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  „Li'en” von Se'la   (Emailadresse siehe Autorenseite),   November 2003
Alle hier vorkommenden Charaktere gehören den jeweiligen Eigentümern. Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Li'en ist auf der Erde und wird von ihren Erinnerungen überwältigt.
Zeitpunkt:  dritte Staffel, „Blutsverwandte” (die Episode, in der Da'an Liam verrät)
Charaktere:  Li'en (Freiwilliger, Rafaella, Mörder)
 

 

LI'EN

Kapitel 3

 

Irgendwo in Washington

Sie stand auf einer Straße. Orientierungslos. Die Autos rasten an ihr vorbei. Als sie nach oben sah, ragten vor ihr hohe Gebäude in den blauen Himmel auf. Die Formen und auch die Farben der Gebäude waren ihr fremd. Sie schienen tot. Aber dennoch war auch an diesem Ort Leben, nur in einer anderen Art, als sie es kannte.
Die Luft war erfüllt von den unterschiedlichsten Geräuschen und Gerüchen, die sie nicht einordnen konnte. All dies Neue ließ sie taumeln.
Die Menschen, die an ihr vorbeigingen, beachteten sie nur insoweit, dass sie sie anrempelten. Aber Li'en war einfach so überwältigt, dass sie das gar nicht bemerkte.
Sie hörte, wie zwei Frauen heftig miteinander über etwas diskutierten, was sie nicht ganz verstand. Ein Auto fuhr mit dröhnender Musik an ihr vorbei. Weiter weg, vor ihr, konnte man etwas quietschen hören und jemand schrie laut und zornig.
Sie drehte sich immer wieder um ihre eigene Achse, um ja nichts zu übersehen. So viele Menschen und so unterschiedlich. Und nirgendwo war ein Taelon zu sehen! Sie betrachtete all das Neue und wusste, sie hatte noch viel zu lernen. Vielleicht wäre es doch nicht so leicht, auf der Erde zu leben. Aber darüber konnte sie sich später immer noch Sorgen machen. Sie war frei - und das war alles, was zählte!
Li'en spürte, wie sie einige Menschen verwundert, aber auch mißtrauisch ansahen. Es lag bestimmt nicht nur an ihrem Benehmen. Sie sah an sich herunter. Sie hatte immer noch den schwarzen Anzug an, den jeder Hybrid auf der Basis trug. Sie müsste sich irgendwoher neue Kleidung holen.
Aber wenn sie etwas verstanden hatte, dann war es die Tatsache, dass man so etwas wie Geld brauchte, um bestimmte Dinge zu bekommen. Das hatten ihr verschiedene Hinweise und Schilder schon gezeigt.
‚Es war gut, dass Rafaella uns zumindest ansatzweise das Lesen beigebracht hat’, dachte sie.
Sie drehte sich um und schaute in das Fenster eines Elektrofachgeschäfts. Ein paar Dutzend Programme liefen, auf ebenso vielen Fernsehern.
Für sie war das nicht weiter von Interesse. Sie musste sich vielmehr überlegen, was sie als nächstes tun wollte.
Dann aber sah sie ein Bild, dass ihre Aufmerksamkeit erregte. Auf einen Kanal wurde das Bild von Rafaella gezeigt, sie erkannte es sofort wieder. Sie verstand nicht, was der Mann im Fernseher redete, aber sie brauchte niemanden, der ihr sagte, dass sie tot war. Rafaella war ermordet worden - und sie wusste, von wem. Li'en hatte ihn einmal gesehen, nur kurz - aber jetzt erinnerte sie sich endlich wieder ...

Es lag noch gar nicht so lange zurück ...

*Li'en trat aus dem Portal. Sie stand in einem kleinen Raum. Staunend sah sie sich um. Es sah alles vollkommen anders aus als auf der Basis. Rafaella hatte ihnen, wann immer Zeit war, von der Erde erzählt, aber hauptsächlich von etwas, das sie ‚Natur’ nannte ...
Die Wände hier waren grau, und auch, als sie aus dem Raum trat, änderte sich daran nichts. Auf der Basis war ein ständiges Pulsieren von Energie gewesen, überall ... Hier erschien alles kalt und leblos. Der Gang war relativ lang und leer. Wo war sie jetzt bloß hingeraten? Sie wünschte sich irgend jemanden zum Reden, den sie fragen konnte, wo sie war und wie sie sich zu verhalten hatte. Sie musste auf jeden Fall irgendwie Rafaella finden.
Leise ging sie den Gang entlang, immer nahe der Wand. Sie ging an einem Fenster vorbei. Draußen sah sie den blauen Himmel und hohe Gewächse. Nach Rafaellas Erzählungen, mussten das Bäume sein. Auf einem großem Platz sah sie viele Freiwillige in einer Reihe hintereinander her laufen. Vor Schreck wich sie zurück, so dass man sie von Fenster aus nicht sehen konnte.
Bestimmt waren sie auf der Suche nach ihr! Sie würden sie wieder zurückbringen!
Ihr Herz klopfte schneller. Irgendwie musste Li'en dort weg. Sie lugte noch einmal durch das Fenster, aber die Freiwilligen waren nicht mehr zu sehen.
Schnell rannte sie weiter, sich immer wieder gehetzt umsehend. Plötzlich kam ein Trupp Freiwilliger um die Ecke. Sie verlangsamte ihren Schritt und überlegte, ob sie ganz stehen bleiben sollte. Sie biß sich nervös auf die Lippen.
Sollte sie einfach davon laufen?
Aber welchen Sinn hatte das - sie kannte sich doch nicht aus!
Ihr fiel auf, dass sie noch nie einen von ihnen auf der Basis gesehen hatte. Auch verhielten sie sich nicht, als wüssten sie, wer sie war. Als die Freiwilligen näher kamen, wich Li'en ihnen aus. Sie gingen an ihr vorbei, ohne von ihr Kenntnis zu nehmen. Verwirrt sah Li'en ihnen nach. Sie kannten sie offensichtlich wirklich nicht! Es schien, als würden Freiwillige nicht nur, wie sie immer gedacht hatte, auf der Basis arbeiten. Von da an bewegte sie sich freier. Wenn sie nicht alle kannten, hatte sie auch nichts zu befürchten.
An einer Wand entdeckte sie ein Schild, auf dem etwas mit roter Schrift geschrieben stand. Sie brauchte einige Zeit, bis sie lesen und verstehen konnte, was dort stand.
‚Was heißt wohl ‚Kantine'?’
Ob sie es dort wagen könnte, jemanden zu fragen, wie sie hier weg kommen könnte?
Nach kurzer Überlegung entschloss sie sich, den auf dem Schild genannten Ort aufzusuchen.
Bald kam sie an einer Tür vorbei, die weit offen stand. Ihr waren auf dem Weg noch kleinere Gruppen Freiwilliger entgegengekommen, aber niemand hatte sie aufgehalten. Einige hatten sie nur etwas länger wegen ihrer Kleidung angesehen.
Der Raum war voller Freiwilliger. Sie hätte nicht gedacht, dass es so viele von ihnen gab! Wo sollten all diese Leute denn arbeiten? Sie passten doch gar nicht alle in die Botschaft! Gab es etwa noch andere Arbeiten für sie? Sie hatte immer geglaubt, alle Menschen wären Freiwillige und Wissenschaftler - oder Ärzte. Gab es noch mehr Projekte wie die auf der Basis?
Und wie verschieden sie alle aussahen! Es waren so viele und trotzdem gab es keinen doppelt! Sie hatten sogar unterschiedliche Augen! Die von Li'ens Brüdern und Schwestern waren sämtlich blau. Sie versuchte sich zu erinnern, ob die Wissenschaftler auch andersfarbige Augen gehabt hatten und daran, welche Farbe Rafaellas hatten, aber sie hatte sie nie wirklich genau angeschaut - oder sie hatte es schlicht vergessen. Die einzigen Augen, die sich in ihren Geist eingebrannt hatten, waren die blauen, kalten der Taelons ...
Sie sah, dass alle auf Stühlen an Tischen saßen und sich komisches Zeug in den Mund stopften. War es das, was Rafaella ‚Essen’ genannt hatte?
Mit wachsender Verwirrung sah sie sich um. Alles war so fremd und neu!
Sie seufzte leise. Li'en spürte, wie schwach sie war, und entschloss sich, eine Pause zu machen und sich hinzusetzen. Trotz der Experimente, die mit ihr gemacht worden waren, spürte Li'en, wie niedrig ihr Energielevel war. Normalerweise wäre jetzt die Zeit für eine Energiedusche gewesen.
Sie setzte sich an einen Tisch in einer Ecke des Raumes. Müde senkte sie den Kopf. Sie konnte zwar lange ohne äußere Energiezufuhr auskommen, aber der Tag war zu anstrengend gewesen.
Durch das Fenster konnte sie sehen, wie es langsam dunkel wurde. All die Geräusche und vielen Stimmen übten einen beruhigenden Einfluss auf sie aus. Li'en fühlte sich in einer Art geborgen und sicher. Bald war sie dabei, in einen Dämmerschlaf zu sinken ...
Sie versuchte mit aller Macht, wach zu bleiben. Wenn man sie so hier fand, würde man sie auf die Krankenstation bringen und danach zurück zu den Taelons. Nur - wenn sie nicht bald Energie bekäme, wäre ein Einschlafen unvermeidlich.
Li'en versuchte zu rekapitulieren, was Rafaella ihr über Energie erzählt hatte. Wenn sie sich doch bloß daran erinnern könnte!
Die Stimmen rückten in weite Ferne, wurden irgendwie leiser, schienen sie aufzufordern, doch einfach einzuschlafen. Es war so verlockend, dem einfach nachzugeben ...
Da erinnerte sie sich! Sie konnte ihren Energielevel wieder anheben - durch Essen!
Mit einem Ruck war ihr Kopf wieder oben, die Augen weit aufgerissen. Jetzt galt es, sich zusammenzunehmen - sie musste doch so schnell wie möglich dort weg.
Sie sah, wie ein Freiwilliger zu einem der Replikatoren ging. Mühsam raffte sie sich auf, um ihm zu folgen, von ihrer Neugier und ihrem Überlebensinstinkt getrieben. Er führte ein paar Handbewegungen aus, die sie sich genau merkte, dann drehte er sich um mit einem Teller voller ‚Essen’.
Kritisch sah Li'en darauf herab. Sie kannte nur Schokolade, die ihr Rafaella einige Male, obwohl es verboten war, mitgebracht hatte. Dies war aber definitiv keine Schokolade!
”Kann man das Zeug essen?” fragte sie den jungen Mann misstrauisch.
”Ich gebe zu, es sieht nicht sehr appetitlich aus, aber ich bin mir sicher, es ist genießbar!” erwiderte der Angesprochene lachend.
Verwirrt sah Li'en ihn an. Was wollte er ihr damit sagen?
Jemand rief ihn und er drängte sich an ihr vorbei.
Li'en ging zum Replikator und orderte das Selbe, was zuvor der Freiwillige eingegeben hatte. Mit ihrem Teller ging sie zurück zum Tisch.
Nachdem sie ein wenig probiert hatte, verzog sie das Gesicht und befand, daß dieses Zeug überhaupt nicht schmeckte. Aber allein schon der Akt des Essens war sehr faszinierend, ebenso wie der schlechte Geschmack. Dennoch hätte sie sich lieber etwas anderes geholt. Aber sie wusste nicht, wie - und hätte sie gefragt, hätte das sicherlich Mißtrauen geweckt. Und wenn hier doch Leute von der Basis waren...
Durch die Tür kamen laut redend fünf Freiwillige. Li'en erkannte sie sofort. Sie hatte sie oft auf der Basis gesehen. Sie senkte ihren Kopf, so dass ihr Haar an beiden Seiten herabfiel und ihr Gesicht verbarg, und hoffte, sie würden sie nicht beachten. Sie fühlte sich jetzt zwar etwas kräftiger, aber sie glaubte nicht, dass sie eine Verfolgungsjagd durchhalten würde.
Sie nahmen an den Tisch hinter ihr Platz. Aus ihrem Gespräch erfuhr sie, dass zunächst alle Freiwilligen von der Basis dazu eingesetzt waren, sie zu suchen, aber auch die Anderen sollten bald den selben Befehl bekommen. Allerdings waren sich alle sicher, Li'en bald zu finden, sie glaubten, sie würde auf der Erde viel zu leicht auffallen, um sich lange verstecken zu können. Sie sprachen auch darüber, dass sie wohl zu diesem Zentrum gekommen war. Insgesamt gaben die Freiwilligen Li'en kaum Überlebenschancen. Sie glaubten, sie hätte sich irgendwo im Zentrum verkrochen.
‚Für wie dumm halten mich diese Menschen?’
Es war offensichtlich, dass sie Li'en als ein Objekt betrachteten und nicht als denkendes Lebewesen.
‚Diesen Fehler haben schon die Taelons gemacht ...’
Aus dem belauschten Gespräch erfuhr sie zusätzlich den Aufenthaltsort von Rafaella. Noch war diese auf dem Mutterschiff, um ein Psychogramm anzufertigen, danach würde sie aber zum Forschungszentrum fliegen.
Dahin musste Li'en. Die Frage war nur, wie sie dorthin finden sollte.

Li'en hatte Glück, denn einer der Freiwilligen brach gerade eben zu diesen Zentrum auf.
Sie wartete, bis er durch die Tür und um die Ecke war, dann stand sie ebenfalls auf und verfolgte ihn so unauffällig wie möglich.
Sie gingen zu dem Raum, in dem auch Li'en angekommen war. Sie beobachtete genau, welche Koordinaten er eingab. Er stellte sich in das Portal und die Energie baute sich auf.
”Bleiben Sie sofort stehen!”
Erschrocken fuhr Li'en herum. Eine Gruppe von Freiwilligen lief mit erhobenen Waffen auf sie zu. Sie hatten sie erkannt.
Das würde nun schon ihre zweite Flucht in so kurzer Zeit werden. Ihr Gehirn arbeitete für diese Situation erstaunlich schnell. Innerhalb von Sekunden hatte sie alle möglichen Wege durchgespielt. Das hatte sie noch nie getan - die Wirkung der Drogen musste nachgelassen haben ...
Dann hatte sie einen Entschluss gefasst, der ihrer Meinung nach die besten Chancen für ihr Überleben bereit hielt.
Sie drehte sich um und lief direkt auf das Portal zu. Hinter sich hörte sie die ersten Schüsse, aber alle gingen daneben. Sie hoffte nur noch, dass sie den Durchgang rechtzeitig erreichen würde.
Li'en sprang im letzten Moment in das leuchtende Energiefeld, an die Seite eines sehr verdutzten Freiwilligen ...
Das Nächste, das sie wahrnahm, waren viele Gebäude. Es war wieder dunkler und die Schatten länger geworden.
Sie handelte sofort und rannte in Richtung des großen Komplexes, in dem nur noch wenige Wissenschaftler unterwegs waren. Der Freiwillige reagierte nur um Sekunden später. Noch im Laufen zog er seine Waffe und gab einen Warnschuss in Richtung Li'en ab. Er war sich offenbar nicht sicher, ob er sie verletzen durfte.
Das war ihr Vorteil. Sie hoffte, ihn in den Schatten des Komplexes abhängen zu können. Es würde bestimmt bald Verstärkung kommen. Als sie sich umsah, bestätigte sich ihre Vermutung. Hinter dem einen Freiwilligen, kam gerade ein ganzer Trupp davon aus dem Portal und es war bereits erneut aktiviert worden.
Sie atmete schwer und stolperte öfter. Sie konnte kaum mehr klar denken. Das Einzige, das ihr durch den Kopf ging, war, dass sie dringend eine Pause brauchte. Lange würde sie dieses Tempo nicht mehr durchhalten können. Ihr wäre es durchaus möglich gewesen, schneller zu laufen und ihnen zu entkommen, aber dafür hatte sie jetzt nicht genug Energie.
‚Nur für einen Moment!’ dachte sie flehend.
Sie brauchte doch nur ein paar Minuten zum Überlegen!
Als sie um die Ecke kam, nutzte sie die Dunkelheit und verschwand im Schatten eines Gebäudes. Sie presste sich gegen die Wand und hoffte, dass niemand ihren lauten Atem hörte.
Entgegen ihrer Befürchtungen liefen die Freiwilligen an ihr vorbei!
Jetzt hatte sie endlich genug Zeit, ihre Lage zu überdenken. Als erstes bräuchte sie ein Versteck, in dem sie auf Rafaella warten könnte. Danach würde sie weiter sehen.
Sie wusste, durch den Vordereingang in eines der Gebäude zu gehen, wäre zu gefährlich. Die einzige Möglichkeit wäre der Lüftungsschacht, dessen vergitterte Öffnung sie in der Nähe wahrnahm.
Eigentlich hatte sie gedacht, diese Lösung umgehen zu können. Aber wollte sie nicht zurück, musste sie wohl hinein.
Schnell hatte sie das Gitter gelöst und kletterte in den Schacht. Aber nur so weit, dass sie sicher sein konnte, von draußen nicht gesehen zu werden. Es war weiter hinten so dunkel!

Als Li'en aus unruhigem Schlaf erwachte, war es draußen fast so finster wie drinnen bei ihr. Sie fröstelte und kroch vorsichtig aus dem Schacht heraus. Sie schaute in einen sternklaren Himmel. Oben stand der Vollmond und warf ein silbriges Licht auf den Komplex. Dort oben war die Basis. Was machten jetzt wohl Je'na und Me'lan? Könnte sie jetzt doch nur mit ihnen oder den anderen in Kontakt treten! Sie wusste, dass derartiger Kontakt theoretisch gar nicht möglich sein sollte, aber niemand hatte ihn verhindern können, wohl hauptsächlich, weil niemand davon wusste ...
Sie wäre viel lieber mit den anderen zusammen geflohen! Sie alle hatten so oft mit den anderen über die Erde gesprochen, wenn sie nicht gerade Teil eines Experiments waren. Rafaella war eigentlich nur für sie drei zuständig gewesen, aber sie hatten ihr Wissen geteilt und ihnen so Hoffnung gegeben und die Kraft, sich einen Teil ihres Wesens hinter den Drogen und Beruhigungsmitteln zu bewahren. Nicht alle waren so wie Rafaella gewesen und hatten darauf verzichtet. Wären sie zusammen geflohen, wäre es viel einfacher.
Ohne es zu merken, war Li'en weiter die Straße entlang gegangen. Sie hatte keine Menschen mehr gesehen. Wo waren die vielen Leute hingegangen? Hatten sie aufgesucht, was sie ”zu Hause” nannten? War das so etwas wie die Basis? So viele Fragen - und niemand der ihr Antworten geben konnte ...
Li'en war sich sicher, dass sie nicht lange geschlafen hatte, aber in dieser Zeit war Rafaella bestimmt schon dort gewesen!
Was sollte sie jetzt tun? Tränen traten ihr in die Augen. Das Licht der Laternen tat ihren Augen weh. Sie wollte nur noch fort, sich irgendwo verkriechen und nie wieder herauskommen.
Mit verschleiertem Blick nahm sie eine Bewegung in den Schatten wahr. Schnell wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Sie wollte schon zurück in ihr Versteck, als die Gestalt in das Licht einer Laterne trat. Sofort erkannte Li'en sie wieder.
Rafaella!
Sie war noch nicht fort! Vor Freude leuchtete Li'en hellviolett auf. Sie rannte fast auf die Wissenschaftlerin zu. Ein paar Schritte vor ihr blieb sie stehen.
Rafaella wirkte nervös. Sie sah sich immer wie gehetzt um.
Li'en spürte ihre Angst.
Jetzt hatte Rafaella sie entdeckt. Man sah ihr den Schock deutlich an. Eigentlich hatte Li'en eine andere Begrüßung erwartet als die, die nun folgte.
”Li'en, was machst du hier? Hör auf, so zu leuchten!”
Verletzt senkte Li'en den Kopf und dämpfte ihre Linien, die
mittlerweile eine eher dunkelblaue Färbung angenommen hatte. Was hatte sie denn falsch gemacht? Verunsichert antwortete sie:
”Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll!”
Ihre Stimme war während des Sprechens leiser geworden. Die Wissenschaftlerin musste gemerkt haben, dass sie Li'en verletzt hatte, denn sie lächelte entschuldigend. Mit bemüht sanfter Stimme sprach sie zu ihr:
”Du kannst nicht hierbleiben!”
Rafaella dachte kurz nach. Li'en wollte widersprechen, hier sei sie doch bei ihr, Rafi, also in Sicherheit! Aber diese sprach schon weiter.
”Am besten gehst Du zu meiner Wohnung und bleibst erst einmal dort! Ich komme dann nach.”
Sie gab ihr einen Schlüssel und die Koordinaten ihres Hauses.
Li'en wollte aber nicht gehen. Sie hatte doch noch so viele Fragen! Aber sie wußte auch, dass es jetzt besser war, nicht zu widersprechen.
Gehorsam ging sie in Richtung Portal. Als sie sich umdrehte, ging Rafaella gerade durch die Tür des Gebäudes, in dessen Schacht sie gerade gewesen war. Schon kurz danach folgte ihr ein Mann. Er brauchte allerdings etwas länger, um in das Gebäude zu kommen. Schnell fasste Li'en einen Entschluss. Sie musste Rafaella helfen. Nur - was war, wenn sie schon längst wußte, dass sie verfolgt wurde? War Rafaella deshalb so nervös gewesen?
Als Li'en an der Tür ankam, bekam sie diese nicht auf. Sie spürte, dass sie sich beeilen musste. Sie rüttelte eine Weile daran, aber es nutzte nichts - die Tür war wohl das, was Rafaella als verschlossen bezeichnet hätte.
Dann fiel ihr der Schacht ein. Alles in ihr protestierte dagegen. Darin wäre es dunkel und kalt und vielleicht würde sie den Weg gar nicht erst finden und müsste für immer in der Lüftungsanlage herumirren...
Li'en graute vor dieser Vorstellung. Mit viel Mühe überwand sie sich aber doch.
Rafi hatte so viel für sie getan...sie musste sich doch revanchieren!
Immer noch unwillig ging sie zum Schacht und kroch hinein. Sofort umschloss sie Finsternis. Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter. So dunkel und so eng! Die Geräusche, die sie verursachte, hallten vielfach wider.
Es schien, als würde sich die Decke auf sie senken und die Wände sie erdrücken. Leise weinte Li'en. Sie hatte das Gefühl, als würde sich ein starkes Band immer fester um ihre Brust schnüren und ihr den Atem nehmen. Panisch holte sie Luft, mit dem Gefühl, keine zu bekommen.
Sie sackte in sich zusammen und blieb liegen, trocken schluchzend. Sie durfte Rafaella doch nicht im Stich lassen!
Nach ein paar Minuten zwang Li'en, sich weiter zu gehen, spürte aber, wie sich ihr ganzer Körper verkrampfte. Sie kam nur langsam vorwärts.
Lange Zeit hörte sie nichts anderes als ihren lauten, keuchenden Atem und konnte nichts anderes tun, als sich ihren Weg weiter zu ertasten.
Aber dann sah sie endlich Licht. Es kam durch ein Gitter. Li'en hatte schon geglaubt, für immer in diesem Schacht herumirren zu müssen. Als sie die Helligkeit sah, wenn auch nur schwach, fühlte sie unglaubliche Erleichterung in sich aufsteigen. Endlich wieder frei!
Sie versuchte, so schnell wie möglich wieder herauszukommen. Es war ihr egal, ob Raffaela in diesem Gang war oder nicht - wenn es sein musste, würde sie durch das ganze Gebäude laufen, um sie zu finden. Alles war besser als ganz allein durch diese engen, dunklen Gänge zu kriechen!
Schnell hatte sie das Gitter geöffnet. Sie brauchte wesentlich weniger Zeit, aus dem Schacht heraus zu klettern, als sie benötigt hatte, um in ihn hinein zu klettern. Aber daran wollte sie sich im Augenblick lieber nicht erinnern.
Als Li'en ausstieg, spürte sie als erstes, dass erst vor kurzem ein Taelon hier gewesen sein musste. Aber was sollte ein Taelon hier wollen?
Der Gang war nur schwach erleuchtet. Dennoch sah sie, dass weiter hinten eine Person auf dem Boden lag, deren Gestalt ihr vetraut war - Rafaella!
Aber wieso lag sie dort? Leise rief Li'en sie beim Namen.
Keine Antwort.
Warum antwortete sie nicht? Sie musste sie doch hören!
Vorsichtig ging sie näher. Schlief die Wissenschaftlerin? Musste sie dann nicht von Li'ens Stimme aufwachen? Sie rief noch einmal ihren Namen, diesmal laut.
Dann blieb sie abrupt stehen.
Rafaella lag mit einer Waffe in der Hand in einer riesigen Blutlache.
Li'en sah ratlos auf die Frau herab.
Warum lag sie so still?
Schlief sie? Warum wachte sie dann nicht endlich auf?
War der Mann der sie verfolgt hatte, schuld an diesen Zustand? Li'en verstand nicht, was los war!
Es schien, als würde Rafaella nicht mehr atmen. Was hieß das? Sie empfand mit einem Mal Angst. Was sollte sie denn jetzt machen?
Zögernd trat sie noch einen Schritt näher. Tränen liefen ihr über die Wangen, unbemerkt.
Langsam hockte sich Li'en hin. Rafaella war so blaß! Vorsichtig berührte sie die Hand der Wissenschaftlerin.
Sie war so kalt! Das konnte doch nicht normal sein! Li'en schluchzte leise auf.
Was hatte Rafaella denn? War sie krank? Verständnislos schüttelte sie den Kopf.
Nachdem sie die Frau eine Weile nur angestarrt hatte, ohne dass sich irgend etwas an dem erschreckenden Anblick, den diese bot, verändert hatte, erhob sie sich schließlich.
Und wich vor dem zurück, das ihre Angst größer und größer werden ließ.
Was, wenn tatsächlich dieser Mann dafür verantwortlich war?
Was, wenn er - hierher zurück kam?
Konnte er das Selbe auch mit ihr machen?

Dieser Gedanke ließ aus der Angst Entsetzen werden. Sie wollte dort nicht so kalt und reglos liegen! Mit so starren und ausdruckslosen Augen ...
Li'en entschied sich zitternd, doch zurück in den Schacht zu kriechen. Sie wollte die Nacht dort verbringen. Sie hatte Angst vor dem Mann und wollte in dieser Nacht nicht allein sein. Und vielleicht wachte Rafaella ja doch noch auf?
Sie rückte sehr sorgsam das Gitter hinter sich zurecht, bevor sie sich so weit ins Dunkle zurückzog, daß sie nicht mehr gesehen werden konnte vom Gang aus.
Völlige Erschöpfung ließ sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fallen.*

Die Erinnerung hatte sie wie ein Schlag getroffen. Nun hockte sie, an die Mauer gelehnt, vor dem Geschäft. Wie hatte sie das nur vergessen können? Eigentlich wußte sie die Antwort - sie hatte es mit Absicht verdrängt.
Nun hatte sie endlich verstanden, durch die Leute, die am nächsten Tag gekommen waren und durch das Fernsehen, dass Rafaella tot war. Sie würde nicht aufwachen und niemand könnte sie wieder lebendig machen. Rafaella würde ihr nicht mehr helfen können. Sie würde auch nicht mehr nett zu den anderen Hybriden sein können. Li'en würde keine Schokolade mehr bekommen.
Sie war fort!
So etwas hatte es auf der Basis nie gegeben. Irgendwann wurden die Hybriden weggeschickt, aber diese lebten dann doch noch! Sie wurden zu einem weit entfernten Ort gebracht, von wo aus sie nicht einmal mehr eine schwache Verbindung mit den Zurückbleibenden aufrechterhalten konnten. Nie war ein Hybrid gestorben, so wie Rafaella.
Aber warum sagte niemand, dass dieser Mann daran Schuld sein könnte?
Die Wissenschaftlerin wäre doch niemals freiwillig gestorben, wie jetzt alle behaupteten ...
‚Sie wollte doch mit mir zu ihrem Zuhause gehen!’ dachte Li'en verzweifelt.
Damit fiel ihr etwas Wichtiges wieder ein. Hastig suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Er war noch da. Erleichtert atmete sie auf. Rafaella hatte ihr ganz genau erklärt, wie man ihn benutzte. Auch die Koordinaten, die diese ihr genannt hatte, waren ihr nach kurzem Überlegen wieder präsent.
Ihr Herz schlug schneller, als sie am Ende der Straße Freiwillige bemerkte.
‚Schon wieder!’
Warum ließen sie sie nicht einfach in Ruhe?
Es sah aus, als hätten sie sie noch nicht entdeckt - sie befragten verschiedene Menschen. Also stand sie auf und ließ sich von der Menge treiben. So fühlte sie sich einigermaßen sicher.
Bald sah Li'en einen kleinen Seitenweg, in den sie einbog.
Sie musste nur noch ein Portal finden. Dann könnte sie zu Rafaellas Haus,um sich darin zu verbergen - und zu schlafen ...
Aber zuvor hatte sie noch etwas Wichtiges zu erledigen.

 

Ende von Kapitel 3

 

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