Weihnachtsdrabbel I
Es schneite in Washington. Dichte, schwere Flocken wirbelten und tanzten im Wind. Mit dem ersten rötlichen Licht der Sonne, das mühsam die graue Wolkendecke durchdrang, ließ auch die Gewalt des nächtlichen Sturms nach.
Mit dem ersten Licht verließ William Boone sein großes, leeres Haus. Nur die Erinnerungen hielten ihn hier. Außerdem, würden die Orchideen einen Umzug unbeschadet überstehen?
Während er sich auf den Weg machte, ließ sich die blasse Mondsichel noch am Himmel erkennen, die Straßen waren menschenleer. Auto und Shuttle hatte Bonne bewußt stehen lassen, er brauchte Zeit für sich, er mußte nachdenken.
Rauhreif, der wie Engelsstaub funkelte und glitzerte, überzog den Holzzaun, der den Friedhof umgab. Hier war der Schnee unberührt und nur zwischen den Bäumen sah man die Pfotenspuren eines Eichhörnchens. Boone ließ Nüsse für das Tier zurück und ging zu dem Grab seiner Frau. Vorsichtig zog er eine kleine rote Kerze aus seiner Jackentasche, die in ein kristallenes Gefäß gefaßt war. Bedächtig zündete er den Docht an und schaute eine Zeitlang der flackernden Kerze zu.
„Frohe Weihnachten, Liebste!” Er hauchte einen Kuß auf seine Fingerspitzen und ließ sie den Linien des kalten Grabsteins folgen.
Dann erhob er sich und machte sich auf den Rückweg. Er arbeitete für jemand, der ihm alles genommen hatte. Da'an oder Doors, in Gedanken wog er beide Namen...
Ein roter, buschiger Schwanz verriet das Eichhörnchen, das dankend das Futter angenommen hatte.
* * *
Die Weihnachtslüge
Der Mond ging auf und tönte den östlichen Horizont mit seinem fahlen Licht silberweiß. Auf der Erde ließ das Licht des Mondes die weiße Decke aus dichten Schneeflocken funkeln und die Eisblumen an den Fenstern hoben sich in all ihrer Schönheit von dem erleuchteten Hintergrund ab.
Jonathan Doors saß in seinem Wohnzimmer und starrte in die Flammen, die gierig an trockenen Holzscheiten leckten. In tiefes Rot hatte das Feuer den Raum getaucht und bizarre Schatten wogten in den Ecken und hatten sich auf dem zerfurchten Gesicht es alten Mannes niedergelassen.
Er war nicht gekommen! Hätte es anders sein können? Hatte er sich nicht etwas vorgemacht?
Seine Hände verkrampften sich um die Armlehnen, seine Fingernägel gruben sich tief in das braune Leder.
Sein Sohn war jetzt 19 Jahre alt. Sein Sohn? Ein trockenes Lachen drang aus seiner Kehle. Fremder hätte er niemandem sein können.
Vor einem Monat hatte er zum ersten Mal den Mut aufgebracht, mit Joshua zu sprechen, so vieles hatte er nach dem Tod seiner Frau erkannt und soviel gab es, für das er sich entschuldigen wollte. Nach dem Tod seiner Frau blieb nur sein Sohn, der ihm das Einzige auf der Welt gewähren konnte, wonach er sich sehnte und was er sich nicht kaufen konnte.
Was konnte man sich mit Geld schon kaufen? Vergnügen? Mit Sicherheit. Glück? Nicht mit allen Milliarden und Schätzen der Welt.
Doch auch der Weihnachtsabend, der Tag der Hoffnung für die Welt, war verstrichen, ohne daß Joshua erschienen wäre, und alle Hoffnung auf einen Neubeginn schwand aus Jonathan Herz.
Weihnachten war eine Lüge, es gab keine Hoffnung, kein Verzeihen und keine Liebe. Nicht für ihn!
* * *
Joyce
Weihnachtliche Musik drang aus den großen Lautsprechern, die versteckt unter der Decke angeordnet waren. Die zarten Klänge hallten, in den vertrauten Melodien, von den Wänden wieder und untermalten die Gespräche der Feiernden. Das Hauptquartier des Widerstandes, sonst eine Zentrale eines Guerillakrieges, war in liebevoller Sorgfalt mit Mistelzweigen und Tannenschnitten verziert worden. Lange Girlanden aus Metallpapier, in denen das Licht matt funkelte, waren an der Decke angebracht worden und bunte Girlanden trugen zu der festlichen Atmosphäre bei. Unter einer Riesen-Tanne, auf deren Spitze ein Weihnachtsengel seine gläsernen Flügel ausgebreitet hatte, lagen Geschenke. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, jedes mit einer Schleife zu versehen und auf kleine Kärtchen mit goldenem Stift und schwungvoller Schrift die Namen der Empfänger zu schreiben. Alles strahlte Ruhe, Frieden und muntere Heiterkeit aus, die hier nur selten anzutreffen war. Der Weihnachtszauber hatte, auch hier, tief unter der Erde, seine Wirkung getan. Augur tanzte etwas abseits von den anderen mit Lili, und ein schelmisches Lächeln zierte sein Gesicht, als er sich immer näher an sie schob. Doors war in eine rege Unterhaltung vertieft, mit einer der Technikerinnen, die Julianne Belman nur vom Sehen her kannte. Beide hielten ein Punschglas in der Hand und nippten hin und wieder an dem aromatischen Getränk, dessen Geruch den ganzen Raum erfüllte. Liams Lachen erklang immer wieder und hob sich deutlich von den anderen Geräuschen ab. Mit weit ausholenden Gesten gab er eine seiner Heldentaten zum besten und genoß sichtlich die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde.
Nur Dr. Belman saß etwas abseits und beobachte das bunte Treiben, ohne selbst daran teilzunehmen. Mehrfach hatten die anderen versucht, sie in ein Gespräch miteinzubeziehen, aber ihre knappen Antworten hatten sie schnell wieder vertrieben. Sie war nicht in der Stimmung für eine Party. Seufzend lehnte sie sich zurück.
Ihr fehlte Joyce.
Die Musik um sie herum wurde leiser, bis sie nicht mehr zu hören war, und auch die Gespräche um sie herum schienen abzuebben. Dafür erhob sich die klare Stimme einer einzelnen Querflöte, die eine süße und sanfte Weise spielte. Die letzten Töne wurden begleitet von einer vertrauten Stimme.
„Ich liebe Dich, Mutter!”
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