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  „Höllenengel” von Susanne   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Januar 2004
Alle hier vorkommenden Charaktere gehören den jeweiligen Eigentümern. Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Das Rätsel der Scharrbilder von Nasca wartet auf seine Lösung; und während die Kinder an Bord der Roleta das Fest Bastalet feiern, tauchen merkwürdige grausame Geschichten aus dem Nebel der Vergangenheit auf.
Zeitpunkt:  das Jahr 2345
Charaktere:  Haggis, Alex J. „Augur II.” Chevelleau, Da'an und Zo'or; die Bordintelligenz Roleta; Adolf Hitler, die Mönche Heinrich und Jakob, der Taelonforscher Ma'el, der Kimera Ha'gel, Liam Kincaid und Renée Palmer und ein mysteriöser schwarzer Mann; Je'dir, Korn't, Palwyr, Trestim, Sy'la und Kinder an Bord der Roleta.
 
Warnung: Diese Geschichte beinhaltet Gewaltszenen.
 

 

HÖLLENENGEL

Kapitel 2

 

Nachdem sie sich das neue Theaterstück „Bush und das Phantom” angesehen hatten - es behandelte die Geschichte irgend eines kleinen amerikanischen Politikers aus dem Beginn des 21. Jahrhunderts - besuchten sie noch das Wiener Café im wohlhabenden New Harlem-Viertel am Nordosthang der Appalachen. Das ehemalige New York war bekanntlich im Tzek-Krieg vollkommen vernichtet worden, doch sentimental wie die Nordamerikaner nun einmal waren, versuchten sie es notgedrungen etwas landeinwärts versetzt wieder aufzubauen. Das Viertel New Harlem hatte sich sogleich in ein Kunst- und Schickeria-Viertel verwandelt. Überall waren Theater mit tatsächlich noch echten Schauspielern, Holo-Kinos, Galerien und Konzerthäusern entstanden, dazwischen breiteten sich die modernen Apartement-Burgen mit den Gaststätten und den teuren Kaufläden aus.

Haggis bestellte sich bei der menschlichen Service-Dame im blauen Dress mit weißer Schürze - eine Seltenheit heutzutage! - einen warmen Apfelkuchen und eine Melange, während „Augur” II. sich ein warmes Brüssler Bier mit Waldbeeraroma bestellte. Das Schicke am „Wiener Café” war die Unmenge an Kaffee-, Tee- und Schokoladevarianten, europäische Getränkespezialitäten und ein Riesenbuffet an Kuchen. An antiken dunklen Kleiderständern hingen altmodisch in Halter eingespannte alte großformatige Papierzeitungen aus dem 20. Jahrhundert, gerade so, als ob sie noch jemand lesen würde. Kleine runde Tischchen und Holzstühle dienten den Gästen als Plätze, und da und dort lag Tabakgeruch in der Luft, natürlich ungefährlich und entnikotinisiert. Zu gewissen festgelegten Zeiten gab es leise Walzermusik im Hintergrund. Durch die West-Fenster konnte man Szenerien aus dem alten Wien mit Stephansdom, Prater und Schönbrunn sehen, als ob echte Menschen draußen vorbeieilen würden, obwohl sich das Lokal auf der 15. Etage befand. Die Fenster im Osten gaben den Blick über die bewaldeten Appalachen frei.

Alex J. („Augur II.”) aus der reichen Familie der Chevelleau und damit ein Nachfahre des berüchtigten „Augurs” des 21. Jahrhunderts, hatte mit den Jahren ein kleines Wohlstandsbäuchlein bekommen, war aber sonst noch ein recht munteres Kerlchen und hatte mit Haggis gerade die richtige Person gefunden für seine wissenschaftlichen Diskurse und Ideen. Während Haggis genussvoll mit den Lippen den mit zusätzlichem Rahm versetzten Milchschaum mit den Schokospuren vom Kaffee aus der Tasse absaugte, holte Alex wieder seine tragbare PC-Folie hervor mit seinen neuen Berechnungen. Er entrollte die Folie und der Schirm stabilisierte sich.

„Du könntest wirklich mehr Interesse zeigen”, sagte er nach einigen Minuten leicht frustriert. Haggis hatte kaum herübergesehen und stattdessen die Gabel mit den Kuchenstücken abgeschleckt.

„Tu dir doch nicht an, Junge”, maulte sie und nahm wieder einen Schluck Kaffee. „Du rechnest seit 10 Jahren und was ist in dieser Zeit rausgekommen? - Nichts.”

Alex runzelte leicht verärgert die Stirn und schob die Folie von sich. „Ich dachte, wir waren uns einig, dass die Entdeckung von Kimera-Speicher ein lohnendes Ziel wäre; sowohl wissenschaftlich als auch finanziell.”

„Ich denke mir, wir übersehen da etwas, und kommen einfach nicht darauf. Weißt du, was ich mir denke? Vielleicht sollten wir endlich einen der Taelons fragen, die damals auf der Erde waren. Da'an oder diese Zo'or.”

„Und den Erfolg mit denen teilen?” Das war ganz und gar nicht nach Augurs Geschmack.

„Wenn wir ohne sie nicht weiterkommen? Einen Versuch wäre es jedenfalls wert. Oder - du vergisst die Speicher einfach.”

Augur zögerte und trank schweigend von seinem rötlichen Bier. „Also gut”, sagte er nach einer Weile. „Du hast recht. „Wen sollten wir fragen?”

„Da'an ist an Bord der Roleta. Beginnen wir bei dem, und wenn der nichts weiß, fragen wir die anderen Taelons, zum Beispiel Ko'lan, der auch Wissenschaftler ist. Du wolltest ohnehin schon lange das Zefirschiff besichtigen. Ich habe Roleta überredet, dir als Gast vorübergehend Zutritt zu gewähren, sozusagen als verfrühtes Geburtstagsgeschenk. War gar nicht so leicht. Das Bordgehirn ist, was Besucher angeht, sehr eigenwillig und betrachtet jeden Gast als Sicherheitsrisiko.”

„Wunderbar!” Augur war geradezu begeistert. Endlich dieses Wunderding besichtigen, welches in den Jupiterringen parkte! „Haggis, ich schulde dir etwas! Ich wollte das Schiff und die berühmte Alien-Crew schon lange kennenlernen. Wann können wir?”

„Na, sobald du möchtest. Kann auch gleich sein. Aber erst will ich mir noch eines dieser leckeren Erdbeertörtchen gönnen. Wenn ich schon mal so ein Torten-Buffet vor der Nase habe.”

 
* * *
 

Der laute Donner der Waffen quälte das Gehör, zerfetzte die Nerven. Bumm. Bumm. Bumm.... Pfeifende Kugeln, krachende Einschläge. Die unsichtbare tödliche Gefahr puschte das Adrenalin durch die Adern. Die Landser pressten sich in ihren schmutzigen schweißigen erdig-grauen Uniformen verzweifelt gegen den feuchten Dreck der ausgehobenen Verteidigungsgräben. Es roch nach Kot und Urin. Nach Blut und nach Schmauch. Stellungskrieg im 1. Weltkrieg. Schreie der Vorgesetzten - sie gaben irgendwelche Kommandos. Kaum zu verstehen. Hinten wimmerten die drei Verwundeten, die von der Granate verletzt worden waren.

„Bumm!!!” Vorne flog ein Holzverbau in die Luft. Wenn die verfluchten alliierten Schweine nur kein Giftgas einsetzten...

„Sanitäter!” bellte der magere Gefreite mit dem breiten dunklen Schnauzbart. „Sanitäter! Nehmen Sie endlich die Verwundeten und bringen Sie sie ins Lazarett.” Die zwei Kerle da waren natürlich überfordert, und der Weg zum Lazarett lag unter Beschuss. Hitler wusste das. Aber wenn diese Lumpen schon nicht kämpften, sollten sie wenigstens ihre Arbeit ordentlich machen.

„Jawohl!” salutierten die zwei Jungs.

„Halt”, schnarrte Hitler mit seiner vom Geschrei heiseren Stimme. „Sie kenne ich nicht! Neu hier, was?! Name?”

„Heinrich Schwarz. - Jawohl, neu!” Der große bullige Mann mit den dunklen Haaren und Augen stand stramm. „Bin vom 3. Bataillon hier herversetzt worden. Das dritte...”

„Ja, ja, ich weiß, ging verlustig. - Nun, nehmen Sie die Teufel da, bevor sie verbluten und raus mit ihnen.”

Plötzlich sprang der Bulle auf Hitler los und riß ihn weg von der Stelle, an der er soeben noch gestanden hatte. Dort explodierte ein Bruchteil einer Sekunde später eine Granate. Die Splitter trafen den anderen Sanitäter, der weiter hinten bei den Verwundeten stand, in den Rücken.

„Was!” Der Gefreite war überrascht und zitterte vor Schock. Er musste erst tief durchatmen, bevor er mehr sagen konnte. Der dunkle Sanitäter aber sprang ungerührt auf und klopfte die Erde vom Rock. „Das war aber knapp, Herr G'freiter! - Sind Sie vollauf?”

„Ja, danke”, meinte der schweratmig. „Teufelskerl! Hast wohl die Granate der Feinde heranpfeifen gehört, was? Göttliche Fügung. - Nein, lassen Sie mich! Gehen Sie zu ihre Kameraden und bringen sie endlich von hier weg!”

Hitler stand auf, ließ den Mann stehen und eilte nach vorne, wo gerade einige seiner Männer, von Kugeln getroffen, in den Schützengraben zurückfielen.

 
* * *
 

Palwyrs noch kleinen Söhne Krosch und Nujak und ihre Tochter Daherr warteten wie Sy'las Töchter Alexa und Kristin auf ihrer aller Vater Je'dir, um die letzten Tipps zu erhalten. Das jaridianische Fest Bastalet war immer das Lieblingsfest aller Kinder auf Jaridia gewesen. Die Eltern mussten Geschenke im gesamten Schiff verstecken und eine Art Schnitzeljagd einleiten, wobei der Vater sorgsam auf die Geschicklichkeit und Intelligenz der Kinder in der Lösung der Aufgaben zu achten hatte. Durch die Lösung der Aufgaben und eine Art kriminalistische Suche fanden die Kinder nicht nur ihre Geschenke (die sie dann eifrig untereinander tauschen konnten), sondern als Ziel war die Auffindung der Mütter vorgegeben. Nicht genug damit, mussten sie darauf achten, nur ja nicht der gegnerischen Gruppe in die Arme zu laufen und gefangen genommen zu werden. Das bedeutete Schmach und den Verlust der bis dahin gefundenen Geschenke. Die gegnerische Gruppe waren die jüngeren Töchter von Trestim und Korn't, Veljana und Bashay, verstärkt durch die drei Menschenjungen Harald, Nobus und Muamar. Die hatten exzellent vorgearbeitet und gemeine Fallen ausgedacht; so hatten sie Interdimensionsportale im ganzen Schiff versteckt, die jeden, der in die Falle tappte, direkt in ihr Quartier und damit in die Gefangenschaft strahlte. Alexas Truppe hat das rechtzeitig ermittelt und ihrerseits alles getan, um sie heimlich außer Gefecht zu setzen.

Als „Belohnung” dafür, die Mütter gefunden und befreit zu haben, wurden zum Abschluss des Bastalet eine Party mit jaridianische Köstlichkeiten gefeiert, und alle konnten während des Festes Geschichten zum Besten geben.

Sy'la saß geduldig in einer scheinbaren Trägersäule in einem Hangar fest und beobachtete mit Vergnügen, was der Nachwuchs auf seiner Suche so alles anstellte. Die allessehende Roleta war so nett, ihr und Palwyr die Betrachtung zu ermöglichen. Als Krosch einem heimtückischen Portal auswich und dabei ins Schwimmbecken plumste, musste sie wieder einmal herzhaft lachen, zumal der Kleine anschließend wie ein Rohrspatz fluchte und durch den Krach gleich patschnass von Muamar in Gefangenschaft geführt wurde.

„Sie mal”, hörte sie Trestim. Sie lag versteckt in einer Couch inmitten der „Zentrale”. „Daherr und Kristin krabbeln da an der Decke entlang, weil sie denken, die Falle wäre am Boden. Dabei hat Korn't da unten Flugmobile für sie versteckt. Diese Kinder!”

„Und deine Veljana durchsucht gerade Da'ans Suite. Da'an wird ziemlich überrascht sein, sie bei sich vorzufinden, so ganz ohne zu fragen. Da kommt er schon”, frotzelte Palwyr, versteckt in einem Kühlschrank.. Was fiel Trestim ein, Je'dirs und Rj'levs Kinder zu kritisieren?

„Ach was”, sagte Trestim leichtfertig. „Der kennt doch Bastalet mittlerweile. War immer eine günstige Gelegenheit, die Quartiere der Taelons zu durchsuchen.”

„Sieh mal, wer da zu Besuch kommt”, wies Sy'la die zwei Jaridianerin hin. „Haggis und ein Gast! Haggis habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen.”

„Das ist dieser Augur II. Der wollte immer einmal dieses Schiff besichtigen”, erläuterte Trestim. „Roleta scheint endlich nachgegeben zu haben.”

„Und sie werden gleich - zu spät! Das versteckte Interdimensionsportal hat sie ins Gefängnis abgestrahlt. Sollen wir sie befreien?” Es war der Stimme Palwyrs anzuhören, dass sie die zwei etwas schmoren lassen wollte. „Zu Bastalet ist fast alles erlaubt. Lassen wir sie doch drin.”

„Nur ein Weilchen”, gab Sy'la ihrer „Schwester” nach. „Je'dir und Korn't werden es sicher bald bemerken und sie befreien.”

 
* * *
 

„Ich glaube das nicht!” schimpfte Haggis lauthals und schlug zornig auf die Tastatur. Die Türen öffneten sich einfach nicht. Das Rütteln am Sicherheitsgriff nützte auch nichts. „Wir sitzen hier einfach fest! Ja sind denn hier alle verrückt geworden?”

„Roleta, hörst du uns?” rief Alex und sah zur Decke des kleinen Aufenthaltsraums. „Du siehst und hörst doch sonst alles. Mach doch bitte die Tür auf. Wir haben einen Termin mit Da'an!”

Das Symbol des Bordgehirns kristallisierte sich an der Wand. „Tut mir leid, aber es ist Bastalet und ihr seid mitten im Spielgebiet. Das Spiel ist wichtig für die Kinder und ein Stück jaridianische Kultur. Ich fürchte, ihr werdet eine Weile hierbleiben müssen, bis die Kinder weitergezogen sind.”

„Kultur?! Ich pfeif auf die Kultur!” fauchte Haggis. „Ich bekomme Platzangst. Ich will sofort hier raus!”

„Haggis, du hast keine Platzangst”, stellte die Stimme des Bordgehirns ruhig fest. „Setz dich hin und trink einen Melissentee. In diesem Raum gibt es eine Kochplatte mit Servo-Robot.”

„Ich nehme das Angebot an und esse eine Kleinigkeit”, beschwichtigte Alex. „Vielleicht etwas Obst mit Eiscreme?” Er setzte sich, und der Servo-Robot brachte tatsächlich nach einigen Minuten einen Früchteeisbecher.

Kaum gesehen, wollte Haggis auch so etwas und gab eine Bestellung auf, doch der Robot kam und brachte ihr Tee mit Knäckebrot. „Leider muss ich dir als Teil der Besatzung Diät verschreiben”, hörte die rothaarige Frau fassungslos hinter sich. Roleta wagte es glatt, als Hologramm im Gefängnis zu erscheinen. „Du wiegst einen ganzen Klacks zuviel und hältst die empfohlenen Turmstunden nicht ein.”

Haggis keuchte vor Empörung. „Das ist genau der Grund, wieso ich so selten herkomme”, japste sie schließlich. „Ich lasse mir doch von dir keine Diät vorschreiben.”

„Musst du auch nicht. Keine täglichen 30 Minuten Sport - keine Nahrung hier an Bord außer Tee, Knäckebrot und Grünzeug.” Roleta schuf vor sich zum Hohn vor den Augen Haggis eine kleine Tafel, auf der sie alle möglichen Leckereien als reale Projektion erscheinen ließ. Haggis lief das Wasser im Mund zusammen. „Mhm! Krabbencocktail, Rumpsteak Wellington, Zimtparfait...” Die silberne Elfengestalt in der roten Robe schleckte, die Augen verzückt verdrehend, an einem Löffelchen. Dann ließ sie die Holografie verblassen. „Tja, aber leider...” Roleta verschwand.

„Das ist Erpressung und seelische Grausamkeit”, fluchte die Wissenschaftlerin und wandte sich wieder zu Augur um, der hatte aber die Eiscreme schon beendet. „Dieser Bordgeist wird immer gemeiner.”

 
* * *
 

Vergangenheit, Beginn des 21. Jahrhunderts, auf dem Taelon-Mutterschiff:
„Es ist gut, dass du mitgekommen bist”, meinte Liam Kincaid und drückte Renée kameradschaftlich kurz an sich. Sie stand noch immer da und beobachtete die Erde, die da hinten im sternenübersätem Weltall als blauer Punkt kleiner wurde. Sie waren an Bord des riesigen, aber bereits recht desolatem Taelon-Mutterschiffes, auf dem sich Tausende Atavus befanden. Ra'jel, der zurückgekehrte Geist der Taelons aus dem Kollektiv, steuerte das Schiff mit dem Ziel, für die wilden Prä-Taelons eine neue Heimat im Taelon-Territorium zu finden. Das war der Deal, weswegen die Vampirartigen die Erde überhaupt wieder verlassen hatten. Der frühere Anführer Howlyn, der die Menschen eher ausrotten wollte - ausgenommen vielleicht ein paar Sexsklaven - war tot, der junge Yulyn als dessen Sohn und Nachfolger war hingegen freundlich und hatte verboten, Menschen als Beute zu jagen. Der sah in Renée so etwas wie eine Ersatzmutter, und mit ein Grund, dass er sich so freundlich verhielt, war sicher die Tatsache, dass er noch jung und noch nicht voll geschlechtsreif war. Dafür noch beeinflussbar durch Renée und Ra'jel.

Renée Palmer war voller Vertrauen. Ein anderer Mensch hätte sich wohl kaum an Bord eines Schiffes begeben, voll mit immens schnellen, wendigen, extrem wilden, triebgesteuerten und nach Lebensenergie dürstenden Atavus. Mit ihren scharfen harten Nagelkrallen. Wer ihnen begegnete, konnte sich kaum ihrer animalischen sexuellen heißblütigen Anziehung entziehen. Bevor sie zuschlugen und mit ihren sich manifestierenden Energieklauen an den Händen einem die Lebensenergie aussaugten. Hände, die ebensogut Energie geben, das heißt heilen konnten. Hände, die als Teil ihres Shakaravahs ebenfalls Teil ihrer Sexualität waren. Das Shakaravah - das war eine Art energetisches spezielles Nervensystem als Erbe der Kimera, welches den Prä-Taelon durchzog, mit Chakren auch an Händen und Füßen. Und der Energieaufnahme, -abgabe und des Energieaustausches diente. - Die Atavus waren drauf und dran gewesen, ein unvorstellbares Massaker auf der Erde anzurichten.

Seit Liam auf Kamtschaka verloren ging, war Renée völlig aus der Bahn geworfen worden, ausgebrannt und psychisch völlig fertig. Keiner hatte sie unterstützt. Plötzlich war die Rettung Kincaids von niemandes Interesse, sie waren alle nur froh, Taelons und Jaridians losgeworden zu sein. Ihren Job bei Doors hatte sie verloren, sogar der US-Sicherheitschef Hubble hatte sie fallen gelassen. Sie hatte schließlich versucht, ihn mit einem privat gecharterten U-Boot aus der vulkanischen Höhle zu befreien, doch statt auf Liam und die neue Lebensform des Kimera-Mensch-Taelon-Jaridian-Kollektivs zu stoßen, welches dort dank der zuvor gefundenen atavistischen Heil- und Verschmelzungskammern entstanden war, fand sie wiedererwachte Atavus, die in den Tiefen geschlafen hatten, und die nun dabei waren, aufzuwachen. Die erste Beute der Vampire war die Besatzung des U-Boots. Sie, Renée, konnte gerade noch entkommen, gejagt vom grausamen, skrupellosen und triebhaften Anführer Howlyn. Und Sandoval, schwerverletzt aber noch lebend an Bord des energielosem Taelon-Mutterschiffs, holte die Atavus und die Heilkammer zu sich an Bord. Und wiederbelebte Zo'or in der Heilkammer, die nicht in das Kollektiv eingegangen war, mit Taelon-Energie als Atavus und als nicht ganz freiwillige Untertanin Howlyns. Weil sie schließlich die Codes zur Führung des Schiffes besaß. Der Psychopath Sandoval hätte aus grenzenlosem Hass gegen die Menschheit diese bedenkenlos zur Ausrottung den Prä-Taelons überlassen. Sandoval war Gottseidank jetzt tot, getötet von Renée, und Zo'or auch. Renée hatte noch den grellen Explosionsblitz des zerstörten Shuttles mit der verhassten Zo'or vor Augen.

Howlyns Gruppe hatte einst in längst vergangenen Zeiten mit ihrem antriebsdefekten Kolonialschiff die Erde besiedeln wollen, sie mussten sich aber dann aus zwingenden Gründen in den Koma-Schlaf flüchten. Jetzt, nach vielen Jahrhunderttausenden, waren inzwischen die Menschen als dominierende Lebensform auf der Erde entstanden - Howlyns Erde! Sie mussten in seinen Augen folglich weg. Das Schlimme an der Atavus-Sache war, dass keiner der Politiker Renée glauben wollte. Die Atavus versklavten mit Sandovals Hilfe systematisch geistig die politischen Verantwortlichen und die Obersten des Militärs. Schließlich machte Howlyn, der einem römischen Caligula in Penetranz, Machtgeilheit, Selbstverliebtheit und Zynismus in nichts nachstand, einen gravierenden Fehler. Die Prä-Taelons meuterten, töteten den Anführer, und der Jugendliche Yulyn folgte auf dem Thron. Außerdem war Kincaid wieder da. Er war aus dem Nirgendwo gekommen, aus dem Kollektiv, fast wie ein Geist. ER wollte mit den Atavus die Erde verlassen, und Palmer ging auf seinem Vorschlag hin mit.

Sie konnte es nur ahnen - doch Liam und Ra'jel waren mit einem bestimmten Auftrag aus dem Kollektiv zurückgekommen. Die Prä-Taelons hatten auf der Erde und im 21. Jahrhundert nichts verloren. Sie mussten in ihre Zeit zurückgebracht werden, denn aus ihnen sollten später die Taelons und Jaridians mitentstehen. Sie waren nicht nur durch den Raum zur Erde gelangt, sondern auch durch eine Zeitdilatation. Auf ihrem Kurs zurück ins Taelon-Territorium würden sie wieder durch die Zeit fliegen, ohne es zu wissen. Alles an Bord des bereits recht desolaten riesigen Taelon-Schiffes war dafür vorbereitet worden. Das Schiff würde dann automatisch zur Erde durch Raum und Zeit zurückkehren, denn es durfte nicht in der Vergangenheit bleiben.

Die Atavus waren fleißig dabei, die Reparaturen an Bord vorzunehmen, jedenfalls so gut sie es verstanden. Immerhin hatten sie die Energieversorgung in den wichtigsten Abschnitten des Schiffes wiederhergestellt, mit eigenen Aggregaten. Liam kehrte in seine Kabine zurück. Und da war es schon, das strahlende weiße fiktive Abbild Ha'gels. Eine Projektion des Kollektivs, direkt aus seiner Seele.

„Mein Sohn”, sagte Ha'gel etwas vorwurfsvoll. „Wieso musstest du Renée Palmer mitnehmen? So war das nicht vorgesehen.”

„Ich habe es nicht über mich gebracht, sie zurückzulassen. Sie hat gegenüber mir Gefühle entwickelt und in den vergangenen Monaten zuviel mitgemacht. Sie hat durch den Einsatz für die Menschheit verdient, am Leben zu bleiben.”

„So, dachtest du?” Ha'gel war nicht zufrieden. Verständnisvoll, liebevoll, unheimlich stark - aber nicht zufrieden. „Ich verstehe dich und deine Beweggründe. Dennoch glaube ich nicht, dass du dir im menschlichen Zustand über die Folgen deiner Handlung völlig im Klaren bist.”

„Renée wäre jetzt tot - gestorben vor etwa zwei Stunden bei einem Verkehrsunfall. Ein Verkehrsunfall, den sie im psychisch völlig aufgelöstem Zustand verursacht hätte. Und jetzt ist sie eben an Bord, und wird nie mehr zur Erde zurückkehren. Kein Schaden - nur Barmherzigkeit.”

„Und wenn du selbst wieder in das Kollektiv zurückgerufen wirst - was passiert dann mit ihr? Du gehörst nicht mehr dieser Ebene an, vergiß das nicht.”

„Ich hoffe, dass das nicht geschehen wird. Ich habe dem Kollektiv so gut ich kann gedient. Es könnte mir daher ruhig entgegenkommen und mich freigeben. Wir werden uns auf einem anderen Planeten niederlassen. Oder das Universum bereisen. Oder mit den Atavus mitgehen. Nicht zu vergessen, dass hier irgendwo im Schiff noch ungeborene Taelon-Kinder existieren, die jemand großziehen sollte.”

„Ja, die Kinder...”, sinnierte Ha'gel kurz nach. „Auch für diese benötigen wir eine Lösung, das ist wahr.”

„Das Schiff hat sie gut versteckt, nicht einmal die Prä-Taelons haben sie entdeckt.”

„Bring die Atavus zurück zu ihrem Bestimmungsort und sorge dafür, dass sie sich dort niederlassen. Es ist für die Zukunft äußerst wichtig. Es darf kein Fehler auftreten. Bis dahin - lebe wohl mein lieber Sohn!” Ha'gel sandte ihm noch einen Blick und tiefe Gefühle zu und verschwand im weißen Licht.

 
* * *
 

Vergangenheit, auf der Erde, etwa 1500 v. Chr.:
Ma'el hatte sein kleines Schiff auf der Erde in einem Tarn- und Schutzfeld gehüllt gelandet. Er hatte die Macht abgegeben und das Mutterschiff angewidert verlassen, wo sich immer mehr degenerierte und in Devolution befindliche Taelons tummelten. Sie hatten keine Begabung mehr für Philosophie, Kunstverständnis oder der Schönheit der perfekten Mathematik. Es entstanden keine neue Techniken mehr, keine Meisterleistungen der Literatur, keine neuen religiösen Einsichten. Und es gab keine Babies mehr. Alles stagnierte und dämmerte vor sich hin. Ja, die Taelons hatten nach der Zerstörung Taelonas durch die Jaridians überlebt, aber um welchen Preis! Die Wege zum Salz waren verloren, aber keiner von ihnen dachte daran, dass die Energievorräte nicht auf ewig reichen würden. Die Core-Energie gab ihnen ein Jahrtausende lang währendes Leben, Gesundheit, einen unüberwindlichen Energiekörper. Sie dämmte die wilden, beängstigenden Triebe und das Shakaravah ein und fügte die Gemeinschaft zum geistigen Kollektiv, in der jeder seinen fixen Platz und seine fixe kastenmäßige Arbeit hatte, in der die Gedanken in geregelten und regulierten Bahnen flossen, in der es keinen Besitz, keine Individualität und keine Gefühle gab, nur die Logik des Gemeinwesens, ausgedrückt durch die Mitglieder der regierenden Synode. Das Gemeinwesen war wie eine Art Ameisenkolonie. Der Einzelne war nichts, das Kollektiv war alles. Die einzigen, die freier denken durften, waren die Synodenmitglieder.

Ma'el sah die Zukunft völlig emotionslos und logisch - es würde ein Zeit kommen, in der die Taelons keine Energie mehr haben würden. Und da sie ohne Kriegerkaste militärische Nieten waren, würden die Jaridians die Taelons systematisch ausrotten. Es sei denn - man fände die perfekte Ergänzung. Ein Volk, dass die Gene der Taelons komplementieren würde, fähig, die Kinder der Taelons auszutragen, und das man als Krieger gegen die Jaridians losschicken könnte. Alles was vorstellbar war, war in diesem Universum auch möglich. Das Schicksal ließ für jedes Leiden ein Heilkraut wachsen, man musste es nur finden! Seit Jahrhunderten war Ma'el daher den Spuren früherer Forschungsreisenden auf der Suche nach so einem Volk gefolgt. Und hatte diese vage uralte Spur gefunden mit diesem Koordinatensystem. Vor Ewigkeiten mussten irgendwelche Vorfahren auf diesem Planeten gelandet sein. Immerhin war die Spur für Ma'el ausreichend genug gewesen, hierher zu fliegen.

Meine Güte, diese Wesen sahen taelonid aus und waren an Wildheit mit den früheren Prä-Taelons vergleichbar, natürlich intellektuell, technisch und kulturell diesen bei weitem unterlegen! Sie waren eine Art intelligente zweibeinige Raubtiere, obwohl vom Typ her eher Allesfresser, angepasst an ein Leben bei Flußläufen und auf Grünflächen. Blutdürstig, egozentrisch, triebhaft, selbst die Erwachsenen trotzig und stur wie Kleinkinder, verantwortungslos, habgierig und vollkommen unkultiviert. Eben halbe Tiere, die gerade mal Feuer entfachen und primitivste Werkzeuge herstellen konnten. Mit entsprechenden Implantate vielleicht zähmbar und nützlich.

So wie sie lebten, wurden sie selten mehr als 35 Erdumläufe um die Sonne alt. Im Vergleich zu Taelons war das gar nichts. Bei so kurzer Lebensdauer machte es somit rein gar nichts, ein paar Exemplare einzufangen und sie zu sezieren, um sie besser untersuchen zu können. Nach der biologisch-anatomischen Untersuchung konnten passende Feldstudien beginnen. Ma'el war aber nach dem, was er bislang gesehen hatte, äußerst skeptisch, diese Wesen für mehr als Sklaven verwenden zu können. Außer das Aussehen hatten sie mit Taelon nicht viel gemeinsam. Der Planet selbst wäre mit etwas Umformung kolonialisierbar, würden die Taelons das wollen. Das aber, wie Ma'el es wusste, war nicht das Bestreben der Taelons - die hielten das Leben an Bord des Mutterschiffes für ein bequemes gefahrloses Paradies, ein Verlassen des Schiffes galt als Unglück, Strafe und unermessliche Gefahr.

Völlig emotionslos ließ Ma'el das Schiff ein Fesselfeld erzeugen und ein paar Exemplare festsetzen, wie er es zuvor schon bei diversen Tiergattungen getan hatte. Die Menschentiere kreischten und weinten vor Entsetzten, kratzten und schlugen sich und rauften sich die verlausten Haare. Roboter verpassten ihnen zur Lähmung einen Energieschock, dann kamen die Exemplare auf die Sezierliegen. Ma'el musste zuerst die primitive Kleidung aus Tierfellen, Leder und gewebten Pflanzenfasern entfernen. Die Kleidung musste eingehend chemisch und mikrobiologisch untersucht werden. War sicher interessant. Eines der Exemplare hatte sich aus Angst angekotet und musste von einem Bedienungsrobot vorher gesäubert werden. Den drei jüngeren Weibchen wurden die Beine gespreizt für eingehende gynäkologische Untersuchungen. Vielleicht konnte man gleich bei einem mit einem Fertilisationsversuch beginnen. Zur Sezierung genügten zwei weibliche Exemplare.

Körperlich gelähmt, aber bei Gott nicht bewusstlos, verfolgten die Weibchen mit Entsetzen und Tränen in den Augen das Geschehen. Sie hatten offensichtlich, wie bisher die anderen untersuchten Tiere auch, vor dem todesbleichen haarlosen Außeririschen irrsinnige Angst. Eines der Weibchen schien im Anfangsstadium einer Schwangerschaft zu sein. Das bot eine gute Möglichkeit, einen Fötus zur Untersuchung zu gewinnen. Das andere, welches Ma'el für seinen Fertilisationsversuch auserwählt hatte, war zwar fortpflanzungsreif, aber hatte offenbar noch keinen Kontakt mit einem Männchen gehabt. Das war günstig für eigene taelonische Versuche.

Zwei der Männchen mussten ebenfalls gelähmt, doch bei vollem Bewusstsein, diverse Reaktionstests und nicht gerade rücksichtsvolle Untersuchungen über sich ergehen lassen. Weil sie sich unvernünftigerweise verkrampften, tat ihnen die eine oder andere Untersuchung weh. Die Sondenuntersuchungen aus After und Darm ergaben einige interessante Daten, so über Ernährungsgewohnheiten, Krankheiten und Darmparasiten. Vorsichtig wurden Sonden über Nase, Mund, Ohren und Augen in das Gehirn eingeführt und die Areale gereizt. Einer der Männchen starb dabei vor Angst. Ma'el musste mit Bedauern seine Untersuchungen an den Lebendobjekten unterbrechen und das Exemplar sofort im Saal sezieren, um Organe und Gewebeproben zu entnehmen.

Ma'el hatte für die nächsten Tagen jedenfalls genügend Arbeit. Die weggesperrten zwei Jungexemplare würden nach der Untersuchung der erwachsenen Halbtiere drankommen. Und dann war ja noch das zu schwängernde Mädchen.

 
* * *
 

Gegenwart, an Bord der Roleta:
Korn't hatte Haggis und Augur endlich befreit, und die beiden konnten endlich Da'an treffen und die Unterlagen zeigen. Der Taelon war zwar überaus interessiert, einen kimerianischen Wissenspeicher im Weltraum aufzuspüren, konnte aber mit den Berechnungen der Koordinaten und den Skizzen nichts anfangen - oder wollte er damit nichts anfangen? Da'an drückte sich etwas zu vage und zu unverbindlich aus. Manchmal konnte einem ein Diplomat mit seinen unverbindlichen, überaus höflichen, aber nichtssagenden Floskeln richtiggehend nerven; besonders, wenn man eine eindeutige Antwort erwartete.

„Was erwartest du denn?” fragte Alex. „Da'an stammt aus dem Kollektiv. Möglicherweise wollen die Kimera nicht, dass wir diese Hinterlassenschaft finden.”

„Wir sollten unbedingt Zo'or aufsuchen und fragen. Die hat möglicherweise weniger Hemmungen, auf die Berechnungen einzugehen.”

„Roleta!” rief Alex „Augur”. „Könntest du diese Sachen mal nachrechnen?”

Die schwebende silberne schlanke Gestalt mit silbernen Haaren, in roter Robe mit Kapuze und mit einem goldenen Gürtel erschien als lebensechtes Hologramm. „Kommt ihr auch schon auf die Idee, mich zu fragen?” Sie deutete breitete ihre Arme mit einer weitausholenden Geste aus mit den Worten „ich kontempliere”, schloss die Augen, als würde sie lauschen, und meinte dann: „ich habe keine Ahnung!”

„Du hast dir die Unterlagen noch nicht mal angesehen!” protestierte Haggis.

„Habe ich doch! Ich sehe ALLES, ich bin wie ihr wisst, das Schiff selbst.”

„Spion! Gibst du deine Schnüffeleien endlich zu!” maulte Haggis.

„Ich sehe alles, was ich mir vornehme, zu sehen. Aber meine Lippen sind immer versiegelt!”

„Ha!!”

„Ich will nicht so sein. Etwas habe ich doch gesehen: Deine Skizzen erinnern mich an Bilder, die in den Boden des Plateaus von Nazca in Südamerika eingescharrt wurden. Leider haben die Tzeks die meisten dieser Scharrbilder vernichtet. Einige Reste sieht man heute noch.”

„Scharrbilder?” fragte Augur verblüfft.

„Der Untergrundboden des Plateaus ist weißlich. Irgendwelche Indios zeichneten Linien in den Boden, indem sie den Boden aufscharrten. Dank der Wetterbedingungen und der Pflege blieben die riesigen Bilder über Jahrhunderte lang erhalten. Wann genau sie entstanden, und warum, ist nicht klar. Ihr Sinn ergibt sich erst aus der Luft: die Linien durchschnitten das Plateau, zeichneten riesige Tierbilder wie die von Affen, Vögel oder Spinnen in den Plateauboden. Im 21. Jahrhundert spekulierten die Menschen darüber, ob sie Botschaften an Außerirdische darstellen könnten. Als ich im Sonnensystem ankam, war das Plateau bereits voller Bombentrichter.”

„Gibt es denn Aufzeichnungen darüber, wie die Bilder ursprünglich ausgesehen haben?” fragte Augur höchst interessiert.

„Es gibt nur einzelne erhaltene Abbildungen über die Scharrbilder. Satellitenfotos sind nicht mehr erhalten, ich habe mich schon damals bei meiner Ankunft erkundigt. Die Erforschung der Scharrbilder durch eine Handvoll Wissenschaftler wurde Ende des 20. Jahrhunderts eingestellt. Es wäre wichtig, einen Gesamtüberblick über das damalige Plateau zu bekommen, jedoch...”

„Ist Zo'or zufällig an Bord?” fragte Augur.

„Da habt ihr Glück. Sie kam zu Besuch und ist noch nicht zur Erde zurückgekehrt. Soll ich fragen, ob ihr sie treffen könntet?”

„Bitte!” befahl Haggis. „Und mach ihr klar, wie wichtig die Sache ist.”

 
* * *
 

„Tand, Eitelkeit und Teufelswerk überall!” schimpfte Heinrich Krämer, der auf der einfachen Holzbank an der Wand saß, in seiner weißen Kutte mit Kapuze und dem schwarzen offenen ärmellosen Mantel darüber. Er gehörte wie sein Gegenüber dem Ordo Fratrum Praedicatorum, OP an. Der fromme Prior Jakob nestelte an seinem Kreuz an der Brust und nickte zustimmend. Er saß auf dem Holzstuhl seitlich vor seinem wurmstichigen Holzpult.

„Dieser Wahn, die göttlich bemessene Zeit mit einer ‚Uhr’ regulieren zu wollen. Die Menschen dünken sich immer mehr der Mutter Kirche überlegen mit ihren Irrlehren, als ob ein böser Geist umginge und sie besessen machte. Sie wagen es, im bösen Einfluss stehend, Fragen zu stellen! Wer die Lehren der heiligen Mutter Kirche in Frage stellt, stellt Gott in Frage! Das ist reine Ketzerei.”

„Die heiligen Wallfahrten werden zu Dirnengängen missbraucht”, fügte Prior Jakob dazu. „Die Leute bekleiden sich prächtig wie der Adel, mit Farben, Hauben und Spitzen, die ihnen nicht zustehen. Sie vertreiben sich die Zeit mit dem verbotenen Würfel- und Kartenspiel und mit Saufen im Wirtshaus. Und dann diese Badeanstalten! Die Badeanstalten in der Stadt sind ein einziger Ort der Hurerei und Verschwendung. Als ob es nötig wäre, sich öfters zu waschen als vor der Zeit der Ankunft Christi im Winter und am Tag vor Ostern.”

„Wer sich Farben zu tragen anmaßt, wie dem edlen Rot, oder Spitzen und Kettchen, dem gebührt der Stock, bis das Blut spritzt! ICH würde das nicht dulden. Das gottlose jüdische Pack gehört in seine Abgrenzung oder muss wie geboten unehrliches Gelb tragen, spitzen Narrenhut oder mit Schellen läuten, damit ein jeder ihnen aus dem Weg zu gehen weiß. So läuft man ihnen ahnungslos in der Stadt über dem Weg, diesen Gottesmördern.”

„Diese Widersetzlichkeit gegen Sitte und Gebot gab es früher nicht, da muss Hexerei im Spiel sein. Die Weiber wagen zunehmend Widerworte und brauen Giftgetränke. Ein Oheim von mir fiel unvermutet tot um. Die alte Vettel, die ihm den Haushalt führte, wurde streng verhört und gab zu, ihm am Vorabend giftig Wasser zu trinken gegeben haben. Die eigene Magd! Sie sagte, der Teufel habe es ihr eingegeben.”

„Und die Juden betreiben Zauberei, meiner Seel'! Sie wandern mit ihrem Kram übers Land ohne Aufsicht, schnappen da und dort Teufelswerk auf und tun ihre bösen Machenschaften und Wucherei. Sie verfluchen eine Ortschaft, vergiften die Stadtbrunnen, bringen Ratten. Leider duldet der Landesherr sie unter seinem Schutz.”

„Ich selbst habe eine fahrende Weibsperson arretieren lassen, die hat einen reichen Bauern verflucht, der ihr zuwenig mildtätig gewesen war. Prompt ging die Ernte durch Hagel verloren. Sie war verstockt und gab nicht zu, was ihr der Teufel als Buhle eingegeben. Außerdem betrieb sie Wahrsagerei und unsittlichen Tanz. Sie wurde am Hals aufgehängt, bis dass sie tot war.”

„Die Bibel sagt klar: Hexen dürft ihr nicht leben lassen! Sie müssen brennen, wie alles Böse. Aufhängen und ersäufen ist eine zu milde Strafe. Bedenke: Gibt es eine bösere Tat, als sich gegen Gott selbst zu vergehen?” Die Augen des Älteren, Pater Heinrich, funkelten voll Abscheu und Hass gegen alles Weibliche. Mit dem Weib kam die Sünde in die Welt, der Trieb und das Laster.

„Es gibt diesbezüglich keine klare Regel, und die Leute wollen keine Inquieriererei, nicht mal Bürgermeister oder Fürst. Wenn eines unserer Ordensbrüder die Vergehen untersuchen will, kann es geschehen, dass der Pöbel Partei mit der Teufelei ergreift und die Delinquenten rettet. Vor zwei Jahren, dem Heiligen Dominik sei es geklagt, verloren wir so unseren guten Bruder Lukas.”

„Unvorstellbar!” Die beiden Dominikaner schwiegen eine Weile. Der Prior stand schließlich auf und legte einige Holzscheite in das offene Kaminfeuer. Ein Eisenhaken hing aus der Öffnung, um das Eindringen böser Geister durch den Kamin zu verwehren. Die Welt war voller böser Geister und Dämonen, die nur darauf lauerten, ihre Opfer im Haus, auf dem Feld und im Wald zu finden. Da, selbst der Holzscheit im Feuer wimmerte, so wie die verfluchten Seelen wohl in der Hölle wimmern mussten.

„Es gibt Stimmen, von hochedlen Herren und von Seiten des Klerus selbst, die sagen, dass der Glaube an Hexenwerk reiner Aberglaube sei, denn die einzige Macht die es gäbe wäre die unseres Herrn Jesu Christi. Also müsse der Glaube an andere Mächte Aberglaube sein. Unser Eifer verhülle nur die allgemeinen Verunsicherung in Glaubensdingen und entspränge der Unzufriedenheit mit den Zuständen im Land. Das Volk benötigt, nach ihren Worten, Bekehrung in Güte, nicht Bestrafung. Und sie sagen auch, ein jeder würde unter der Folter gestehen, was man ihm sage, nur um dem Schmerz zu entgehen”, sagte Prior Jakob nachdenklich.

„Wenn es um das ewige Seelenheil geht?” widersprach Bruder Heinrich. „Und eine jede dieser gotteslästerlichen Personen erzähle dann dasselbe? - Siehst du, welche Verblendung der Teufel unter den Menschen sät!”

Die beiden Dominikaner schwiegen wieder und starrten ins Feuer. Draußen vor dem Kloster wurde es dunkel und damit gefährlich für Leib und Leben. Bald würde man zur Abendmesse rufen.

„Sag an, wie steht die Sache mit der Heiligen Reliquie Kölns, dem Haupte des Heiligen Vinzenz?” fragte Bruder Heinrich. Die Reliquie war verdammenswerterweise von Johannes Bäli Richtung Berner Münster entwendet worden im Jahre des Herrn 1463. Auch schon einige Jahre her.

„Nichts, nichts, diese gottlosen Diebe! Alle unsere Eingaben wurden bis dato ignoriert. Ah - Teufelswerk überall! Das edle Haus von Österreich will sich in Zürich für unsere Sache nun einsetzen.”

Plötzlich begann das Feuer laut zu wimmern, ein Windstoß fegte die Funken in die spätgotische schlichte Stube. Ein Schatten war da, und aus dem Schatten trat eine dunkle, bullige Gestalt, gekleidet ganz spanisch und nobel in bedrohlichem Schwarz.

„Heiliger Gott!” rief Bruder Jakob, sprang auf, und wich mit Bruder Heinrich zurück zur hinteren Wand. Der Unhold stand da und versperrte den Weg zur rettenden Tür. Der Prior ergriff das Kreuz auf seiner Brust, hielt es hoch und rief, völlig überzeugt, dass es wirke: „Weiche von uns, Satanas! Im Namen des Herrn Jesus Christi, verlass’ diesen Raum, sofort!”

„Ja, wieso denn so eilig?” frotzelte der dunkle bullige Mann. „Ich fühle mich ganz wohl, und deine Kinkerlitzchen wirken bei mir nicht, Jakobus Sprenger, du mächtiger Inquisitor von Köln, Trier und Mainz. Ja, ebenfalls meine Verehrung, Generalinquisitor von diesen Städten sowie und von Bremen und Salzburg. Wie geht so das Geschäft des Verleumdens, Beschlagnahmens und Bratens? Schon viel eingenommen dieses Monat?”

„Teuflischer Gesell! Im Namen Gottes, sag deinen Namen und dein Begehr, und dann verschwinde von dannen!” fauchte Heinrich Krämer - oder wie er sich lateinisiert nannte: Institoris, und schlug ein Kreuzzeichen. Der Gestank plötzlich im Raum konnte nur von diesem Teufel kommen, nicht aus ihren eigenen angstvoll blubbernden Bäuchen.

„Ich, Luzifer, Fürst der Hölle, dem die ganze Erde gegeben ist, wollte euch nur ausrichten, dass euer Begehren vom Papst Innozenz VIII. stattgegeben wurde und er mit der Schrift ‚Summis desiderantis’ die Hexenverfolgung wagt zu befehlen. Ich habe es eben zu Rom erfahren! Meine Rache für diese Hexenbulle wird furchtbar sein! Im ganzen weiten Land werde ich, Männlein wie Weiblein, vor allem begabte Weiblein, in meinen Bann ziehen, sie in Zauberkünsten und Giftmischerei unterweisen und das Volk gegen die Kirche und Obrigkeit aufwiegeln. Selbst Nonnen, Mönche und Priester werde ich mir holen, und jeden gelehrten Menschen. Kein einziger wird verschont, kein einziger! Ich werde eure Kirche vernichten und alles an das das ihr glaubt - oder nicht glaubt, was eher wahr ist. Eure Machenschaften habe ich all die Jahre wohl beobachtet, nichts ist mir entgangen! Und lasst euch bloß nicht einfallen, eurer widerliches Werk „Malleus maleficarum” fertigzustellen, sonst komme ich euch persönlich holen, um euch zu zerreißen!”

Die dunkle Gestalt verschwand verblassend, wohl wissend, dass die zwei Dominikaner jetzt erst Recht im Bund mit dem Papst die Hexenverfolgung vorantreiben würden.

„Bei meiner Seele”, sagte Sprenger zitternd, „wer kann die Existenz des Bösen bestreiten, der das gesehen hat, was wir gesehen haben? Sollen wir das nicht sofort den Mitbrüdern berichten?”

Institoris, auf die Holzbank gesunken, straffte sich plötzlich. „Um alles in der Welt, bloß nichts erwähnen! Sonst vermutet man gar, wir selbst stünden mit dem Bösen im Bund, hat uns der Gesell auch gar nichts getan und wir haben ihm statt mit Taten nur mit Worten entgegnet! - Sag lieber, wann unser Buch, fertiggestellt, in Druck zu Straßburg erscheinen kann, damit er wie ein Hammer in das schandbare Hexenvolk einschlage?”

„Es fehlen noch einige Exempel und die Rechtsprechungen, doch denke ich, 1487 werde es wohl sein. Ich hätte gezögert, doch nun, nach diesem Abend, bin ich überzeugt, es ist Gottes Wille!” Die Glocke zur Messe läutete.
„Komm, lieber Bruder, es ist höchste Zeit, für unser aller Seelenwohl zu beten in solch einer Zeit.”

 
* * *
 

„Wem habt ihr die Skizzen gezeigt?” fragte Zo'or in ihrem Apartement die zwei Besucher. „Da'an? Der wusste wieder von nichts? Das wundert mich nicht.” Sie besah sich wieder die Skizzen. „Ja, ich erinnere mich, ich denke, ich kann die fehlenden Linien hier nachzeichnen. Als wir auf die Erde kamen, hatte ich die Betreuung der UNO in New York über. In diesem Rahmen war ich auch in Lateinamerika und hatte diese merkwürdigen Linien aus der Luft betrachtet. Ihr meint, es sind Sternkonstellationen mit Koordinatenangaben? Demnach stellen die Zentren der Figuren den vermuteten Standort von kimerianischen Wissenspeichern dar?” Sie überlegte. „Ich frage mich, wer diese Scharrbilder veranlasst hat.”

„Um ganz sicher zu gehen und die Koordinaten zu präzisieren, würden wir noch die Koordinaten eines der Speicher kennen”, erinnerte Augur. „In den Berichten meines Vorfahren über die Taelons heißt es, eines der Wissenspeicher wurde damals zufällig gefunden, doch hat der dortige Zentralcomputer die Anlage gesprengt, weil sie defekt war.”

„Als ein Jaridian aus einer Zelle ausgebrochen war. Die Shuttles von Major Liam Kincaid und Agent Ronald Sandoval haben den Jaridian an Bord mit Captain Lili Marquette verfolgt. Ich fürchte, die Daten gingen mit den Speichern des Mutterschiffes verloren. Ich habe mir die Koordinaten seinerzeit nicht eigens angesehen.”

„Schade”, meinte Haggis enttäuscht. „Das hätte uns jahrelanges Suchen erspart.”

„Die Sache interessiert mich”, sagte Zo'or. „Einen Wissenspeicher der Kimera zu finden würde uns eine unglaubliche Technik zur Verfügung stellen. Jedenfalls, wenn wir den Speicher betreten dürfen. Ich kann mit euch nach Südamerika portalen, damit wir uns die Überreste auf dem Nasca-Plateau ansehen. Vielleicht finden wir noch etwas mit Bedeutung. Gebt mir nur noch einige Minuten.”

Während sich Zo'or bereitmachte, ging Haggis ungeduldig auf den Gang hinaus. Eine blonde hochgewachsene Frau mittleren Alters kam ihnen entgegen.

„Na so etwas! Haggis! Ich habe dich auch schon lange nicht mehr gesehen!”

„So. Kennen wir uns?” fragte Haggis die Frau, die im Gesicht aussah wie...

„Ich bin es, Andrea! Andrea Anderson! Wir sind doch alle zusammen aus dem Koma-Schlaf erwacht, das wirst du unmöglich vergessen haben!”

„Bist du die Schwester von Andre?” fragte Haggis stirnrunzelnd und etwas verwirrt.

„Schwester! Du bist ein Scherzkeks. Ich habe keine Geschwister und keine Klone. Ich bin es, Andrea! - Klingelt es bei dir noch immer nicht?”

Haggis wurde übel. Doch nicht etwa umoperiert? Andre doch nicht! - Jetzt kamen auch noch Augur und Zo'or heran.

„Roleta!” rief sie kläglich. „Spinne ich oder die ganze Welt? Seit wann ist diese Andrea an Bord und wo ist Andre Markus Anderson abgeblieben?”

Das Hologramm des Bordgehirns materialisierte sich und musterte sie besorgt. „Du siehst schockiert und verwirrt aus, Haggis”, sagte Roleta. „Es gab noch nie jemanden an Bord namens Andre Andersen. Es gab nur Andrea, die neben dir steht. Fehlt dir etwas?”

„Ich bin doch nicht krank!” fauchte Haggis. „Vielmehr seid ihr alle verrückt geworden. Deine Speicher sind falsch, Blechintelligenz!”

„Sie glaubt, was sie sagt”, meinte Roleta ratlos. „Ich habe Haggis gescannt.”

„Leg deine Hand in meine und denke an diesen bewussten Mann”, forderte Zo'or Haggis auf, die es zögerlich tat. Zo'or schloss die Augen und lauschte nach innen, um dann Haggis Hand loszulassen. „Ich sehe Bilder eines blonden Mannes, der dieser Frau da ähnlich sieht. Haggis hat reale Erinnerungen an einen Mann namens Andre.”

„Ich muss dem nachgehen”, sagte Roleta. „Das sind mir zu viele auftauchende Illusionen in letzter Zeit.”

„Ich habe keine Zeit”, sagte Haggis barsch. „Wir lassen uns jetzt nach Nasca abstrahlen. Inzwischen kannst du deine Theorien wälzen. Wir können ja dann später weiterdebattieren.” Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Vermutlich würde ihr dann später jemand gestehen, dass der weibliche Klon ein Scherz gewesen war.

 

Ende von Kapitel 2

 

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