schniefte und fuhr fort: „Ich möchte für meine Mama sprechen! Meine Mama ist tot und jetzt im Himmel, und ich hatte sie sehr lieb. Sie war nichts Besonderes, nur eine Inferiore, aber für mich war sie der beste Mensch von der Welt. - Und wenn all die anderen dahin gehen, so sollen sie ihr sagen, dass ich sie nie vergessen werde, solange ich lebe!”

Da'an kam und geleitete das weinende Kind vom Lautsprecher weg. „Ich fühle große Trauer für dich!” sagte der Taelon. „Und doch denke ich, dass deine Mutter ganz gewiss deine Worte gehört hat. Bitte beruhige dich und komm nun mit mir.” Carlinde Caspar kam als Pflegemutter schon nach vorne gelaufen und nahm Da'an den Jungen ab. „Diese Feier war zuviel für Lukas! Musste das sein?” empörte sie sich.

Der Taelon sah der Frau nach, die den Jungen in ihr Quartier bringen würde. Für Menschen, die sowenig Ahnung von einem übergeordneten Seelenkollektiv hatten, war der Tod noch immer erschreckend und eine Reise ins Ungewisse, eine Reise ohne Wiederkehr. Dementsprechend emotional erschütternd war für Menschen der Tod; der mehr war als ein Abschied: es war ein ungelöstes Rätsel, ein Mysterium. Worte halfen da nicht.

Da'an wandte sich, um zu gehen, und traf dabei auf Zo'or, die ganz weit hinten gestanden war. Sie begleitete Da'an nach dessen geistiger Aufforderung und Geste stumm in dessen Appartement.

„Deine Aura ist ein verräterisches Farbenmeer!” stellte Da'an emotionslos fest, kaum das sich die Tür geschlossen hatte. „Ich habe mich immer gefragt, wieso du als Synodenführer dich derart von Sandoval manipulieren lassen konntest. DAS beantwortet wohl die Frage!”

„Ich habe dich nie gefragt, wieso du mit Menschenfrauen deine Joinings durchgeführt hast, die nicht einmal in einem Kloster lebten. Also bitte spare dir die Moralpredigt.”

Da'an setzte sich gleichzeitig mit Zo'or, die gegenüber in einem Stuhl Platz nahm, da keine Hierarchie herrschte. ‚Was findest du an Ronald Sandoval?’ fragte Da'an nochmals geistig, und registrierte, dass Zo'or ihre Gedanken gegenüber den anderen Taelons abschirmte. Er machte es genauso.

„Die Eigenschaften der früheren männlichen Taelons: Intelligenz, Wille, Machtstreben, Ausdauer, Kraft... Leidenschaft... genügt das?” erwiderte Zo'or. „Und die Koordinaten des zerstörten Kimera-Wissensspeichers.”

„Die mutmaßlichen Koordinaten”, betonte Da'an. „Und dafür verkaufst du dich?”

„Ich habe mich mitnichten verkauft”, antwortete Zo'or verärgert. „Eine - ‚Allianz’ - war schon damals als Synodenführer in meinem Sinn. Das Schicksal wollte damals etwas anderes. Und jetzt - wird niemand etwas davon erfahren.”

Da'an hob ruckartig den Kopf. Was war das eben für ein Gedanke von Zo'or da? Und dann las er es in ihren Gedanken: Sandoval hatte ihr die uralte taelonische Hochzeitsformel zugeflüstert.

„In der Tat”, sagte Zo'or erbost. „Nicht nur, dass wir keine Core-Energie mehr hatten, er aber welche für sich selbst ungeniert abgezweigt und illegal konsumiert hat; er scheint in unseren Datenbänken allerlei Seiten über unsere Bräuche gelesen zu haben, die für ihn gesperrt waren. Er hat mir ein Geschenk gemacht und dann während unserer Verbindung auf dem Lager diese uralte vergessene Formel gesprochen. Ohne Zeugen, daher ungültig.”

„Er wird jede Erinnerung verlieren”, überlegte Da'an, und unterstrich die Worte mit entsprechenden taelonischen ausholenden Gesten. Sie drückten Aufgebrachtheit und Kritik aus. „Doch Sandoval war immer ein Meister der Intrige und Manipulation. Rache, oder Genugtuung? Nein, er muss sich etwas davon versprechen. - Du fühlst dich hoffentlich nicht an diese Tradition gebunden!?”

„Im Gegensatz zu dir, Da'an, halte ich nichts von überholten Bräuchen. Selbstverständlich fühle ich mich in KEINSTER Weise an Sandoval gebunden.”

Zo'or fühlte den stichelnden Gedanken Da'ans als Antwort: ‚Nun, das hoffe ich doch für dich, mein Kind! Denn ganz gewiss bist du wohl weniger - sentimental - ... als ich...’

 
* * *
 

Da'an sah Kristin forschend an. Das Mädchen, die Tochter von Sy'la und Je'dir, wartete auf ihre Mutter. Sie fühlte sich etwas vernachlässigt. Alle im Jaridian-Habitat waren dabei, die untröstliche Trestim zu beruhigen, die ihren Mann verloren hatte. Von den alten Jaridians war nur noch Je'dir am Leben - wie lange noch? Auch er hatte sein Lebensende erreicht. Viel mehr echte Jaridians konnten somit nicht mehr geboren werden. Die Neotealons waren erwachsen und bereit, ihr Leben selbst in ihre Hände zu nehmen. Da'an gab sich keinen Illusionen hin: früher oder später würden er, Ho'shin, Palwyr und Trestim wieder in das Taelon-Jaridian-Kimera-Mensch-Kollektiv zurückkehren müssen. Dieses Leben hier war nur ein kurzes Intermezzo - sie waren schon lange keine Individuen mehr.

Kristin saß am Tisch und malte. Das Bild hätte bestimmt gut in eine menschliche Galerie gepasst: die Kleine hatte Talent. Da'an betrachtete das Bild. Ein blauer Nachthimmel mit leuchtenden brennenden Rädern - das sollten Sonnen sein. Und Raumschiffe, die sie als leuchtende farbige Kreuze und Dreiecke dekorativ hineinsetzte. Während er hinsah, veränderte sich ein Kreuz von grün zu rot.

Da'an schloss die Augen, rief sich das Bild aus der Erinnerung zurück und öffnete die Augen wieder. Statt grün war das Kreuz rot. Er legte den Kopf etwas schräg und kam näher.

„Seltsam”, meinte er. „Aus grün wird rot - wie geht das, Kristin?”

„Was meinst du denn?” erkundigte sich die Kleine unschuldig.

„Das Bild. Aus einem grünen Kreuz wurde ein rotes.”

„Da'an - du träumst! Das habe ich rot gemalt. Das muss ich doch wissen, oder nicht?”

Der Taelon sah sie forschend an. Das Kind blockte die Gedanken ab, oder war es nur, weil sie nur teilweise Taelon war? Ihre Aura sah normal aus. Für einen kurzen Moment dachte Da'an selbst, er hätte sich getäuscht. Da'an hob seine Hand und hielt sie über dem roten Kreuz. Es war warm. Eine Restenergie.

„Kannst du das denn, Dinge verändern?” fragte er Kristin.

„Das wäre doch schön, wenn ich das könnte, Da'an”, meinte sie ausweichend und malte einige wellenartige Sonnenstrahlen. „Aber das kann keiner.”

„Vor langen Jahren gab es mal eine junge Wissenschaftlerin auf der Erde. Sie experimentierte mit Taelon- und Jaridian-Erbgut. Wenn ich mich recht entsinne - konnte sie das.”

„Was ist aus ihr geworden, Da'an?” fragte Kristin und starrte verbissen auf das Bild, das sie bemalte.

„Joyce Belman hätte fast die Erde vernichtet, weil sie ihre Gabe nicht kontrollieren konnte. Und entschwand dann auf eine höhere Bewusstseinsebene.”

„Das ist doch schrecklich!” meinte die Kleine und tat erschreckt. „Und sie ist nie wiedergekommen?”

„Nein”, sagte Da'an gedehnt. „Bis heute - wohl nicht.” Der Taelon wandte sich um und ging nachdenklich hinaus.

 
* * *
 

„Die Operation ist gut verlaufen”, bestätigte Dr. Boss. „Die Gehirnzellen haben bereits mit der Regeneration begonnen. Das ist erstaunlich. Kommt vermutlich von der Core-Energie, die ihr Taelons ihm gespendet habt. Trotz dieser beschleunigten Heilung muss er unbedingt einige Tage in den Regenerationstank.”

Zo'or sah nachdenklich zu dem Mann hinüber, der da in der Intensivstation mit glattrasiertem Kopf lag. Er lag da wie tot. Die vielen kleinen Wunden und Narben auf dem Körper schienen verschwunden zu sein - die Medi-Bots hatten gute Arbeit geleistet.

„Wieviel wird er noch wissen, wenn er aufwacht. Wie viel habt ihr von seiner Persönlichkeit übriggelassen?”

„Er wird seinen Namen völlig vergessen haben”, erwiderte Dr. Clares. „Und alles, was nach seinem 22. Geburtstag passiert ist. Auch genauere Details seiner Familiengeschichte. Dafür haben wir ihm einige neue Erinnerungen eingepflanzt. Kenntnisse und Fertigkeiten. Er wird denken, er habe ein Bauunternehmen geleitet und sei von einem Gerüst gefallen. Die schweren Verletzungen hätten seine Erinnerungen vernichtet.”

„Seine alten Erinnerungen mit den Companions, als Ronald Sandoval, sind also für immer dahin?” fragte Zo'or. Klang da etwa eine Spur Bedauern mit?

„Er wird keine bewussten Erinnerungen mehr haben. Allerdings unbewusst... Wir haben nicht das ganze Gehirn entfernt, und irgendwo mögen rudimentäre Reste von Erinnerungen im Althirn schlummern. Tief unten im Unterbewusstsein. Seine implantierten Erinnerungen werden jedoch für ihn alle Spuren verwischen.”

„Dann liegt Sandovals Glück wohl ab jetzt endgültig in seiner eigenen Hand”, meinte Zo'or. „Wie lautet sein neuer Name?”

„Jack Hanao Lasquez”, erwiderte Dr. Clares. „Er hatte solche Namen in seiner ursprünglichen Verwandtschaft.”

 

Ende von Kapitel 9

 

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