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  „Visionen” von Ma'ri   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen außer Liana, Melanie Harris und To'ar gehören den Eigentümern von Mission Erde/Earth: Final Conflict. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Liam und Augur versuchen, Lili zu retten
Zeitpunkt:  Fortsetzung zu „Visionen”
Charaktere:  Lili, [Liam, Augur, Boone, Renee, Sandoval, Zo'or, To'ar, Julia, Melanie Harris]
 

 

VISIONEN

Kapitel 3

 

Nach einer ganzen Weile öffnete sie endlich die Augen. Erleichtert atmete er auf. Einen Moment lang hatte er wirklich geglaubt, Lili sei verloren, bevor Da'an ihren Zustand durch ein Sharing drastisch verbessert hatte. Verwirrt sah sie zu ihm auf. Doktor Belman hatte inzwischen die Kopfhalterung entfernt und räumte gerade ihre Utensilien zusammen.
„Wie geht es Ihnen?” fragte er besorgt.
„Ganz gut, bis auf leichte Kopfschmerzen.” Sie sah sich in dem Zimmer um. „Wo ist Da'an?”
„Er musste sich um wichtige Angelegenheiten in der Botschaft kümmern.” Wem erzählte er das eigentlich? Diese Ausrede war dermaßen offensichtlich gewesen ... Was war nur mit dem Companion los?
„Schade”, seufzte sie.
In diesem Moment betraten zwei Freiwillige den Raum und postierten sich ohne ein Wort neben der Tür. Hinter ihnen trat Agent Sandoval ein. „Schön, Sie beide wiederzusehen”, begrüßte er sie, doch sein Tonfall strafte seine Worte Lügen. „Ich nehme an, Sie wissen noch nichts über Captain Marquettes Verbindungen zum Widerstand, Commander. Sonst könnte ich mir nicht erklären, warum Sie friedlich an ihrem Bett sitzen und Händchen halten.”
Weder saß Boone neben dem Bett, noch hielt er Lilis Hand, doch zur Sicherheit trat er ein Stück von dem Operationstisch zurück und setzte einen unbewegten Gesichtsausdruck auf. „In der Tat war mir das nicht bekannt, Agent Sandoval. Aber ich bin auch erfreut, Sie wiederzusehen.” Lili hatte sich zum Glück schon beim Eintreten der Freiwilligen bewusstlos gestellt, so dass ihr ein direktes Verhör durch Sandoval erspart blieb.
Der ehemalige FBI-Agent wandte sich an die Ärztin. „Wie geht es ihr?” fragte er, wobei er mit dem Kopf in Lilis Richtung deutete.
„Nicht sehr gut. Es gab einige Komplikationen. Sie wird noch eine Weile hier bleiben müssen.”
„Ist sie transportfähig?” fragte Sandoval, ohne auf die Tatsache einzugehen, dass Lili offenbar gerade implantiert worden war, was Boone ein wenig verwunderte.
„Noch nicht”, log die Ärztin. „Ihr Zustand ist noch sehr instabil. Ich kann nicht garantieren, dass sie einen Transport überstehen würde.”
„In Ordnung. Ich werde Wachtposten aufstellen, und sobald es ihr besser geht, bringe ich sie aufs Mutterschiff. Zo'or ist wirklich sehr an einem Gespräch mit ihr interessiert.” Diesen letzten Satz sagte er so gleichgültig, als rede er über das schlechte Wetter am letzten Sonntag. Boone dagegen musste sich Mühe geben, dieselbe Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Immerhin ging es um seine frühere Partnerin und er konnte sich lebhaft vorstellen, wie dieses „Gespräch” mit Zo'or verlaufen würde.
„Ich habe mich noch um einige wichtige Dinge zu kümmern, aber Sie werden mich auf dem Laufenden halten!” Der Agent nickte ihnen zu und verließ den Raum. Doch die Freiwilligen blieben. Lili öffnete die Augen einen Spalt breit und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Er versuchte, sie mit einem Lächeln zu beruhigen, während er sich an Dr. Belman wandte: „Informieren Sie mich bitte über jede Veränderung ihres Zustands!”, bat er sie leise und verließ ebenfalls den Raum. Auch auf dem Gang standen bereits Freiwillige und er sah sie überall auf dem Weg zurück in sein eigenes Zimmer. Er wäre nicht einmal erstaunt gewesen, wenn eine dieser uniformierten Gestalten neben seinem Bett postiert gewesen wäre. Zum Glück war sein Zimmer leer, so dass er ungestört sein Global aus der Tasche ziehen und Augur kontaktieren konnte.
Der Computer-Freak machte einen Satz in die Höhe, als er ihn erkannte. „Boone?!?”
„Ja, ich bin's, Augur. Keine Aufregung.”
„Du hast leicht reden! Hab' ich mich vielleicht erschreckt!”, grummelte er.
Boone musste grinsen, doch er wurde sehr schnell wieder ernst. „Hör zu, wir haben ein kleines Problem.”
Das Computer-Genie bemerkte wohl, dass es wichtig sein musste, denn auch er wurde augenblicklich ernst. „Worum geht es?”
„Sandoval will Lili zu einem Verhör aufs Mutterschiff bringen.”
Augurs Augen weiteten sich. „Lili?” fragte er mit plötzlich belegter Stimme.
Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Augurs tiefe Sympathie für seine Assistentin war ihm nicht verborgen geblieben. „Sie lebt, Augur, und es geht ihr verhältnismäßig gut. Das könnte sich allerdings bald ändern, wenn wir nichts unternehmen. Irgendeine Idee?”
„Wieviel Zeit bleibt uns?”
„Solange Belman ihn hinhalten kann. Leider hat Sandoval schon überall Freiwillige postiert.”
„Ich rede mal mit Liam darüber. Vielleicht fällt ihm ja was ein.”
„Okay, aber beeilt euch!” Damit beendete er die Verbindung und setzte sich erschöpft auf die Kante des Bettes. Nun brauchte er eigentlich nur noch abzuwarten. Theoretisch hätte er sich hinlegen und ausruhen sollen, aber eine tiefe Unruhe hatte ihn gepackt. Am liebsten wäre er wieder zu Lili gegangen, doch das hätte vielleicht Verdacht erregt. Auch hätte er Da'an kontaktieren können, aber er war sich nicht sicher, ob es klug war, den Companion da weiter mit hinein zu ziehen. Er hätte sowieso nichts tun können, ohne sich selbst zu gefährden. Und er selbst konnte von seinem Krankenhausbett aus auch nicht viel tun. Nein, es war wirklich das Beste, abzuwarten, bis Liam und Augur einen Plan entwickelt hatten.
Aber gerade wenn man auf etwas wartete, verging die Zeit unendlich langsam. So nahm Boone nach einer Weile wieder den Laptop zur Hand und las durch sein CVI unterstützt in unglaublicher Geschwindigkeit eine Unmenge Zeitungsartikel des letzten Jahres. Es war immer wieder erstaunlich, wie wenig die Öffentlichkeit von den Machenschaften der Taelons wusste. Einige Dinge, von denen Da'an ihm erzählt hatte, waren vertuscht oder vollkommen verfälscht worden, so dass sie wie Lappalien wirkten, obwohl sie eigentlich alles andere gewesen waren. Die Taelons waren wirklich sehr darauf bedacht, eine zumindest äußerlich reine Weste zu behalten.
Nach etwa einer Stunde begann er, hungrig zu werden, und beschloss, in der Kantine etwas essen zu gehen. Langsam humpelte er den Korridor entlang zum Aufzug, wo er natürlich auf einen Freiwilligen traf, der sofort Auskunft über seinen Zielort haben wollte. Boone kam sich allmählich vor, wie in einem Polizeistaat, aber da er den treuen Taelon-Agenten mimen musste, spielte er auch notgedrungen mit. Während sie hinunter fuhren, betrachtete er den Freiwilligen aus dem Augenwinkel und kam bald zu dem Schluss, dass er diese kalte, arrogante, zackige Art nicht besonders mochte. Es erinnerte ihn an den SI-Krieg. Auch etwas, das er lieber ganz schnell vergessen hätte. Leider waren diese Bilder unauslöschlich in sein Gehirn gebrannt, wie jede Stunde, jede Minute, ja, jede Sekunde seines Lebens. Zu viel Schreckliches hatte er bereits gesehen und er wollte nicht noch mehr erleben!
In gedrückter Stimmung verließ er den Fahrstuhl und betrat die Kantine. Es war ein großer, heller Raum mit weißen Tischen und Stühlen und einer langen Theke, an der man sich seine Mahlzeit zusammensuchen konnte. Auch hier überwachten mittlerweile Freiwillige jede Bewegung der Patienten und Angestellten. Resigniert schüttelte Boone leicht den Kopf, holte sich ein Tablett und einen Teller und belud diesen mit verschiedenen Speisen. Condor sandte ihm bereits Hunger-Signale, so setzte er sich an einen freien Tisch und begann zu essen.
Als er fast fertig war, bemerkte er, dass ein junger Mann direkt auf seinen Tisch zukam. Schon nach einem Augenblick erkannte er ihn anhand einiger Bilder, die er vor kurzem gesehen hatte, als er Nachforschungen über Da'ans neuen Beschützer angestellt hatte. Tatsächlich besuchte ihn da niemand anderes als Major Liam Kincaid. Der junge Mann reichte ihm mit einem jungenhaften Lächeln die Hand, stellte sich vor und nahm an dem Tisch Platz. Boone erwiderte die Begrüßung freundlich.
„So kommt es wohl früher als erwartet zu unserem Treffen, Major.”
Liam nickte ernst. „Augur hat mir erzählt, was los ist. Ich wollte zu Lili, aber die Freiwilligen haben mich nicht zu ihr gelassen.”
„Seltsam. Sandoval scheint sehr darauf bedacht, sie abzuschotten. Wenn sogar Da'ans Beschützer der Zugang verwehrt wird... Sagen Sie, verdächtigt Sie Sandoval, Mitglied des Widerstands zu sein?”
Der junge Mann zuckte die Schultern. „Sie kennen doch Sandoval. Immer misstrauisch.”
Boone sah ihn eindringlich an. „Sie sind offenbar nicht vorsichtig genug.”
„Hey, Sie wurden auch verdächtigt! Hätte Zo'or sonst versucht, Sie umzubringen?”
„Lassen wir das”, meinte Boone besänftigend. „Wir müssen uns jetzt um Lili kümmern.”
Liam warf ihm noch einen missmutigen Blick zu, doch dann konzentrierte er sich ebenfalls auf das Thema. „Soweit ich das sehe, können wir nur zuschlagen, solange Lili noch im Krankenhaus ist. Auf dem Mutterschiff dürfte eine Flucht relativ unmöglich sein.”
„Und wie stellen Sie sich das vor?”
„Wir müssten die Freiwilligen irgendwie ablenken, so dass der Weg zu Lili frei ist.”
„Wie soll dieses Ablenkungsmanöver aussehen?”
„Vertrauen Sie mir, ich habe Erfahrung damit.”
Boone seufzte. Es würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben. „Wann?”
„Heute Nacht. Aber Sie halten sich da raus! Es reicht, wenn Da'an einen Beschützer verliert!”
„Und wer wird Ihnen helfen?”
Liam grinste breit. „Ich habe eine Bekannte, die eine wahre Expertin in Sachen Ablenkungsmanövern ist.”
‚Wenn das mal gut geht’, dachte Boone, doch laut meinte er: „Na gut. Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg!” Damit stand er auf, nahm sein Tablett und brachte es weg. Mit einem letzten Nicken zu Liam verließ er die Kantine.

 
* * *
 

Sie saßen nebeneinander in dem Wagen und warteten. Renee hatte das Fenster herunter gekurbelt, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Am Himmel waren nur wenige Sterne zu sehen, das Licht der Stadt überstrahlte sie.
„Und Sie wissen, was Sie zu tun haben?” fragte Liam zum wiederholten Male. Er schien ein wenig nervös zu sein.
„Natürlich. So schwer ist es nun auch wieder nicht. Ich muss ja nur ein paar Lichter ausknipsen”, meinte sie mit einem spöttischen Lächeln. „Wieviel Uhr ist es?”
„Gleich ein Uhr. Wir sollten langsam anfangen.”
Sie nickte nur, nahm die Perücke vom Rücksitz und setzte sie auf. Eine Flut blonder Locken fiel nun über ihre Schultern. Dann griff sie sich auch noch den langen Mantel und stieg aus dem Wagen. Noch während sie ihn zuknöpfte, machte sie sich auf den Weg quer über den Parkplatz in Richtung Haupteingang. Manchmal war es am unauffälligsten, wenn man den direkten Weg nahm. Leise glitten die Glastüren auseinander und ließen sie in das Innere treten. Der Pförtner sah sie verwundert über seine Zeitung hinweg an. Sie lächelte ihn an und ging einfach weiter, als sei es die normalste Sache der Welt, um ein Uhr nachts in ein Krankenhaus zu spazieren.
„Moment, Miss!”, rief er ihr nach. „Wo möchten Sie denn hin?”
Sie drehte sich zu ihm um und lächelte wieder. Mit leichtem Akzent antwortete sie ihm: „Ich komme gerade vom Flughafen und möchte meinen Bruder besuchen.”
„Nun, wissen Sie, eigentlich haben wir jetzt keine Besuchszeit. Die Patienten müssen ja auch mal schlafen.”
Diese vor Intelligenz geradezu platzende Bemerkung konterte Renee mit einem leichten Grinsen. „Ich weiß. Aber mein Bruder ist ja auch kein Patient, sondern einer der Pfleger.”
„Wie heißt er denn?”
Zum Glück hatte sie sich vorher die Liste der Angestellten angesehen. „Roger Pointer”, antwortete sie, doch als er nach dem Hörer seines Telefons griff, hielt sie ihn zurück. „Ach, bitte, ich möchte ihn überraschen. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, wissen Sie?”
Er lächelte sie strahlend an. „Natürlich. Warten Sie einen Moment!” Damit sah er auf eine Liste und sagte ihr dann genau, wo sie ihren „Bruder” finden könnte. Sie hörte nicht einmal zu, aber sie dankte ihm überschwänglich und war heilfroh, als sie endlich um eine Ecke biegen und das liebliche Lächeln fallen lassen konnte.
Krankenhausflure machten auf sie immer einen kalten, sterilen Eindruck, wie der Versuch, eine Form der Perfektion zu erreichen, die jedoch jeglicher Menschlichkeit entbehrte. Schon oft hatte sie sich gefragt, wie man an einem solchen Ort genesen sollte, wenn alles darauf angelegt zu sein schien, dass man sich nicht wohl fühlte.
Es war sehr still in dem Gebäude, weshalb ihre Schritte unnatürlich laut zu klingen schienen. Endlich erreichte sie eine schwere, graue Eisentür, drückte sie auf und betrat ein schwach beleuchtetes Treppenhaus. Leise stieg sie die Treppen hinab und gelangte kurz darauf zu den Sicherungskästen. Zum Glück war die Stromversorgung für die Beleuchtung nicht mit anderen Dingen, wie zum Beispiel Beatmungs-Geräten, gekoppelt.
„Ein Kinderspiel”, dachte sie zufrieden, als das Licht erlosch und das Krankenhaus sich mit Dunkelheit füllte.

 
* * *
 

Boone schreckte aus seinem ohnehin nur leichten Schlaf auf, als er Schritte und Stimmen draußen auf dem Gang hörte. Vorsichtig schwang er die Beine aus dem Bett und ging zur Tür, um auf den dunklen Korridor hinaus zu sehen. Ein kleiner Trupp Freiwilliger mit Taschenlampen marschierte vorbei, während eine dieser Gestalten tatsächlich neben seiner Tür postiert war.
„Was ist denn los?” fragte er.
„Es sieht nach einem Anschlag des Widerstands aus, Sir”, antwortete der Mann in Uniform, ohne sich zu ihm umzudrehen. Steif stand er da und starrte gerade aus. Wieder fühlte sich Boone an das Militär erinnert, doch auch etwas anderes fiel ihm auf: Diese Stimme ...
„Liam?” fragte Boone stirnrunzelnd, als die anderen Freiwilligen außer Hör- und Sichtweite waren. Die Maske war wirklich gut, das konnte er selbst bei dieser Dunkelheit erkennen. Wäre die Stimme nicht gewesen, hätte er den Major gar nicht erkannt.
„Ja, ich bin's”, bestätigte dieser leise und drehte sich endlich zu ihm um.
„Läuft alles wie geplant?” fragte Boone, ebenfalls flüsternd.
„Bis jetzt schon”, antwortete Liam. „Entschuldigen Sie, aber ich muss die Zeit und die Verwirrung nutzen.” Damit deutete er einen militärischen Gruß an, marschierte den Gang hinunter und verschwand kurz darauf im Aufzug.
Boone schüttelte nur den Kopf, kehrte in sein Zimmer zurück. ‚Wenn das mal gut geht’, dachte er wieder.

 
* * *
 

Dr. Belman war wirklich der Verzweiflung nahe. Sie redete nun schon seit einer ganzen Weile auf den Anführer der Freiwilligen, namens Crewsdon, ein, tischte ihm Lügen auf, um ihn davon zu überzeugen, von seinem Vorhaben abzulassen.
„Ich sage es Ihnen doch: Sie ist noch nicht transportfähig!”
Crewsdon wandte den Blick von seinen Leuten ab, die Lili auf eine Bahre legten, um sie zum Shuttle transportieren zu können, und sah die Ärztin kalt an. „In Anbetracht dessen, was sie erwartet, sollten Sie besser darauf hoffen, dass sie den Transport nicht übersteht!”
„Das können Sie doch nicht machen! Das ist Mord!”
„Das ist Ansichtssache, Doktor.”
„Und warum eigentlich gerade jetzt? Mitten in der Nacht?”
„Dieser Stromausfall ... es ist doch schon ein großer Zufall, dass gerade jetzt so etwas passiert”, meinte er nachdenklich. „Außerdem wollen die Taelons keinen Presserummel.”
„Der Presserummel wird die Taelons nicht umbringen, der Transport aber könnte Captain Marquette das Leben kosten!”
„Ich werde nicht mit Ihnen darüber diskutieren”, erwiderte er kühl und wandte sich wieder den anderen Freiwilligen zu, die Lili auf der Bahre zwischen sich trugen. Ein dritter hielt den Tropf. Seltsam, Crewsdon erinnerte sich gar nicht an ihn. Aber er hatte ja auch kein CVI, das er zu Rate ziehen konnte und außerdem, wer merkte sich schon die Gesichter aller seiner Untergebenen?
„Gut, gehen wir!” sagte er laut und verließ mit einem weiteren kalten Blick in Richtung der Ärztin den Raum, gefolgt von den anderen Freiwilligen mit der Bahre.

 
* * *
 

So leid es ihm tat, er konnte Lili im Moment nicht helfen. Er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass man sie gerade jetzt abholen würde. Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war, sie zu begleiten, solange es ging, und später einen weiteren Versuch zu starten, sie zu befreien. Auch konnte er weder Renee noch Augur kontaktieren, ohne dabei entdeckt zu werden. Jetzt war er wirklich allein.
Mit unbewegtem Gesicht lief er neben der Bahre durch die Korridore des Krankenhauses, bestieg den Fahrstuhl und trat schließlich auf das Dach hinaus. Kalter Wind schlug ihm entgegen. Das Shuttle wartete bereits abflugbereit. Vorsichtig wurde Lili auf einen der Sitze gelegt, dessen Rückenlehne weit nach hinten geklappt worden war. Liam setzte sich in den Stuhl daneben und hielt weiterhin den Tropf, während Crewsdon sich auf einem dritten niederließ. Ein anderer Freiwilliger schließlich nahm den Pilotensitz ein und begann, die Checkliste durchzugehen.
Während das Shuttle abhob und in den Interdimensions-Raum sprang, beobachtete Liam den Anführer des Trupps aus dem Augenwinkel, doch dieser schien in Gedanken versunken zu sein. Zum Glück! Dann wandte er sich wieder zu Lili. Bis jetzt hatte er keine Gelegenheit gehabt, sie richtig anzusehen. Sie wirkte sehr blass, was unter diesen Umständen nicht verwunderlich war. Er bewunderte ihre Selbstbeherrschung, dass sie sich immer noch bewusstlos stellen konnte, obwohl schon Stunden seit ihrem Erwachen vergangen waren. Gerne hätte er ihre Hand genommen und sie kurz gedrückt, doch er wagte nicht, ihr irgendein Zeichen zu geben, während ein Freiwilliger in der Nähe war.
Sie verließen den ID-Raum, doch was vor ihnen auftauchte, war mit Sicherheit nicht das Mutterschiff.

 
* * *
 

Das Botschaftsgebäude ragte vor ihr in den kühlen Morgenhimmel. Ein Knoten saß ihr im Magen, als sie daran dachte, dass jemand, der ihr hätte helfen können, so nahe war und doch so unerreichbar. Sie hoffte nur, dass sie ihm nicht begegnen würde. Doch diese Hoffnung war letztendlich aussichtslos. Für Sandovals neue Assistentin war es unvermeidbar, dem nordamerikanischen Companion zu begegnen. Wenn nicht heute, dann irgendwann in Zukunft.
Mit festen Schritten betrat sie das Gebäude. Ein Wachmann hielt sie auf, doch sobald sie ihm ihren Ausweis gezeigt hatte, trat er mit einer Entschuldigung zur Seite. Ohne ein Wort ging sie weiter.
Was tat sie hier eigentlich? Begab sich auf Sandovals Anordnung hin zur medizinischen Einrichtung der Botschaft, um einen Skrill zu erhalten. Auf eine Anordnung des Mannes hin, den sie verabscheute und für den sie in Zukunft würde arbeiten müssen. Welch seltsame Wege das Schicksal manchmal ging. Sie konnte sich nicht davon abhalten, von Zeit zu Zeit auf ihren Arm zu starren. Bald würde also noch ein Geist diesen Körper bewohnen. Sie wusste, dass Skrills fühlende Wesen waren, aber was genau fühlten sie? Wovon träumten sie?
Ihr CVI schaltete sich in ihren Gedankengang ein und zeigte ihr eine Szene aus ihrer Vergangenheit. Als sie noch klein gewesen war, hatte sie einmal Boones Skrill anfassen dürfen, hatte sogar eine Gedankenverbindung zu ihm aufgebaut. Condor war ein wirklich freundliches Geschöpf, das die Tatsache, dass es als Waffe dienen musste, verabscheute und bedauerte. Doch es hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu Boone und wollte nicht, dass ihm etwas geschah, und so hatte es sich mit seiner Aufgabe weitgehend abgefunden.
Im nächsten Moment war sie wieder im Hier und Jetzt. Über eine breite, geschwungene Rampe gelangte sie zu den Räumen der Botschaft, die für medizinische Zwecke eingerichtet worden waren. Sandoval unterhielt sich mit einem Angestellten, sah jedoch auf, als sie eintrat.
„Ah, da sind Sie ja, Agent Harris.”
„Guten Morgen”, antwortete sie mit einem kalten Lächeln.
Der Angestellte nickte ihr zu und begab sich ohne Zeit zu verlieren zu einem Labortisch, auf dem in einem Glasbehälter ein Skrill lag. Das Wesen wand sich und schien nicht gerade glücklich über die Tatsache, dass es aus seiner Ruhe gerissen und von dem Mann nicht gerade sanft aus dem Behälter gehoben wurde.
„Bitte machen Sie Ihren Arm frei”, bat dieser mit einer rauhen, etwas tonlosen Stimme.
Sie zog ihre Jacke aus, legte sie über einen Stuhl und krempelte den Ärmel ihrer Bluse hoch. Noch einmal strich sie über ihren Unterarm, bevor sie ihn ausstreckte, so dass der Angestellte den Skrill darauf positionieren konnte. Scharf sog sie die Luft durch die Zähne ein, als sich die Tentakeln in ihr Fleisch bohrten. Ein brennender Schauer lief ihr bis zur Schulter hinauf, doch schon im nächsten Moment war der Schmerz vergangen und ein neuer Geist begrüßte den ihren, während der Skrill sich ihrem Arm anpasste und die Farbe so wechselte, dass er wirklich wie ein Teil von ihr aussah. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Es scheint Ihnen zu gefallen?”, unterbrach Sandoval roh die erste Konversation zwischen den beiden neu vereinten Lebewesen.
Mit nun wieder unbewegtem Gesichtsausdruck wandte sie sich zu ihm um. „Es ist ein sehr interessantes Gefühl.”
„Sie werden sich daran gewöhnen.”
„Das habe ich bereits.”
„Gut. Wir werden auf dem Mutterschiff erwartet, doch wenn wir schon einmal hier sind, sollte ich Sie Da'an vorstellen.”
Wieder fühlte sie diesen Knoten im Magen. Das war ja zu erwarten gewesen. „Schön. Ich freue mich darauf, ihn kennen zu lernen”, erwiderte sie, nahm ihre Jacke und verließ mit ihrem Vorgesetzten zusammen den Raum.

 
* * *
 

Die Sonne hatte sich gerade erst vom Horizont gelöst und ein warmes, gelbes Licht lag über Washington. Wieder ein neuer Tag. Eine so kurze, nichtssagende Zeitspanne im Vergleich zu den Jahrtausenden, die er schon gelebt hatte. Wie erlebten Menschen einen Tag? Wenn er beobachtete, wie hektisch manche Menschen ihr Leben führten, schien es, als sei auch für sie ein einzelner Tag unbedeutend. Nur ein Zeitabschnitt, der durch die Rotation der Erde bestimmt wurde. Aber ihr Leben währte so kurz. Im Grunde nur einen Augenblick. Andererseits dauerte auch sein eigenes Leben nur kurz im Vergleich zur Dauer der Existenz eines Planeten oder Sterns. Manchmal wusste er nicht, ob dieses Leben zu lang oder zu kurz war.
Schritte näherten sich über die Rampe, die zu seinem Büro führten. Er wandte sich um und begab sich zu seinem Stuhl, um sich darauf niederzulassen. In Erwartung, Liam eintreten zu sehen, war er überrascht, dass es Sandoval war, der nun in Begleitung einer dunkelhaarigen Frau den Raum betrat. Er begrüßte beide mit dem Taelon-Gruß.
„Guten Morgen”, grüßte der ehemalige FBI-Agent mit unbewegter Miene zurück.
„Agent Sandoval, ich habe Sie nicht erwartet, aber es freut mich, Sie zu sehen”, erwiderte er und sah dann die junge Frau an seiner Seite an. „Darf ich fragen, wer Ihre Begleiterin ist?”
„Dies ist meine neue Assistentin, Agent Melanie Harris”, stellte Sandoval sie vor.
Er erhob sich und trat einen Schritt auf sie zu. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Agent Harris.” Wieder formte er den Taelon-Gruß.
Sie erwiderte diesen und verbeugte sich leicht dabei. „Die Freude ist ganz meinerseits, Da'an.” Als sie den Kopf wieder hob, trafen sich ihre Blicke. Irgend etwas an ihren Augen schien ihm seltsam, doch er konnte nicht sagen, was. Vielleicht eine gewisse Unruhe, die sich darin spiegelte, aber das war nicht verwunderlich. Viele Menschen reagierten nervös auf eine Begegnung mit einem Taelon. Doch diese Frau wirkte äußerlich vollkommen ruhig, nur ihre Augen ...
„Entschuldigen Sie bitte, Da'an, aber wir werden auf dem Mutterschiff erwartet”, unterbrach Sandoval seinen Gedanken. Er hatte gar nicht bemerkt, wie lange er die Agentin angestarrt hatte. Doch sie hatte den Blick nicht abgewandt, sondern den seinen ausdruckslos erwidert. Es erinnerte ihn an seine erste Begegnung mit Sandoval nach dessen Implantation. Die offenkundige Verwandlung des warmherzigen, freundlichen Mannes in einen kalten, emotionslosen Diener hatte ihn damals beinahe erschreckt. Nun begann er sich zu fragen, was diese Frau vor ihrer Implantierung für ein Mensch gewesen war.
Er nickte Sandoval zu. „Ich verstehe.”
Beide Companion-Agenten verneigten sich leicht zum Abschied, bevor sie sich zur Tür wandten und gingen. Der Taelon sah ihnen gedankenverloren nach, dann kehrte er zum Fenster zurück und blickte hinaus.

 
* * *
 

Wer hätte vermutet, dass sich in einer von außen so heruntergekommen wirkenden Lagerhalle ein Stützpunkt für Freiwillige verbarg? Es war Liam ein Rätsel, warum die Taelons keine bessere Unterbringung für ihre menschlichen Helfer geschaffen hatten. Außerdem verwunderte es ihn etwas, dass das ganze Gelände darauf angelegt zu sein schien, möglichst unauffällig zu wirken. An die Freiwilligen hatten sich die Menschen fast schon gewöhnt, also was an dieser Einrichtung machte es notwendig, sie geheim zu halten?
Crewsdon gab seinen Leuten einige Befehle und Lili wurde auf eine Trage gelegt und weg gebracht. Liam wollte ihr gerade folgen, als der kräftig gebaute Anführer ihn direkt ansprach.
„Hey, warten Sie!”
Erschrocken wandte er sich um. „Ja?”
„Sagen Sie, sind Sie schon lange bei uns?”
Der Companionbeschützer merkte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. „Noch nicht sehr lange. Ich wurde erst vor kurzem rekrutiert.”
Crewsdon sah ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen prüfend an. Liam wurde es zunehmend unangenehmer, doch gerade, als er anfing zu überlegen, ob er nicht einfach seine Waffe ziehen, sich den Weg zu Lili frei schießen und sie gewaltsam befreien sollte, entließ ihn der Anführer der Freiwilligen mit einer Handbewegung und wandte sich wichtigeren Dingen zu. Erleichtert verließ Liam das direkte Umfeld dieses Mannes und sah sich erst einmal um.
Selbst bei dem diffusen Licht der Scheinwerfer ließen die Wände der Halle ihr Alter erahnen. Das Gebäude musste schon seit etwa vierzig Jahren hier stehen, doch was immer hier gelagert worden war, war ersetzt worden durch viele, blaugraue Container, die auf beiden Seiten der Halle bis zur Decke gestapelt waren. Über ein Netz von Treppen waren sie alle erreichbar und einige der Uniformierten verschwanden darin. Vielleicht waren dort die Schlafstätten der Freiwilligen eingerichtet. In den unteren Containern, die ebenerdig standen, gingen ein paar Menschen in weißen Kitteln aus und ein. Wozu brauchte ein Freiwilligen-Lager Wissenschaftler? Aus welchem Grund auch immer, jedenfalls war Lili zu einem dieser Container gebracht worden.
So unauffällig wie möglich, ging Liam zu dem Eingang hinüber, durch den Lili gebracht worden war, und spähte hinein. Lili lag inzwischen auf einem Untersuchungstisch und wurde von einer Frau mit kurzem, schwarzem Haar, Brille und weißem Kittel untersucht. Er betrat den Innenraum des Containers, der wie ein Labor eingerichtet war. Die Ärztin - zumindest nahm er an, dass es eine war - sah verwundert auf.
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin neu hier und suche jemanden, der mir hilft. Ich habe schreckliche Magenkrämpfe”, log er mit möglichst leidendem Gesicht, was etwas schwierig zu koordinieren war angesichts der Maske, die er trug.
Sie runzelte die Stirn, legte die Taschenlampe weg, mit der sie Lili gerade in die Augen leuchten wollte, und kam näher. „Haben Sie irgend etwas Falsches gegessen?”
„Nicht dass ich wüsste.”
Die Ärztin sah zwischen Liam und Lili hin und her, stieß einen Seufzer aus und erklärte dann, als spreche sie mit sich selbst: „Nun ja, ihr scheint es ja nicht so schlecht zu gehen, wie sie behauptet haben.” Sie ging zu ihrem Schreibtisch und kramte in einer Schublade. Schließlich brachte sie einen Notizblock zutage und schrieb etwas darauf. Dann drückte sie ihm den Zettel in die Hand und schob ihn zur Tür hinaus. „Geben Sie den Zettel demjenigen, der gerade Küchendienst hat, und lassen Sie sich einen Kamillentee kochen. Für mehr habe ich jetzt leider keine Zeit. Wenn es schlimmer wird, dann kommen Sie meinetwegen wieder.”
Kamillentee??? „Was ist das denn für eine Art, mit einem Patienten umzugehen?”
„Ich habe wirklich Wichtigeres zu tun, Mr. ... Wie heißen Sie eigentlich?”
„James Pepys.”
„Also, Mr. Pepys, wenn es morgen nicht besser ist, kommen Sie wieder.” Damit schlug sie die Tür des Containers zu.
‚Eine reizende Dame’, dachte Liam, als er sich auf den Weg machte, einen Schlafplatz zu suchen. Im Moment konnte er nichts für Lili tun, sie schien auch nicht in direkter Gefahr zu schweben und es war mittlerweile schon drei Uhr nachts. Ein paar Stunden Schlaf würden vielleicht die Lösung für dieses Problem bringen.
Außerdem musste er eine stille Ecke finden, in der er ungestört Augur oder Renee kontaktieren konnte.

 
* * *
 

Mit einem beinahe ehrfürchtigen Gefühl folgte sie Sandoval durch die Gänge des Mutterschiffs. Auch dieses Mal hatten sie während des Flugs kaum geredet. Er hatte ihr nur knapp ihre Aufgaben dargestellt und ansonsten jegliches private Wort vermieden. Nicht, dass sie von ihm etwas Anderes erwartet hatte. Oder vielleicht doch? Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber diese Gleichgültigkeit überraschte sie. Vielleicht hatte sie ja unterbewusst gehofft, dass er zumindest die Spur eines schlechten Gewissens hatte, doch was hier geschah, schien ihn ... nicht zu berühren.
‚Ich stehe am Abgrund und nun werde ich sehen, ob ich fliegen kann oder fallen werde.’ Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als diese Erinnerung plötzlich an die Oberfläche trat. Sie erinnerte sich daran, dass dieser Spruch einem Buch mit dem Titel „Die Flügel des Samuel Jordan” entstammte. Wie oft hatte sie es gelesen? Dreimal? Viermal? Sie wusste es nicht mehr genau. Es war kurz nach dem Flugzeugabsturz gewesen. Ein Flashback überkam sie:

Es klopfte an der Tür ihres Zimmers. Sie drehte die Stereoanlage leiser und wandte sich zur Tür. Was wollte ihre Tante denn schon wieder? War sie wieder einmal gekommen, um ihr zu sagen, sie solle endlich aufräumen? „Ja?”
Die Tür wurde geöffnet und tatsächlich stand ihre Tante Alice im Türrahmen. Sie sah furchtbar aus, ihre Haare verstrubbelt, ihre Augen dick und gerötet, ihr Gesicht ganz fleckig. In der Hand hielt sie ein zerknülltes Taschentuch.
„Mein Gott, was ist denn?” fragte sie erschrocken.
„Mel... ich...” Weiter kam sie nicht, denn sie wurde von erneuten Schluchzern gepackt.
Melanie saß völlig ratlos auf ihrem Bett und starrte ihre Tante an. „Was ist denn passiert?”
„Es... gab einen Unfall”, brachte Alice schließlich mit großer Mühe heraus. Sie setzte sich neben das Mädchen auf das Bett. Mel fühlte sich wie versteinert und konnte plötzlich ihren Körper nicht mehr fühlen. „Mum? ... Dad?”
Die einzige Antwort, die sie erhielt, war ein lautes Schluchzen. Mehr war auch nicht nötig. Ihre Tante wollte sie umarmen, aber sie entzog sich ihr schnell, stand von ihrem Bett auf und ging hinaus. Alice hielt sie nicht auf. Langsam, wie betäubt fanden ihre Füße den Weg die Treppe hinunter durch die Haustür. Die Welt schien still zu stehen und doch schien sie von allen Seiten auf sie einzustürzen, sie erdrücken zu wollen. Die Weite des Himmels stürzte auf sie herab, drückte sie zu Boden. Ihr wurde übel, aber sie ging mit schleppenden Schritten weiter ... über die Straße ... ein Auto hupte, es kümmerte sie nicht. Nur weiter ... graues Pflaster, das unter ihren Füßen wegzugleiten schien ... Menschen, die sie anstarrten ... doch sie hatten keine Gesichter, keine Stimmen ... grauer Himmel, kalter Wind ... alles schien sich um sie zu drehen, ihr wurde schwindelig ... die Übelkeit wurde schlimmer ... weiter ... wohin eigentlich? ... unwichtig, nur weiter ... vielleicht würde sie ja gleich aufwachen ... ja, so musste es sein ... ein Alptraum ... nur ein Alptraum ... aber warum wachte sie nicht auf? ... nicht real! ...nicht real! ... nicht real! ... sie fror ... unwichtig ... belanglos ... egal ... warum drehte sich nur dauernd alles? ... sie stolperte, fiel hin ... unwichtig ... kein Schmerz ... keine Kraft mehr, aufzustehen ... sie wollte liegenbleiben ... schlafen ... schlafen für immer ... nicht real! ... nicht real! ... NICHT REAL!

Sie schüttelte den Kopf, um sich von der Erinnerung loszureißen. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie unwillkürlich stehengeblieben war, als das Flashback begann. Agent Sandoval hatte sich verwundert zu ihr umgedreht, wartete jedoch geduldig. Er schien zu wissen, was dies zu bedeuten hatte.
„Sie werden sich daran gewöhnen”, sagte er in fast freundlichem Ton.
„Das sagen Sie mir heute schon zum zweiten Mal. Das Leben scheint Gewöhnungssache zu sein.”
Er sah sie einen Moment lang schweigend an, bevor er antwortete: „Ist das nicht alles irgendwie? Kommen Sie, Zo'or erwartet uns auf der Brücke!”
Sie folgte ihm weiter die Gänge entlang, äußerlich ruhig.

 
* * *
 

Sandoval hatte schon nach kurzer Zeit wieder die Brücke verlassen, nachdem er seine neue Assistentin in ihre Aufgaben eingewiesen hatte. Nun stand sie mit dem Rücken zu ihm vor einem Terminal und sah Sicherheitsberichte aus verschiedenen Botschaften der Erde durch, um eine Graphik über die weltweiten Aktivitäten des Widerstands in den letzten zwei Monaten zu erstellen. Sie war ein interessantes Wesen, das hatte er während ihres kurzen Sharings feststellen können. Eine bewegte Vergangenheit. Nur war es ihm immer noch ein Rätsel, wie sie so plötzlich aus dem Koma erwachen konnte.
Ein leiser Summton meldete ihm ein Gespräch auf dem Datenstrom. Mit einer grazilen Armbewegung aktivierte er ihn und sah in das Gesicht von To'ar.
„Die Testergebnisse liegen vor. Bitte komm ins Labor.”
„Kannst du mir die Ergebnisse nicht schicken?”, fragte Zo'or etwas ungehalten.
„Du solltest wirklich besser hierher kommen!”, meinte To'ar eindringlich. Dann beendete er die Verbindung und auch der Synodenführer deaktivierte seinen Datenstrom.
„Agent Harris?”
„Ja, Zo'or?”
„Sie werden mich zur Mondbasis bringen. Ihre derzeitige Aufgabe kann warten.”
„Wie Sie wünschen.” Sie überließ das Terminal einem Freiwilligen und begleitete Zo'or von der Brücke zur Shuttle-Bucht, wobei sie respektvoll einen halben Schritt hinter ihm ging.
Nun würde er also den Beweis erhalten, ob sein Verdacht der Wahrheit entsprach. Was genau er tun würde, wenn dies der Fall war, wusste er noch nicht genau. Er wusste nur, dass es in dieser Angelegenheit von essentieller Wichtigkeit war, Diskretion zu wahren.

 
* * *
 

Das Geräusch eines landenden Shuttles weckte ihn. Nicht, dass er besonders gut geschlafen hatte. Die Sorge um Lili und die unangenehme Lage, in der sie sich beide befanden, hatte ihn keine Ruhe finden lassen. Auch das Gespräch mit Augur hatte nicht zur Verbesserung seiner Stimmung beigetragen, obwohl sich das Technikgenie Mühe gegeben hatte, optimistisch zu wirken.
Verschlafen schälte sich Liam aus der Decke. Ein Glück, dass die anderen Bewohner dieses Containers offenbar auf einer Mission waren. Jedenfalls war bis jetzt niemand aufgetaucht, der ihn wütend aus seinem Bett vertreiben wollte. Er schüttelte den Kopf, um klarer sehen zu können, dann öffnete er die dünne Metalltür und trat ins Freie. Tatsächlich stand auf dem freien Platz nahe dem Ausgang ein weiteres Taelon-Shuttle. Dicht dabei stand Crewsdon und unterhielt sich mit jemandem. Liam kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, wer es war.
‚Oh, verdammt!’ dachte er, als er Sandoval erkannte. Eilig lief er die Treppe hinunter und zum Sanitätsbereich, wo er Lili zuletzt gesehen hatte. Die Tür stand wieder etwas offen. Die Ärztin saß an einem Schreibtisch und starrte auf einige Papiere, doch als sie ihn eintreten hörte, sah sie auf.
„Ach, Sie schon wieder.”
Liam sah sich suchend um, doch Lili war nicht mehr da. „Ja, ich schon wieder”, murmelte er geistesabwesend.
„Haben Sie immer noch Magenkrämpfe, Mr. Peeps?”
„Pepys!”
„Verzeihung.”
„Naja, nicht mehr so schlimm, aber ... ähm ...”, fieberhaft suchte er nach einer Ausrede, gleich wieder verschwinden zu können, um Lili zu suchen. „Ich muss gleich mit meiner Einheit los und da wollte ich nur fragen, ob Sie vielleicht ein paar Tabletten für mich hätten.”
Sie seufzte und begann in einer ihrer Schubladen zu wühlen. Dann hielt sie ihm eine kleine Schachtel entgegen. „Versuchen Sie die mal. Eine vor jeder Mahlzeit.”
Er deutete einen militärischen Gruß an und lächelte. „Danke, Sie sind zu freundlich.”
„Nichts für ungut, aber Sie melden sich bei mir, sobald Sie zurück sind!”
„Mach ich, Doctor.” Damit trat er wieder hinaus auf den großen, betonierten Platz zwischen den Containern. Suchend blickte er sich um. Wo war Lili nur? So schwierig konnte es doch nicht sein, sie in dieser umfunktionierten Lagerhalle zu finden! Sandoval stand immer noch in der Nähe des Shuttles und sprach mit dem heftig gestikulierenden Crewsdon. Was die beiden wohl so lange zu besprechen hatten? Darum würde er sich später kümmern. Er musste Lili finden! Vor allem, weil es nicht mehr lange dauern konnte, bis Augur etwas unternahm.

 
* * *
 

Wie ein gefangenes Tier tigerte sie innerhalb des Kraftfeldes hin und her. Das durfte doch einfach nicht wahr sein, dass sie schon wieder Sandovals Gefangene war! Und dass dieses Mal eine geheimnisvolle Fremde auftauchen würde, um sie zu retten, bezweifelte sie stark.
Sie hatte einfach die Nerven verloren, als die Ärztin angefangen hatte, sie zu scannen. In Erwartung, dass sie im nächsten Moment erkennen würde, dass ihre „Patientin” sich nur bewusstlos stellte, war Lili aufgesprungen, hatte sie zur Seite gestoßen und war aus der Tür gestürzt. Schon nach wenigen Schritten fand ihre Flucht jedoch ein Ende, als sich etwa ein Dutzend Schusswaffen auf sie richteten. Aussichtslos!
Man hatte ihr sehr schnell deutlich gemacht, dass sie von nun an in einer Zelle auf Sandoval warten müsse, der „einige Fragen an sie zu richten wünschte”. Sie konnte nur hoffen, dass es nicht wieder auf eine Implantation hinauslaufen würde. Nicht noch einmal!
Die Freiwilligen, die sie bewachten, folgten mit unverwandten Blicken jeder ihrer Bewegungen. Sie blieb stehen, um mit zu Schlitzen verengten Augen zurück zu starren. Am liebsten hätte sie ihnen etwas darüber erzählt, dass Freiheitsberaubung immer noch strafbar war, Taelons auf der Erde hin oder her! Aber diese Menschen stellten sich ihr gegenüber sowieso taub.
Ein weiterer Freiwilliger betrat den Raum und befahl den Wachen in grobem Ton, zu verschwinden. Sie erkannte die Stimme. Der Anführer der Freiwilligen, die sie aus dem Krankenhaus geholt hatten, stand nun einige Meter von dem Kraftfeld entfernt und musterte sie.
„Sie haben uns ganz schön an der Nase herumgeführt, Captain Marquette.”
Sie antwortete nicht und nach einer Weile fragte er: „Haben Sie Hunger?”
Völlig perplex starrte sie ihn an und schaffte es erst einige Augenblicke später, mit dem Kopf zu nicken. Er lächelte freundlich. „Meinen Sie, wir können uns darauf einigen, dass Sie keinen Fluchtversuch starten, wenn ich jetzt das Kraftfeld deaktiviere? Es würde mir sonst wirklich leid um Sie tun.”
Lili hatte inzwischen ihre Fassung zurück gewonnen. „Solange Sie nicht versuchen, mir irgend etwas zu implantieren...”
Er lachte leise. „Keine Sorge, das haben wir nicht vor.” Sie nickte leicht und er deaktivierte das Kraftfeld. „Darf ich Sie zum Essen einladen, Captain?”
„Gerne.”
„Übrigens, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Mein Name ist Sam Crewsdon.”
„Ich weiß.”
Einen Moment lang sah er sie verwundert an, dann verstand er allerdings. „Ich sehe, Sie haben uns sogar länger an der Nase herumgeführt, als ich dachte. Mein Verdacht war, dass Dr. Belman Ihnen ein starkes Betäubungsmittel verabreicht hatte, um einen komatösen Zustand vorzutäuschen.”
„Sie haben sie verdächtigt?”
„Natürlich. Ihre Position wäre prädestiniert für ein Mitglied des Widerstands.”
Lili versuchte zu lachen. Zum Glück klang es relativ echt. „Belman beim Widerstand?”
Fast verlegen zuckte der Mann die Achseln. „Warum nicht?”
„Falls ich jemals hier herauskomme, werde ich das bestimmt meinen Kollegen vorschlagen!”, meinte sie immer noch grinsend. „Aber mal im Ernst: Sie hatte einfach Mitleid, weil sie mich kannte. Das ist alles.”
„Ich verstehe.”
Inzwischen hatten sie den Raum verlassen und gingen einen grauen, kahlen Gang entlang, von dem zu beiden Seiten Türen abzweigten. Als sie durch eine dieser Türen traten, gelangten sie in einen großen Raum mit Tischen und Stühlen, auf denen einige Freiwillige saßen. Eine Art Kantine. Auch hier gab es keine Fenster, sondern nur einige Leuchtstoffröhren, die ein kaltes, weißes Licht verbreiteten. Sie nahm an einem der Tische Platz, während Crewsdon zur Theke ging. Kurz darauf kam er mit einem Teller Nudeln mit Tomatensoße zurück und stellt ihn vor ihr ab. Dann besorgte er ihr noch ein Glas Wasser und setzte sich schließlich ihr gegenüber, während sie den Teller vor sich anstarrte.
„Was ist?” fragte er. „Ich denke, Sie haben Hunger?”
„Wer sagt mir, dass Sie nichts in das Essen getan haben?”
Er lächelte, holte sich eine Gabel und aß einige der Nudeln von ihrem Teller. „Sind Sie jetzt zufrieden?” fragte er, als er geschluckt hatte.
Lili lächelte dankbar, nickte und spießte selbst einige Nudeln auf ihre Gabel auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie eigentlich war.
„Sie sind sehr misstrauisch”, meinte er nach einer Weile.
Die Gabel verharrte auf halbem Weg zu ihrem Mund. „Sie wären wahrscheinlich ebenso misstrauisch, wenn Sie das Ganze schon einmal erlebt hätten.”
„Sie meinen die Sache mit der Implantation? Ja, das war ein Fehler.”
Klirrend fiel die Gabel auf den Teller. „Ein Fehler?!” Sie lachte laut auf. „Dieser Fehler hätte mich fast das Leben gekostet!” schrie sie. Die Freiwilligen an den anderen Tischen sahen auf, wandten sich aber sofort wieder ihren eigenen Tellern zu.
„Ich kann nur mein tiefes Bedauern für diesen Vorfall ausdrücken.”
„Bedauern!” Sie spie das Wort förmlich aus. „Was ist das, ein neue Masche, um mich auf eure Seite zu ziehen?!”
„Captain, beruhigen Sie sich. Sie haben von uns wirklich nichts zu befürchten, solange Sie kooperativ sind.”
„Und wobei soll ich kooperativ sein? Was wollen Sie überhaupt von mir?”
„Das werde ich Ihnen erklären. Aber nicht hier.” Damit stand er auf. „Lassen Sie den Teller ruhig stehen.”
Sie erhob sich ebenfalls und folgte ihm, als er die Kantine verließ.

 
* * *
 

Sie spürte seinen Blick im Rücken, als sie das Shuttle abheben ließ. Warum starrte er sie immer so an? Es begann wirklich, ihr unangenehm zu werden. Wusste er, dass sie etwas verbarg? Was, wenn er sie darum gebeten hatte, ihn zur Mondbasis zu fliegen, damit sie dort wieder gefangen gesetzt und untersucht werden konnte? Warum musste sie ihn überhaupt fliegen? Es gab ja schließlich Portale! Sie stellte die Frage so beiläufig wie möglich.
„Ich wünsche, dass Sie mich direkt nach meinem Aufenthalt auf der Mondbasis zu meiner Botschaft in New York bringen”, antwortete Zo'or mit leicht bissigem Unterton.
„Sehr wohl.” Sie ließ das Shuttle in den Interdimensions-Raum springen, den sie jedoch kurz darauf wieder verließen. Das käferartige Vehikel durchdrang das virtuelle Glas und setzte im Shuttle-Hangar auf. Agent Harris stieg als erste aus und reichte Zo'or eine Hand, um ihm herunter zu helfen. Er starrte auf ihre dargebotene Hand, als sei sie pures Gift, und trat an ihr vorbei in den Hangar. „Warten Sie hier auf mich!”, befahl er kalt. Ein Teil von ihr war froh darüber, dass er das Angebot abgelehnt hatte. Ein anderer jedoch...
Melanies Geist tröstete Lianas, als sie Zo'or nachblickte. Sie separierten sich ein wenig voneinander, um im Geiste reden zu können. *Er betrachtet dich nicht als Verwandte. Denk daran.*
*Ich weiß. Er wusste es nicht und weiß es immer noch nicht. Und wenn er es jetzt erfährt, ist es zu spät.*
*Meinst du, er hätte anders gehandelt, wenn er gewusst hätte, dass ihr verwandt seid?*
*Nein. Er hat sich noch nie jemandem wirklich verbunden gefühlt.*
*Aber nicht ihm möchtest du nahe sein. Du sehnst dich nach deiner Familie, deinen Freunden.*
*Er gehört im Grunde zu meiner Familie, Melanie.*
*Du hast ihn nie kennengelernt.*
*Zum Glück. Sonst würde ich wohl auch ihn vermissen*, dachte Liana verbittert. Melanies Geist hüllte den ihren ein und spendete ihr Trost. Auch der Geist des Skrills, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, sandte ihr Gefühle der Sympathie und Anteilnahme. *Wir sollten ihm wirklich einen Namen geben.*
*Was schlägst du vor, Mel?*
*Blue Jay.*

 
* * *
 

Sie betraten einen Raum, der wie ein Büro eingerichtet war. Bis auf eine Lampe auf dem Schreibtisch war es dunkel, doch sie spendete genug Licht, dass sie erkennen konnte, wer an dem Tisch saß.
„Sehr erfreut, Sie wiederzusehen, Captain.”
„Leider kann ich nicht dasselbe sagen, Agent Sandoval. Aber bitte sparen wir uns doch die Höflichkeiten. Das letzte Mal haben Sie auch darauf verzichtet. Was wollen Sie von mir?”
Mit einem kalten Lächeln sah er sie an. „Ich habe nur einige Fragen an sie.”
„Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen irgend etwas erzähle!”
„Wir werden sehen.” Er deutete auf einen Stuhl. „Setzen Sie sich doch.”
Langsam und widerwillig ließ sie sich darauf nieder.
„Sagen Sie mir, wer die junge Frau war, die Sie zurückgebracht hat.”
„Keine Ahnung.”
„Warum hat sie Ihnen geholfen?”
„Was fragen Sie mich? Sie war einfach plötzlich da.”
„Erzählen Sie mir genau, was passiert ist!”
Lili schüttelte leicht den Kopf. „Warum?”
„Weil ich wissen will, woher sie kam!”
„Woher kam sie, wohin ging sie? Auf beide Fragen weiß ich keine Antwort!”
„Hat sie Ihnen nichts gesagt, als sie Sie zurückbrachte?”
Lili starrte eine Weile in eine der dunklen Ecken des Raumes. Sandoval würde sie bestimmt nichts sagen, aber die Fragen, die er ihr stellte, gingen ihr im Kopf herum. „Nein, sie hat nichts gesagt.” Im Grunde war das nicht einmal gelogen. Sie hatte nichts gesagt, dass eine Antwort auf die Fragen barg.
Sandoval sah sie eine Weile durchdringend an, bevor er sagte: „Wie bedauerlich.” Dann wechselte er plötzlich das Thema. „Ihnen ist sicher bewusst, dass ich Sie nicht einfach gehen lassen kann.”
„Ja, das dachte ich mir. Nachdem ich Ihr kleines ‚Hobby’ kenne...” Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Was haben Sie wirklich vor, Sandoval?”, fragte sie leise.
„Sie meinen, wenn Sie schon verloren sind, sollte ich Ihnen doch zumindest meine Pläne verraten? So etwas wird nur in Filmen gemacht, nicht im wirklichen Leben.”
„Ich bin also verloren.” Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Ich kann nicht riskieren, dass Sie jemandem hiervon erzählen.”
„Und was haben Sie dann mit mir vor?”
Er lächelte sein kaltes Lächeln. „Sie haben zwei Möglichkeiten: Sie schließen sich mir an und verraten mir alles über den Widerstand, was ich wissen will, oder ich bin leider gezwungen, Sie eliminieren zu lassen.”
„Eine tolle Auswahl: Pest oder Cholera!”
„So ist das Leben.” Wieder starrten sie einander unverwandt an.
In diesem Moment schaltete sich Crewsdon ein: „Sie würden eine Zusammenarbeit mit uns nicht bereuen, Captain. Wir haben die gleichen Ziele.”
„Und die wären?”, fragte Lili ihn skeptisch.
„Wir wollen die Menschheit schützen.”
„Dann sagen Sie mir, wovor Sie sie schützen wollen!”
„Vor den Taelons.”
„Ich nehme an, Sie haben Beweise gegen sie.”
„Die haben wir zur Genüge. Wir könnten sie der Öffentlichkeit preisgeben”, meinte Sandoval.
„Warum tun Sie es dann nicht?”
„Wir warten auf den richtigen Zeitpunkt. Schließen Sie sich uns an, Captain!”, sagte Crewsdon eindringlich.
„Warum gerade ich?”, fragte sie kopfschüttelnd.
„Ihre Fähigkeiten wären uns von großem Nutzen.”
Sie sah misstrauisch von einem zum anderen.
„Sie können sich einige Bedenkzeit nehmen, aber entscheiden Sie sich bald.” Damit gab Sandoval Crewsdon einen Wink und dieser ergriff Lilis Arm und führte sie aus dem Raum und zurück in ihre Zelle.

 
* * *
 

„Wo seid ihr, Augur?”, flüsterte er, während er sich immer wieder umsah, ob jemand ihn beobachtete.
„Wir sind unterwegs, Liam, keine Sorge! Immerhin haben wir kein Shuttle, um uns fortzubewegen!”
„Schon gut. Beeilt euch aber trotzdem. Lili ist nämlich wieder verschwunden und ich habe sie noch nicht wiedergefunden.”
„WAS?” Augur schrie fast und Liam zuckte zusammen.
„Leise, Augur! Hier rennen überall Freiwillige herum!”
„Du hast sie verloren?”, fragte der Hacker, der es immer noch nicht fassen konnte.
„Nun ja, nicht direkt. Sie muss noch hier in der Nähe sein.”
„Woher weißt du das?”
„Die Shuttles sind noch da und dass sie ein anderes Transportmittel benutzt haben, halte ich für unwahrscheinlich.”
„Na gut. Wir beeilen uns!”
„Gut. Bis gleich.” Damit deaktivierte Liam sein Global.

 
* * *
 

Als er eintrat, saß To'ar auf einer etwas kleineren Version der thronartigen Stühle und arbeitete mit dem Datenstrom. Nun jedoch deaktivierte er ihn mit einer anmutigen Armbewegung, erhob sich und begrüßte den Synodenführer.
„Gut, dass du da bist. Ich möchte dir etwas zeigen.”
Zo'or senkte ein wenig den Kopf und sah To'ar erwartungsvoll an. Dieser trat an eine Konsole, ließ seine Hand sachte über den Bildschirm gleiten, um ihn zu aktivieren.
„Mit den menschlichen Teilen des Genoms gab es leider Komplikationen. Sobald ich eine Probe entnahm, zersetzten sich die menschlichen DNA-Stränge, so dass keine Zuordnung möglich war.”
„Aber die Energiemuster konntest du bestimmen?”
To'ar nickte leicht. Zo'or trat dicht neben ihn und betrachtete die Versuchsergebnisse. Im nächsten Moment verlor er die Kontrolle über seine menschliche Fassade. Er hatte es bis jetzt nicht glauben wollen, obwohl er es geahnt hatte. Schwer stützte er sich auf den Rand der Konsole und schloss die Augen. Er würde alles verlieren, wenn es herauskäme! Alles!
Plötzlich fühlte er, wie eine Hand sanft über seinen Unterarm strich.
*Noch ist nichts verloren, Zo'or*, tröstete ihn To'ar.
*Du weißt, was passieren kann, wenn die anderen...*
*Ich weiß. Doch dieses Wissen wird sie nicht erreichen. Nicht, wenn wir es verhindern können.*
Zo'or sah ihm direkt in die Augen. *Hast du einen Plan?*
*Vielleicht.* Der Wissenschaftler lächelte leicht.

 
* * *
 

„Diesen Plan finde ich trotzdem bescheuert, Julia!”, schimpfte Augur, während er das Gaspedal bis zum Boden durchtrat.
„Haben Sie einen besseren? Dann immer raus damit!”
„Das kann man nicht einmal als Plan bezeichnen! Wir stürmen rein und holen Lili notfalls gewaltsam raus. Wo bleibt dabei die Genialität?”
„Ich denke, Sie wollen sie so schnell wie möglich aus dieser Lage befreien? Wenn Sie einen ‚genialen Plan’ haben wollen, hätten Sie sich an eine andere Widerstandszelle wenden und ihnen eine Planungszeit von zwei Wochen geben sollen!”
„Ist ja gut! Vielleicht klappt es ja trotzdem.” Er warf einen kurzen Blick durch das kleine Fenster zurück in den Laderaum, in dem sich der Rest von Julias Widerstandszelle und noch einige weitere Mitglieder der Befreiungsbewegung befanden, allesamt als Freiwillige verkleidet.
„Der erste, ‚durchdachte’ Plan hat ja wohl auch nicht geklappt! Vielleicht haben wir mit der ‚Reinstürm-Technik’ mehr Erfolg.”
„Ein geringer Trost!”
Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Bald tauchte die Lagerhalle mit dem Stützpunkt der Freiwilligen vor ihnen auf. Julia klopfte an die Rückscheibe, um ihren Leuten ein Zeichen zu geben, sich bereit zu halten.
„Tut mir wenigstens einen Gefallen und ballert nicht gleich drauf los! Vielleicht erkennen sie euch ja nicht direkt als Eindringlinge.”
„Dafür stehen die Chancen ziemlich schlecht, Augur. Aber wenn es Sie beruhigt: Solange keiner auf uns schießt, werden wir auch nicht schießen. Versprochen.”
„Danke!” Er nahm den Fuß etwas vom Gas, fuhr langsamer durch das offene Tor der Lagerhalle und hielt schließlich neben einem dunkelblauen Kleinbus. Die Freiwilligen, die Zeuge ihrer Ankunft waren, sahen nur kurz auf und gingen dann wieder ihrer Betätigung nach. Vielleicht war der Plan doch gar nicht so schlecht gewesen.
Sie stiegen aus und Julia gab ihren Leuten Anweisungen: „Ihr schwärmt aus und sucht nach Marquette und Kincaid. Benehmt euch unauffällig, schießt nur, wenn ihr angegriffen werdet! Wir treffen uns in einer Viertelstunde wieder hier. Sollte es nötig sein, schnell zu fliehen, könnte es passieren, dass einige zurückgelassen werden. Haltet euch in einem solchen Fall so lange wie möglich verborgen und setzt euch bei der ersten Möglichkeit ab! Noch Fragen?” Alle schüttelten den Kopf. „Dann los!”
Die Gruppe trennte sich und alle verschwanden in unterschiedlichen Richtungen, so dass Augur und Julia allein zurückblieben. „Dann machen wir uns auch mal auf die Suche”, meinte das Technikgenie seufzend.
„Ein bisschen mehr Begeisterung, bitte! Immerhin hat noch keiner auf uns geschossen.”
„Juchuh, juchuh, juchuh”, erwiderte er trocken.

 
* * *
 

*Du weißt, dass es keinen Sinn hat. Sie ist fort.*
*Ich weiß, To'ar. Trotzdem!*
Der Taelon-Wissenschaftler nickte und öffnete die Tür zu der Kryostase-Kammer. Auf einem halb schief gelegten Tisch war der leblose Körper der jungen Frau festgeschnallt. Ihr Energiemuster zeichnete sich deutlich unter der blassen Haut ab, da sie keine Fassade mehr aufrecht erhalten konnte. Er trat näher und legte seine Hände an die Seiten ihres Kopfes. Mit höchster Konzentration baute er eine Verbindung auf, drang in ihren Geist ein, suchte sorgfältig nach letzten Überresten ihres Bewusstseins ... doch da war nichts mehr. Nur eine große, dunkle, unendlich einsame Leere. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, verschwand aber fast im selben Moment wieder: ‚Was habe ich nur getan?’
Er ließ seine Finger kurz durch die weichen, dunklen Strähnen gleiten, dann trat er zurück und nickte To'ar zu, die Kammer wieder zu schließen. Die schwere Tür fiel zu und das Schloss rastete ein. Es hatte etwas Endgültiges an sich.
*Ich kehre jetzt in meine Botschaft nach New York zurück.*
*Denk daran, was wir besprochen haben.*
*Das werde ich, To'ar.* Bei dem Gedanken an den Plan fühlte er sich seltsamerweise bedrückt.
*Du hast keine andere Wahl, Zo'or*, versuchte der andere Taelon ihn zu trösten.
*Danke für deine Unterstützung.* Damit verabschiedete sich der Synodenführer und verließ den Forschungsbereich der Mondbasis. Auf dem Weg durch die langen, blau-violetten Gänge wanderten seine Gedanken zurück zu diesem Hybriden. Er scheute die Vorstellung, dass er mit diesem Wesen in gewisser Weise verwandt war ... und doch ...
Energisch vertrieb er diesen Gedanken und beschleunigte seinen Schritt. Bald hatte er den Shuttle-Hangar wieder erreicht. Die Implantantin stand immer noch neben dem Shuttle und hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt. Er folgte ihrem Blick, doch er sah nichts als den schwachen Schimmer des virtuellen Glases und dahinter die Weiten des Weltraums.
„Was betrachten Sie da so interessiert?”, fragte er schroff, so dass sie zusammenzuckte.
Sie senkte den Kopf und antwortete leise. „Die Sterne.”
„Und was finden Sie daran so besonders?”, fragte er mit zynischem Unterton.
Sie hob den Blick und sah ihm direkt in die Augen. „Ich habe sie nur selten in solcher Menge und Klarheit gesehen. Unten auf der Erde werden sie oft vom Licht der Städte überstrahlt. Deshalb habe ich die Gelegenheit genutzt, ihren Anblick zu genießen.”
„Sie sollten Ihre Zeit nicht mit solch nutzlosen Dingen verschwenden!”
Sie lächelte leicht. „Sie sagten doch, ich solle hier auf Sie warten. Nun, ich habe gewartet.”
Er erwiderte nichts darauf, sondern bestieg wieder das Shuttle und ließ sich in einem der Sitze nieder. Sie folgte ihm, setzte sich auf den Pilotensitz und ließ kurz darauf das Shuttle abheben. Als sie wieder in den freien Raum eintraten, gab sie die Koordinaten für New York ein. Der Taelon starrte während des ganzen Fluges vor sich hin ins Leere.

 
* * *
 

Die Worte Crewsdons gingen ihr nicht aus dem Kopf, während sie auf dem Boden ihrer Zelle saß. „Wir haben die gleichen Ziele.” War das wirklich die Wahrheit? Hatte sie selbst tatsächlich das Ziel, die Menschen vor den Taelons zu „retten”? So vieles hatte sich verändert. Sie konnte nicht mehr verallgemeinern: Es gab bei den Taelons wie bei den Menschen unterschiedliche Charaktere. Es gab Menschen, die Vergnügen daran fanden, andere Menschen zu quälen und zu töten, doch deshalb die gesamte Spezies zu verurteilen...
>Es ist der Krieg, der die Menschen grausam macht.< Vielleicht traf dieser Satz auch auf Taelons zu? Immerhin befanden sie sich in einem Krieg, der ihre völlige Vernichtung bedeuten konnte. Verzweiflung, Furcht oder was auch immer die Taelons bei dem Gedanken daran empfanden, es wirkte sich wahrscheinlich ebenso auf ihr Wesen aus, wie es bei Menschen der Fall war. Sie hatte es ja selbst erlebt, als die Synode den Schlag gegen den Widerstand führte und Präsident Thompson den Ausnahmezustand ausrief. Verzweiflung konnte einen zu vielem bringen. Sie hätte das Mutterschiff und sich selbst in die Luft gejagt, hätte ein Zeichen gesetzt ... und jetzt bereute sie diesen unüberlegten Schritt beinahe. Gut wurde zu böse ... böse zu gut ... zu welcher Seite gehörte sie? Und die anderen? Liam, Augur, Da'an, Zo'or, Sandoval, Crewsdon ... keiner von ihnen ließ sich als „nur gut” oder „nur böse” bezeichnen. So einfach war es leider nicht. Genau das hatte Doors niemals begriffen ... gut und böse waren Ansichtssache. Alles hatte einen Grund. Wer war sie eigentlich, dass sie sich einbildete, gut und böse tatsächlich unterscheiden zu können?
Sie schüttelte den Kopf. Jetzt versank sie schon in tiefgründige Gedanken, dabei sollte sie lieber überlegen, wie sie hier herauskam. Wie als Antwort auf diese stumme Frage hörte sie Schritte an den kahlen Wänden widerhallen. Sie hob den Blick. Zwei weitere Freiwillige betraten den Raum. Vermutlich Wachablösung. Gerade wollte Lili den Kopf wieder sinken lassen, als sie die beiden erkannte: Julia und Augur! Sie konnte gerade noch einen erstaunten Ausruf unterdrücken.
„Seid ihr nicht etwas zu früh dran?” fragte einer von Lilis beiden Bewachern.
„Wir dachten, wir tun euch einen Gefallen und spendieren euch ein Kaffeepäuschen”, erwiderte Julia kühl.
„Oh, danke, wirklich nett von euch.”
„Keine Ursache.”
Julia sah den beiden Freiwilligen kopfschüttelnd nach und sagte, als sie außer Hörweite waren: „Ist doch echt nicht zu glauben, dass diese Typen überhaupt irgend etwas gegen den Widerstand ausrichten konnten. Tolle Waffenausrüstung, aber nichts im Kopf.”
„Ich weiß ja nicht, wie das mit Ihnen ist, aber ich will nicht hier bleiben, um Ihre Theorie zu verifizieren!”, meinte Augur, während er schon eifrig an dem Kontroll-Terminal für das Kraftfeld zugange war.
„Augur, Julia, was macht ihr denn hier?”
„Dreimal darfst du raten!”
„Mich retten?”
„Bingo!”
Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Augur, Augur”, meinte sie kopfschüttelnd, „wie hab' ich dich vermisst!”
Er strahlte sie förmlich an, wandte sich dann jedoch wieder den Kontrollen zu. Kurz darauf flackerte das Kraftfeld und fiel dann endgültig aus. Das Technikgenie umarmte die Pilotin kurz, dann machten sich die Drei auf den Weg zurück.
Sie waren keine fünfzig Meter weit gekommen, da trafen sie schon auf Freiwillige, die Lili erkannten und sofort ihre Waffen zückten. Julia fackelte nicht lange und erwiderte das Feuer aus der halbwegs sicheren Deckung einer Nische. Nach einem heftigen Schusswechsel war es auf der anderen Seite still.
„Entweder ich habe alle getroffen oder der Rest ist weggelaufen”, meinte Julia leise.
„Los, weiter!”, drängte Augur.
Eilig liefen sie die Gänge entlang. Noch zweimal wurden sie von Freiwilligen aufgehalten, doch jedesmal bahnte ihnen Julia mit ihrer Waffe einen Weg. Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es Lili schien, erreichten sie eine Treppe, die an die Oberfläche führte.
„Julia, Sie gehen am besten voraus und sehen nach, ob unsere Leute alle da sind. Ich komme dann gleich mit Lili nach.”
„In Ordnung.” Sie verschwand die Treppe hinauf.
Augur und Lili warteten etwa zwei Minuten, dann stiegen sie ebenfalls die Treppe hinauf. Noch hatte sie hier oben niemand bemerkt. Sie durften nur nicht rennen! Das hätte die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt, also gingen sie langsam auf den Kleinbus zu, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Als sie noch zwanzig Meter davon entfernt waren, ertönte ein lauter Ruf: „Haltet sie auf!”
„Lauf, Lili!”, zischte Augur. Sie rannten so schnell es ging auf den Wagen zu, während Geschosse dicht an ihnen vorbei flogen. Noch zehn Meter ... etwas streifte Lilis Bein und jagte einen brennenden Schmerz durch ihre ganze Seite. Sie konnte nur noch humpeln. Augur verlangsamte seinen Schritt, legte sich Lilis einen Arm über die Schulter, doch als er merkte, das das Stützen nicht viel zu ihrer Schnelligkeit beitrug, hob er sie kurzerhand hoch und trug sie so schnell es ging zum Wagen.
Diese wenigen Sekunden wirkten auf Lili wie Stunden, während sie die Zähne zusammen biss, um vor Schmerz nicht laut zu schreien. Vorsichtig wurde sie von mehreren hilfreichen Händen in den Wagen gehoben. Die Türen wurden zugeschlagen, mit quietschenden Reifen fuhren sie los ...

 
* * *
 

Ohne ein Wort folgte er der leicht geschwungenen Rampe hinauf in sein Büro, wobei sich sein Hände langsam doch stetig bewegten. Die Implantantin begleitete ihn wie ein Schatten. In seinem Audienzzimmer angelangt, ließ er sich in seinen hohen Stuhl sinken, schloss die Augen und erlaubte sich, für einen Moment die menschliche Fassade fallen zu lassen. Erst eine ganze Weile später öffnete er wieder die Augen und sah auf die Companion-Agentin hinab.
Sie erwiderte seinen Blick ausdruckslos. „Kann ich noch irgend etwas für Sie tun, Zo'or?”
„Nein, Sie können gehen.”
Sie verneigte sich leicht, drehte sich um und wollte gerade sein Büro verlassen, als er sie noch einmal ansprach: „Es könnte sein, dass ich in nächster Zeit mit einem wichtigen Auftrag auf Sie zu komme.” Sie nickte und verließ dann endgültig den Raum.
Zo'or lehnte sich in seinem Stuhl zurück und aktivierte mit einer Armbewegung den Energiestrom. Doch seine Ruhephase verlief alles andere als ruhig. In seinen Träumen erschien ihm immer wieder das leblose Gesicht des Hybriden.

 
* * *
 

Sie saß in Augurs Wohnung, dem früheren Widerstands-HQ, auf einer Couch, eine Decke um die Schultern gelegt und eine Tasse Kaffee in der Hand, während Dr. Park ihre Wunde versorgte.
„Nur ein Streifschuss, keine Sorge”, meinte die Ärztin. „Sie werden höchstens eine kleine Narbe zurückbehalten.”
„Glück gehabt”, sagte Liam, der neben ihr auf dem Sofa saß, und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. Er hatte sich endlich der Maske entledigt und im Nachhinein fand sie es doch recht beruhigend, dass er die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen war.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Mag sein.” Glück? Wenn sie an all das dachte, was sie durchlebt hatte ... Augur warf ihr einen besorgten Blick zu, sagte jedoch nichts. „Wo soll ich jetzt eigentlich bleiben?”, fragte sie. „Sandoval ...” Sie beendete den Satz nicht, doch das war auch gar nicht nötig.
„Ich habe ein Gästezimmer für dich vorbereitet”, sagte Augur sanft. „Du kannst hier bleiben, solange es nötig ist.”
„Danke.” Dieses Mal musste sie sich nicht zwingen zu lächeln.
„Ich gehe dann mal Boone im Krankenhaus besuchen”, meinte Liam. „Er wird bestimmt froh sein zu hören, dass es Ihnen gut geht.”
„Grüßen Sie ihn schön von mir. Und sagen Sie ihm ... sagen Sie ihm, es wäre schön, wenn er mich mal besuchen käme, sobald er draußen ist.”
„Mache ich.” Damit stand Liam auf, gab Lili einen Abschiedskuss auf die Wange und verließ durch den Aufzug Augurs Wohnung.
Die Ärztin packte ihre Utensilien zusammen. „Ich komme dann übermorgen vorbei, um mir die Wunde noch einmal anzusehen.”
„In Ordnung. Auf Wiedersehen.” Lili stellte die Tasse auf den Couchtisch und sah Dr. Park nach, als sie ebenfalls im Aufzug verschwand. Dann wandte sie den Blick wieder Augur zu, der einfach nur da stand und sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck ansah.
„Was ist?”, fragte sie lächelnd.
„Entschuldige”, sagte er etwas verlegen und wandte den Blick ab. „Ich hätte nur nicht geglaubt, dass wir uns jemals wiedersehen.”
Sie nickte nur leicht und starrte dann vor sich hin auf den Tisch.
„Möchtest du darüber reden?”, fragte er leise.
Sie sah auf. „Wie bitte? Ich hab gerade nicht zugehört.”
„Ob du darüber reden willst? Du hast in letzter Zeit viel durchgemacht.”
Sie seufzte tief. „Stimmt. Aber darüber reden ...”
Er sah etwas verletzt aus, daher fügte sie schnell hinzu: „Danke für das Angebot, Augur. Vielleicht später.” Hätte sie ihm sagen sollen, dass er es wahrscheinlich nicht verstehen würde? Worte ... Worte waren solch ein schwaches Mittel, um etwas auszudrücken.. Es hätte in diesem Fall nicht gereicht.
Er zuckte die Achseln. „Wie du meinst.”
„Hilfst du mir bitte? Ich möchte gerne in mein Zimmer.”
„Natürlich.” Er kam zu ihr herüber, stellte sie vorsichtig auf die Füße und stützte sie auf dem Weg zum Gästezimmer. Allein die Aufmerksamkeit, die er ihr zukommen ließ, half ihr sehr. Wahrscheinlich mehr als ein Gespräch.
Er stieß die Tür mit dem Fuß auf und führte sie in ein geräumiges, gemütliches Zimmer mit einem Bett, einem Nachttisch und einem Schrank. Zur Linken führte eine Tür in das angrenzende Badezimmer.
„Ich fürchte, deine Sachen wurden alle weggegeben”, brach Augur das Schweigen. „Immerhin dachten alle, du seist ...”
Sie beendete den Satz, als er nicht weiter sprach: „...tot.”
„Ich hab dir ein paar Sachen besorgt. Sag mir einfach Bescheid, wenn du etwas brauchst.”
„Danke, Augur.” Vorsichtig humpelte sie zu dem Bett und setzte sich auf die Bettkante.
„Sicher, dass alles in Ordnung ist?”, fragte das Computergenie besorgt.
„Ja, wirklich. Es geht mir gut. Ich werde nur etwas schlafen.”
„Dann schlaf gut.” Damit verließ er das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Sie zog ihr gesundes Bein an, setzte den Fuß auf die Bettkante und stützte das Kinn auf ihr Knie. Sie dachte an jemanden, den sie seit ihrer Rückkehr nicht gesehen hatte ... und den sie, wie sie sich selbst eingestehen musste, vermisste.

 

Ende von Kapitel 3

 

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