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  „Visionen” von Ma'ri   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen außer Liana, Melanie Harris und To'ar gehören den Eigentümern von Mission Erde/Earth: Final Conflict. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Während Boone sich erholt, wartet auf Liana ein böses Erwachen
Zeitpunkt:  dritte Staffel, nach „The Vanished”
Charaktere:  Boone, Lili, Da'an, Zo'or, Liana, Sandoval, Melanie Harris [To'ar, Dr. Belman]
 
Anmerkung der Autorin:  Vielen Dank an Theane und Dilla für's Betalesen und an Sky für's Posten und für ihre Geduld!
 

 

VISIONEN

Kapitel 2

 

Blinzelnd schlug sie die Augen auf. Alles um sie herum schien verschwommen, vermutlich eine Nebenwirkung des Betäubungsmittels, das man ihr verabreicht hatte. Ein leichter Schmerz pulsierte in ihrem Hinterkopf. Als sie versuchte, sich die Augen zu wischen, um klarer sehen zu können, musste sie feststellen, dass sie sich nicht bewegen konnte. Keinen Millimeter! Nur ihren Kopf konnte sie etwas drehen. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie ausgestreckt auf einer Art Tisch lag. Aus der blau-violetten Färbung der Decke schloss sie, dass sie sich in einer Taelon-Einrichtung befinden musste.
„Ah, Sie sind wach.” Zwar konnte sie den Besitzer der Stimme nicht sehen, doch wusste sie sofort, wer es war. Diese Stimme würde sie überall erkennen.
„Wahrscheinlich sollte ich mir wünschen, es nicht zu sein, Agent Sandoval!”
Der Attaché bequemte sich endlich in ihr Blickfeld. „Sie kennen mich also”, stellte er fest, wobei er sie kalt musterte. „Doch wir wissen nicht, wer Sie sind! Sie sind nicht als Freiwillige registriert.”
„Und deshalb haben Sie mich betäubt und entführt? Ich bin begeistert, dass Sie mich nicht gleich erschossen haben.” Zynismus half einem in vielen Fällen. Besonders, wenn man sich hilflos fühlte. Und sie fühlte sich in diesem Moment völlig ausgeliefert!
„Sie sind nicht gerade in der Position, um Witze zu machen. Wenn Sie es wissen möchten: Zo'or bat uns, Sie zu einem kleinen Gespräch unter vier Augen einzuladen.”
„Eine seltsame Art, eine Einladung auszusprechen.”
Seine dunklen Augen blitzten wütend. „Hören Sie, ich bin hier, weil ich Ihnen helfen kann! Zo'or wird bestimmt einen Weg finden, die Informationen, die er haben will, aus Ihnen heraus zu pressen. Wenn Sie das verhindern wollen, müssen Sie mir vertrauen!”
„So wie Captain Marquette Ihnen vertraut hat?”
Der Companion-Agent zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt. In der nächsten Sekunde hatte er sich jedoch wieder unter Kontrolle. Kalt blickte er auf sie herab. „Sie haben gar keine andere Wahl!”
„Doch, habe ich.”
Sandoval schüttelte nur verständnislos den Kopf. „Warum wollen Sie sich das antun? Ich könnte Sie hier heraus holen.”
„Und mich für Ihre eigenen Zwecke einsetzen?” Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Niemals!”
„Vielleicht sollten Sie sich das hier ansehen, bevor Sie eine Entscheidung treffen.” Damit ging er zu einem Display an der Wand. Sie drehte den Kopf und folgte ihm mit den Augen. Nachdem er auf einige Zeichen getippt hatte, wurde eine Videoaufnahme abgespielt. Offenbar von einer Überwachungskamera. Sie zeigte einen weißen Raum mit einigen Liegen darin. Plötzlich sah sie sich selbst wie aus dem Nichts auftauchen. Sie trug Boone auf den Armen und legte ihn vorsichtig auf eines der Betten. Dann ging sie hinaus und kehrte kurz darauf mit Doktor Belman zurück. Sandoval hielt die Aufnahme an.
„Etwas später tauchen Sie genauso unvermittelt mit Captain Marquette auf. Zo'or war gerade zu der Zeit im St. Patricks-Krankenhaus und hat die Aufnahmen gesehen. Natürlich ist er ... sagen wir: unzufrieden. Er will um jeden Preis erfahren, wie Sie das gemacht haben!”
„Und Sie natürlich auch.”
„Das versteht sich von selbst. Wir vermuten, dass es mit dem kleinen Gerät zu tun hat, das wir bei Ihnen gefunden haben; ich nehme an, ein Teleportations-Apparat. Unglücklicherweise wurde es bei Ihrem Sturz beschädigt.”
Bei diesen Worten fiel Liana ein großer Stein vom Herzen. Wenn das Gerät nicht mehr funktionierte, würde es nicht die Zukunft verändern. Und auch wenn sie es reparieren konnten, würden sie immer noch den Zugangscode brauchen. Der Apparat war wertlos für sie.
„Sie haben nur zwei Möglichkeiten”, fuhr Sandoval fort. „Entweder Sie reparieren das Gerät für mich und ich verspreche Ihnen, dass es nur zum Wohl der Menschheit eingesetzt werden wird und Sie freigelassen werden. Oder Sie unterziehen sich einem Verhör durch Zo'or und glauben Sie mir: Das würden Sie schmerzlich bereuen! Das Gerät würde dann wahrscheinlich gegen die Menschheit eingesetzt werden. Wofür entscheiden Sie sich?”
„Ich entscheide mich für das Dritte: Ich tue gar nichts! Weder für Sie noch für Zo'or!”
Fast mitleidig sah er sie an. „Schade. Ich dachte, Sie wären klüger.”
„Ja, wirklich schade.” Damit presste sie die Lippen aufeinander, um zu verdeutlichen, dass sie nichts mehr sagen würde. Noch einmal schüttelte Sandoval verständnislos den Kopf, dann wandte er sich um und ging.
Liana starrte an die Decke und wartete.

 
* * *
 

Doktor Belman saß in ihrem Büro und sah einige Akten durch, als ein leises Klopfen an der Tür ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf ihr „Herein” hin wurde sie geöffnet und der nordamerikanische Companion trat ein. In den letzten paar Tagen hatte er immer wieder das Krankenhaus aufgesucht, um zu sehen, wie es Boone und Lili ging.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung”, sagte er sanft.
„Oh, nicht doch. Wir können gleich anfangen. Eigentlich wollte ich nur auf Sie warten.” Damit erhob sie sich, verließ ihr Büro zusammen mit dem Taelon und ging voraus den Korridor entlang. Der Fahrstuhl brachte sie in das Untergeschoss des Gebäudes, wo sich die Intensivstation befand. Kurz darauf betraten sie den Raum, in dem die beiden Widerstandsmitglieder untergebracht waren. Das Zimmer war von einem sanften bläulichen Licht erfüllt. Friedlich schwebten Boone und Lili in ihren Tanks; neben Boones stand ein Krankenhausbett mit Rädern. Zwei Angestellte traten hinter ihnen ein und die Ärztin machte sich an dem Computer zu schaffen. Nachdem sie einige Codes eingegeben hatte, begann der kranartige Greifarm den bewusstlosen Boone aus der Flüssigkeit zu heben, schwenkte langsam über den Rand hinweg und senkte sich bis dicht über den Boden herab. Die beiden Pfleger hielten ihn geschickt fest, als sich die Halterung öffnete, und legten ihn auf das Bett. Während der eine die Bremsen löste und das Bett aus dem Raum rollte, blieb der andere zurück, um den Tank für einen neuen Patienten vorzubereiten. Doktor Belman und Da'an folgten jedoch dem ersten zurück in die oberen Stockwerke des St. Patricks-Krankenhauses, wo Boone in einem hellen Einzelzimmer untergebracht wurde. Die weißen Vorhänge wehten leicht im Luftzug, als der Pfleger das Zimmer verließ. Die Ärztin beobachtete den Taelon aus dem Augenwinkel. Ruhig stand er neben dem Bett und sah auf das Gesicht seines früheren Beschützers herab. Nur seine Hände bewegten sich unaufhörlich, während er in dem blassen Gesicht nach Anzeichen für sein Wohlbefinden zu forschen schien. Plötzlich fühlte sie sich unwohl. Hier war sie fehl am Platze, daher entschuldigte sie sich leise und verließ den Raum. Der Companion drehte sich nicht einmal um.
Leise zog er sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Wie lange war es her, dass er die Gegenwart des Freundes hatte genießen können? Viel zu lange. Er war es müde, sich gegen Zo'or und seine Verbündeten stellen zu müssen, war es leid, mit Liam über Vorgehensweisen zu diskutieren. Was er brauchte, war ein Vertrauter, dessen Loyalität und Unterstützung er sich sicher sein konnte. Zwar wusste er inzwischen, dass Boones Motivations-Imperativ nie wirklich funktioniert hatte, doch hatte er sich nie so in seiner Position versteift, wie Liam es tat. Er war immer relativ neutral geblieben, was ihn zu einem guten Berater gemacht hatte. Boone hatte sich darum bemüht, eine Lösung zu finden, die für beide Spezies annehmbar war, beide rettete. Wie stark er ihn beeinflusst hatte in seinen Ansichten über die Menschheit, war ihm erst mit der Zeit bewusst geworden. Inzwischen war es ihm unbegreiflich, wie er vor seiner Begegnung mit Boone die Menschen als Mittel zum Zweck hatte betrachten können. Es war bedauerlich, dass Zo'or nie einem solchen Menschen begegnet war, der ihn davon überzeugte, dass er sich zu schnell eine Meinung über die Menschheit gebildet hatte.
Immer noch fiel es ihm schwer zu glauben, dass er wirklich zurückgekehrt war. Vorsichtig streckte er die Hand aus und legte sie auf die seines ehemaligen Beschützers. Seine Haut fühlte sich warm und lebendig an. Er schloss die Augen und genoss einige Augenblicke lang die Gewissheit, einen verlorenen Freund zurückgewonnen zu haben. Dann schweiften seine Gedanken zurück zu der seltsamen jungen Frau, die ihn zu Boone und Lili ins Krankenhaus gebracht hatte. Sie war seitdem nicht wieder aufgetaucht und auch in den Taelon-Datenbanken hatte er nichts über sie gefunden. Als hätte sie niemals existiert.
Noch immer lag seine Hand auf Boones, so dass er unwillkürlich zusammenzuckte, als sie sich bewegte. Hastig zog er die seine zurück und beobachtete erwartungsvoll, wie die Augenlieder des Patienten zu flattern begannen und sich schließlich öffneten.
Boone brauchte einen Moment, bevor sich seine Augen auf die Gestalt neben seinem Bett fixieren konnten. „Da'an.” Er versuchte, den Kopf zu heben, doch ein schmerzhafter Stich in seinem Hinterkopf hielt ihn davon ab.
„Schön, dass Sie wach sind. Wie fühlen Sie sich?” fragte der Companion sanft.
„Als hätte mich ein Lastwagen erwischt. Aber es tut nur weh, wenn ich lache.” Als er den verständnislosen Blick des Taelons sah, musste er ein Grinsen unterdrücken. Da'an hatte manchmal eine erfrischende Naivität in Sachen Humor an sich.
„Was ist mit Ha'gel?” fragte er.
Der Außerirdische legte den Kopf ein wenig schief und schien zu überlegen.
„Was ist?”
„Ich möchte Sie nicht beunruhigen...”, begann er zögernd.
„Aber?” drängte Boone.
„Ihre Auseinandersetzung mit Ha'gel liegt über ein Jahr zurück.”
„Was!?” Heftig richtete er sich auf, bereute es im nächsten Moment jedoch zutiefst und ließ sich stöhnend zurück sinken. Die überirdisch blauen Augen spiegelten die Sorge des Companion um seinen Beschützer wider. „Lag ich im Koma?” fragte dieser matt.
„Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht genau.”
„Was soll das nun wieder heißen?”
„Bis vor fünf Tagen hielten wir Sie für tot. Eine junge Frau hat Sie zurückgebracht. Ohne eine Erklärung.” Der Taelon unterstrich seine Worte mit einer grazilen Geste.
„Kannten Sie sie?”
„Nein. Ich habe auch nichts über sie in den Datenbanken gefunden. Es scheint so, als existiere sie gar nicht.”
„Seltsam.”
„Ich hatte den Verdacht, dass sie für den Widerstand arbeitet, doch auch dort kannte sie niemand.”
Sein Herz setzte einige Schläge aus. „Wie bitte? Sie haben Kontakt zum Widerstand?”
Da'an war über seine Reaktion sichtlich amüsiert. „Ich glaube, es gibt vieles, was Sie erfahren sollten.”
„Das glaube ich auch.” Dann lauschte Boone seinem Companion, während er von Liam erzählte, wie er ihn in das Hauptquartier gebracht hatte, eben von den Ereignissen des letzten Jahres. Nicht alle Entwicklungen gefielen ihm, doch er war froh, dass Da'an einen neuen Beschützer gefunden hatte. Noch dazu einen, der zum Teil außerirdisch war. Er unterbrach ihn nicht, auch als er davon erzählte, wie Lili versucht hatte, das Mutterschiff zu zerstören.
„Diese Fremde hat auch Captain Marquette zurück gebracht. Sie ist momentan in einem blauen Tank, aber Doktor Belman meint, sie könne ihr übermorgen das Anti-CVI implantieren.”
„Und Sie haben nichts getan, um ihr zu helfen?”
„Ich habe dem Doktor die Informationen beschafft, die sie brauchte. Mehr kann ich nicht tun! Ich kann mich nicht gegen mein Volk stellen.”
Boone sah ihn lange an. „Ich verstehe.” Mehr sagte er nicht, denn in diesem Moment kam die Ärztin herein und begrüßte ihren Patienten lächelnd.
„Ist es wahr, dass ich über ein Jahr lang tot war?” fragte er stirnrunzelnd.
„Zumindest dachten wir das. Offenbar haben wir uns geirrt.”
Müde nickte er und ließ die Visite über sich ergehen. Danach bat die Ärztin den Companion, morgen wieder zu kommen, da Boone Ruhe bräuchte. Der Taelon verabschiedete sich höflich, warf seinem früheren Beschützer einen vielsagenden Blick zu und ging.

 
* * *
 

Visionen von den Erinnerungen ihrer Eltern überkamen sie. Wieder sah sie Personen, die sie nie selbst kennengelernt hatte. Liam, zum Beispiel. Wie bedauerlich, dass sie sich nie begegnet waren. Etwas verband sie, obwohl sie unterschiedliche Wege gewählt hatten. Auch wenn er sich für die Menschheit entschieden hatte, stand er dennoch zwischen den Spezies, würde niemals wirklich dazugehören.
Als sie die Zeitreise geplant hatte, war ihr für einen Augenblick der Gedanke durch den Kopf geschossen, Liam zu warnen, damit er vorbereitet war auf das, was kommen würde. Aber sie durfte sich nicht einmischen. Liam hatte eine Aufgabe zu erfüllen und niemand, absolut niemand konnte ihn vor den Konsequenzen bewahren.
Dasselbe hatte Boone einsehen müssen. Natürlich hatte er die Möglichkeit gesehen, die das Zeittor eröffnete. Einmal hatte sie ihn überrascht, wie er mit einem Foto seiner Frau Kate in der Hand vor dem Tor stand und darauf starrte. Der Anblick hatte fast körperlich weh getan. Da stand er, praktisch nur einen Schritt von dem einzigen Ziel entfernt, das er nie aufgegeben hatte, dem einzigen Menschen, der ihn hätte glücklich machen können. Aber das Tor blieb verschlossen und Kate kehrte nicht zurück.
Weitere Visionen und Erinnerungen kamen und gingen. Da sie sich nicht bewegen konnte, schien ihr Geist um so beweglicher zu werden. Fast glaubte sie, sich von ihrem Körper lösen und schweben zu können.
Warum ließ man sie hier einfach alleine herumliegen? War das schon die erste Verhörmethode? Isolation? Wenn es das war, würden sie bald bemerken, dass es bei ihr nicht zum gewünschten Ergebnis führte. Die Einsamkeit war ihr vertraut.
Das Schlimme war nur, dass man sie erst in fünf Jahren vermissen würde. Erst wenn sie nicht zehn Minuten nach ihrer Abreise in der Zukunft zurückkehren würde. Obwohl Augur bestimmt sofort nach ihr suchte, würde wahrscheinlich jegliche Hilfe zu spät kommen. Es war wirklich das Beste, sich damit abzufinden, nicht mehr unbeschadet hier heraus zu kommen.
Schritte näherten sich und sie hörte, wie das Kraftfeld vor ihrer Zelle abgeschaltet wurde. Die Sicherheitsvorkehrungen waren angesichts ihres Zustands mehr als lächerlich. Die Person, wer immer es war, zögerte eine Sekunde, bevor sie eintrat. Doch dann kam sie mit festen Schritten näher. In ihrem Blickfeld erschien das Gesicht eines Taelons, den sie nie im Leben gesehen hatte, doch sie erinnerte sich an ihn durch ihren Taelon-Elternteil.
„Welche Freude, To'ar, den Spezialisten für Implantate, höchstpersönlich kennenlernen zu dürfen.”
„Sie kennen mich?” fragte er mit gelangweilter Stimme.
„Sie haben die CVIs für die menschlichen Angestellten der Companions entworfen. Ein Meisterstück. Meinen Glückwunsch”, meinte sie zynisch.
Der Taelon-Mediziner zeigte keine Regung, sondern begann, ihren Kopf mit einem kleinen Gerät zu scannen.
„Was, noch mehr Scans? Sie müssten doch allmählich genug haben.”
Wieder erhielt sie keine Antwort.
„Sie werden keinen Erfolg haben.”
„Womit?” fragte To'ar.
„Mich zu implantieren. Das müssten Sie doch bereits bemerkt haben. Oder meinen Sie, ich hätte die Einstichstelle nicht gespürt?”
„Tatsächlich hatten wir einige ... Probleme. Ihre Gehirnstruktur ist anders als bei den Menschen. Sie sind ein Hybrid, nicht wahr?”
„Und plötzlich kann er reden! Sie erstaunen mich immer wieder, To'ar.”
„Für diese Theorie spricht auch das hier.” Damit ergriff er eine ihrer Hände und drehte sie mit der Handfläche nach oben. „Shaqarava.”
Diesmal war sie es, die schwieg.
„Sie sollten froh sein, dass Zo'or Sie nicht gleich als potentielle Gefahr hat ausschalten lassen.”
„Ich würde ja vor Freude tanzen, wenn Sie mir nicht ein Betäubungsmittel gegeben hätten.”
„Das war notwendig, um Sie unter Kontrolle halten zu können.” Er schaltete das Gerät ab und beugte sich über sie. „Sie sollten besser kooperativ sein. Sonst könnte es noch sehr unangenehm für Sie werden.” Damit verließ er ihr Blickfeld und die Zelle. Ein leises Summen verriet ihr, dass das Kraftfeld wieder aktiviert war. Aus einiger Entfernung hörte sie Stimmen. To'ar schien jemandem Bericht zu erstatten. Sie brauchte nicht hellsehen zu können, um zu wissen, wer es war, der zwei Minuten später den Raum betrat.

 
* * *
 

Der Wind spielte mit den weißen Vorhängen und ließ sie unwirkliche Schatten auf die Wände werfen. Boone saß halb aufgerichtet in seinem Bett und arbeitete mit einem Laptop. Doktor Belman hatte ihm schließlich doch nachgegeben, da sie befürchtete, Aufregung könnte ihm schaden. Er konnte einfach nicht so untätig daliegen. Obwohl er Da'an glaubte, dass er keine Informationen über die junge Frau gefunden hatte, wollte er es selbst versuchen. Dabei wusste er nicht einmal genau, warum. Sicher, diese Fremde war für die Widerstandsbewegung sehr interessant, aber das war es nicht. Da'an hatte ihm von seinem Gespräch mit ihr erzählt und nach seinem Bericht war es unwahrscheinlich, dass sie einer ihnen bekannten Organisation angehörte.
Außerdem hatte er ein wenig über Da'ans neuen Beschützer recherchiert. Was für eine Ironie, dass er gerade den Namen seines früheren Kameraden trug. Was aus dem wirklichen Liam Kincaid geworden war, wusste er nicht. Er schien völlig vom Erdboden verschwunden zu sein. Der neue Liam war vor etwas mehr als einem Jahr auf seiner -Boones- Beerdigung zum ersten Mal aufgetaucht und hatte den nordamerikanischen Companion vor einem Attentat gerettet. Seine Gedanken schweiften zurück zu dem Tag, an dem Da'an und er sich kennengelernt hatten. Ebenfalls durch ein Attentat.
Inzwischen war der Major sogar zum Chef des Widerstands aufgestiegen, während Doors für die Präsidentschaftswahlen kandidiert hatte. Was er davon halten sollte, wusste er noch nicht, doch er war gespannt darauf, Liam kennenzulernen. Er hatte Da'an bereits gebeten, ein Treffen zu arrangieren, worüber der Taelon nicht gerade erfreut zu sein schien. Wahrscheinlich war doch einiges mehr zwischen den beiden vorgefallen, als der Companion zugeben wollte.

 
* * *
 

Sich seinem Willen zu widersetzen war schwieriger, als sie es erwartet hatte, und die ständigen Schmerzen, die er ihr zufügte, machten es auch nicht gerade einfach, die Barrikade aufrecht zu erhalten. Sie fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier, das seinem Tod ins Auge sah. Nein, er wollte sie nicht töten. Er wollte nur Informationen. Doch ihr wäre es lieber gewesen, wenn es ihr Leben gewesen wäre, dass er ihr zu nehmen versuchte. Mit größter Anstrengung hielt sie stand, ließ ihn nicht in die Tiefe dringen. Letztendlich musste sie wohl froh sein, dass beinahe ihr ganzer Körper betäubt war, denn sein Griff um ihr Handgelenk war alles andere als sanft. Immer wieder verlor er die Kontrolle über sein Äußeres, während er mit aller Macht versuchte, ein Sharing zu initiieren. Gerade als ihre Kräfte endgültig nachzulassen begannen, trat Zo'or keuchend zurück und unterbrach den Kontakt.
„Sie sollten lieber kooperieren. Das könnte Ihnen einiges ersparen!”
Hatte ihr Sandoval nicht genau dasselbe erzählt? „Eine Implantation zum Beispiel? Ich bezweifle, dass Sie Erfolg damit haben werden.”
Ein überlegenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Sie unterschätzen meine Mittel.” Langsam begann er, um den Tisch, auf dem sie lag, herum zu schleichen wie ein Raubtier um seine Beute, so dass sie Mühe hatte, ihm mit den Augen zu folgen.
„Und Sie meine. Da haben wir wohl etwas gemeinsam.”
„Geben Sie mir, was ich will, und ich lasse Sie gehen!” Seine blauen Augen waren kalt wie Eis.
Leise lachte sie. „Und das soll ich glauben? Sie haben niemals Gnade gezeigt, Zo'or. Warum sollten Sie jetzt damit anfangen.” Es war eine Feststellung, keine Frage.
Dennoch antwortete er: „Weil es mir Vorteile verschaffen würde, die Ihren Verlust um ein Vielfaches aufwiegen würden.”
Gequält schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf. „Was Sie verlangen, kann ich Ihnen nicht geben.” Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie seine Hand an ihrer Wange spürte. Sie war kühl und die Berührung ließ die Haare in ihrem Nacken zu Berge stehen.
„Fast ist es schade um Sie. Ich hätte Sie gerne zu meinem neuen Attaché gemacht.”
„Ich würde Sie bei erster Gelegenheit hintergehen”, erwiderte sie kalt.
„Nicht, wenn Sie ein CVI hätten. Es würde Ihre Fähigkeiten um ein Vielfaches erweitern.”
„Meinen Sie nicht, ich wäre durch mein Erbe bereits befähigt genug?”
„Sie schöpfen nicht einmal einen Bruchteil dieses Erbes aus. Ist Ihnen das nicht bewusst?
„Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.”
„Eine seltsame Einstellung. Sehr unmenschlich. Strebt nicht jeder Mensch nach mehr?”
„Wie Sie wissen, bin ich kein Mensch!”
„Natürlich.” Er richtete sich kerzengerade auf und betrachtete sie eingehend, bevor sich sein Blick wieder mit ihrem traf. „Wir werden uns bald wiedersehen. Das verspreche ich Ihnen!” zischte er.
„Ich kann darauf verzichten!” Der Blick, mit dem sie ihn verfolgte, als er den Raum verließ, hätte töten können.
Wieder war sie allein. Ihre Gedanken begannen erneut, ziellos umher zu wandern. Was tat sie hier eigentlich? War es nicht tatsächlich mehr ein Zeichen von Dummheit als von Mut, dass sie ihr eigenes Leben buchstäblich wegwarf? Und wozu überhaupt? Um eine Zukunft zu retten, die sie in eben diese Lage gebracht hatte? Inzwischen war sie fast soweit, durch das Gemeinwesen eine Verbindung mit Da'an zu suchen, aber es schien so, dass die Drogen auch diese Chance zunichte machten. Wie sie diese Hilflosigkeit hasste! Sie war wütend, so wütend, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Statt dessen blieb sie still, nur innerlich tobte sie. Wenn sie in diesem Moment dazu fähig gewesen wäre, sich zu bewegen, hätte sie ihre Wut an den Wänden auslassen können, so jedoch blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten, bis sie sich selbst beruhigt hatte. Sie schloss die Augen, um einen Moment der ständigen Helligkeit zu entkommen, und atmete mehrere Male tief und langsam ein und aus. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie müde sie war, denn sie hatte seit ihrem ersten Erwachen in diesem Raum nicht geschlafen. Inzwischen war es ihr relativ egal, was Zo'or und To'ar im Schilde führten, Hauptsache, sie konnte eine Weile schlafen und musste nicht ununterbrochen über die Frage nachdenken: Was wäre, wenn ...?

 
* * *
 

Die warme Nachmittagssonne warf ihr gelbes Licht über den kleinen Park vor der Taelon-Botschaft. Lange schon hatte er sich nicht mehr die Zeit genommen, die Schönheit dieses Ortes zu genießen. Das Wasser des Brunnens, an dessen Rand er saß, warf verschlungene Lichtreflektionen auf seine Hände, die wie immer in kaum merklicher, doch stetiger Bewegung waren.
Endlich hatte es sich für ihn wieder zum Guten gewandt. Er hatte zwei verloren geglaubte Freunde wiedergewonnen und alles sah wieder ein klein wenig hoffnungsvoller aus. Und doch sah er sich mit einem großen Problem konfrontiert: Seine beiden menschlichen Freunde galten als tot. Captain Marquette war als Widerstandsmitglied entlarvt worden, so dass sie unter keinen Umständen ihre frühere Arbeit wieder aufnehmen konnte. Boones plötzliche Wiederauferstehung würde ebenso schwierig zu erklären sein. Natürlich konnten die beiden untertauchen, Liam würde sich ihrer bestimmt gerne annehmen, aber dies bedeutete, dass er sie verlieren würde. Schon wieder. Zwar gab ihm schon allein das Bewusstsein, dass sie lebten, neue Hoffnung, aber zugleich fürchtete er sich vor ihrem erneuten Verlust. Es musste einen Ausweg aus dieser Zwickmühle geben!
Ein leises Geräusch unterbrach ihn in seinem Gedankengang. Ein kleiner graufiedriger Vogel ließ sich neben ihm auf dem Rand des Brunnens nieder und beäugte ihn erwartungsvoll. Auf winzigen, dünnen Beinen hopste er näher, plusterte sich ein wenig auf und schien auf etwas zu warten. Leider hatte Da'an keine Ahnung, auf was. Es spielte im Grunde auch gar keine Rolle, da der Vogel im nächsten Moment erschrocken aufflog und im Blattwerk eines nahen Baumes verschwand. Der nordamerikanische Companion wandte sich um und sah Zo'or auf sich zu kommen. Langsam erhob er sich und erwartete den Synodenführer. Dieser hielt sich nicht lange mit der Begrüßung auf.
„Ich habe dich gesucht, Da'an.”
„Du hast mich gefunden. Und?”
Zo'or warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wechselte zu Eunoia. „Du hast Geheimnisse vor mir.”
Überrascht legte Da'an den Kopf schräg. „Was meinst du?”
„Das ist dir wohl bekannt. Ich habe ihn damals selbst getötet und nun ist er zurückgekehrt.”
„Von wem sprichst du?” Alles, was er jetzt noch tun konnte, war sich dumm zu stellen.
„Commander William Boone!” Der junge Taelon verlor sichtlich die Geduld. „Eine als Freiwillige getarnte Frau hat ihn zurückgebracht. Ihn und Captain Marquette.”
„Woher weißt du, dass es eine falsche Freiwillige gewesen ist?”
„Weil ihr Bild in keiner unserer Datenbanken zu finden ist. Aber das ist dir ja bewusst. Immerhin hast du selbst Nachforschungen angestellt.”
„Du spionierst mich aus?”
„Auf manche Leute habe ich ein wachsames Auge. Ich verlange eine Erklärung!”
Er seufzte resigniert. „Die kann ich dir nicht geben, Zo'or. Ich verstehe es selbst nicht. Allerdings ist nicht außer acht zu lassen, welchen Nutzen uns diese Situation bringt. Boone ist ein kompetenter Companion-Agent.”
„Und Marquette ein Mitglied der Befreiungsbewegung. Du hast recht, es könnte nützlich sein, sie zu verhören.”
Da'an versuchte, seine Unruhe bei diesen Worten vor dem Gemeinwesen zu verbergen. „Bedenke, was passieren könnte, wenn der Widerstand davon erfährt. Es könnte einen Vergeltungsschlag provozieren.”
„Du meinst, es könnte noch weitere Doppelagenten geben? Ein beunruhigender Gedanke. Aber das werden wir ja bald herausfinden, wenn wir Captain Marquette verhören. Sie wird nicht lange standhalten.”
Ihm wurde ganz anders bei dem Gedanken an Zo'ors Verhörmethoden. Er musste Lili warnen. So bald wie möglich! „Und was ist mit Boone?” fragte er zaghaft.
„Meinetwegen lass ihn seine alte Arbeit wieder aufnehmen. Kincaid scheint in letzter Zeit etwas überfordert zu sein.”
„Ich danke dir.”
Der Synodenführer ging ohne ein weiteres Wort. Da'an folgte ihm mit seinem Blick.

 
* * *
 

Obwohl Doktor Belman nicht sehr begeistert davon war, dass ihr Patient das Bett für längere Zeit verließ, hatte sie ihn nicht davon abbringen können, der Implantierung seiner früheren Partnerin beizuwohnen. So stand Boone auf Krücken gestützt neben Da'an in dem kleinen Observationsraum und beobachteten durch die Scheibe, wie die Ärztin Lili auf die Implantation mit dem Anti-CVI vorbereitete. Ihr Kopf wurde festgeschnallt, der Greifarm mit der bereits gefüllten Kanüle bestückt. Boone fühlte sich an seine eigene Implantierung erinnert und sein CVI verstärkte die Erinnerung, machte sie real. Die Panik, die in ihm aufgestiegen war, als er aus dem Augenwinkel die riesige Kanüle gesehen hatte, den kurzen Schmerz beim Eindringen, die quälenden Sekunden der Ungewissheit, ob alles geklappt hatte. Dann war er wieder zurück im Hier und Jetzt und bemerkte, dass Da'an ihn aus dem Augenwinkel beobachtete. Der Taelon hatte sich verändert. Er wirkte weniger offen als früher. Vielleicht, weil er nun wusste, dass er sich Boones Loyalität nicht völlig sicher sein konnte?
„Haben Sie Liam meine Bitte um ein Treffen mitgeteilt?” fragte er, um das peinliche Schweigen zu brechen.
„Das habe ich. Er war sehr erstaunt zu hören, dass Sie leben.”
„Da ist er wohl nicht der einzige.”
Da'an drehte sich zu ihm herum. „Wenn die Prozedur vollendet ist, müssen Sie Captain Marquette so schnell wie möglich von hier weg bringen.”
Er runzelte die Stirn. „Warum?”
„Zo'or weiß, dass Sie beide leben. Er hat Ihre Rückkehr zu Ihrer alten Arbeit gestattet, aber Lili ...”
„Er weiß, dass sie Mitglied des Widerstands ist”, vollendete er den Gedanken, als der Taelon nicht weitersprach.
Die einzige Antwort war ein blaues Leuchten, dass über das Gesicht des Außerirdischen glitt. Boone verstand.
In diesem Moment bemerkte er, dass Doktor Belman ihn herein winkte. Überrascht folgte er der Aufforderung und bewegte sich vorsichtig durch die Tür und zu dem Operationstisch, auf dem Lili lag. Sie hatten bis jetzt kein Wort wechseln können, da sie noch vor kurzem bewusstlos gewesen war. Nun jedoch war sie wach und er konnte die Angst in ihren Augen sehen. Hilfesuchend ergriff sie seine Hand.
„Wie geht es Ihnen?” fragte er und versuchte, ihr aufmunternd zuzulächeln, aber das Lächeln verging ihm sogleich wieder.
„Erinnern Sie sich an das Versprechen, das ich Ihnen geben musste, als Sie implantiert wurden?”
„Natürlich.”
„Ich möchte, dass Sie mir dasselbe Versprechen geben. Sollte irgend etwas schief gehen, dann töten Sie mich!”
„Lili...” begann er zu protestieren, aber sie unterbrach ihn.
„Versprechen Sie es!” bat sie eindringlich.
„Damals war es etwas Anderes”, versuchte er sie zu beruhigen. „Sie sollen immerhin mit einem Anti-CVI implantiert werden.”
„Aber es war einmal ein richtiges CVI! Was ist, wenn Doktor Belman irgend etwas übersehen hat, als sie die Modifikationen vornahm?”
„Das hat sie bestimmt nicht. Aber wenn es Ihnen hilft: Ich verspreche es.”
Dankbar drückte sie seine Hand. „Es ist schön, dass Sie wieder da sind.”
Diesmal konnte er ungezwungen lächeln. „Haben Sie mich vermisst?”
Er erhielt darauf keine Antwort, da in diesem Moment die Ärztin ihn bat, wieder in den Nebenraum zu gehen, da sie mit der Implantation beginnen wollte. So nickte er Lili noch einmal aufmunternd zu und humpelte auf seinen Krücken zurück in den Observationsraum.
„Darf ich fragen, was sie gesagt hat?” fragte Da'an, als er wieder an seiner Seite stand.
„Hm? ... Oh, sie hat mich nur an ein altes Versprechen erinnert.”
Die Neugier war dem Taelon deutlich anzusehen, aber er fragte nicht weiter. Statt dessen wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen jenseits der Scheibe zu. Doktor Belman stand inzwischen an einem Computer und gab die nötigen Befehle ein, um die Maschine in Gang zu setzen. Die Kanüle senkte sich langsam und fuhr auf Lilis Kopf zu. Sie sah verkrampft aus, bis die Ärztin einige Worte zu ihr sagte. Dann entspannte sie sich ein wenig und schloss die Augen. Die lange, dünne Nadel berührte das weiche Fleisch an der Unterseite ihres Kiefers, drang ein. Auf dem Monitor konnten sie beobachten, wie das Anti-CVI direkt neben einem rot markierten Punkt eingesetzt wurde. Dann zog sich die Nadel zurück. Doktor Belman begann sofort, weitere Befehle in den Computer einzugeben. Boone schloss einen Moment lang die Augen. Er wusste, was jetzt kam, und hätte es dank seines CVIs noch einmal durchlebt, hätte er das Flashback nicht mit aller Kraft unterdrückt. So öffnete er wieder die Augen und sah, wie Lilis Körper in ein furchtbares Zittern ausbrach, ihre Gliedmaßen zu schlottern begannen, ihr Gesicht zu einer schmerzvollen Grimasse verzogen war. Unmerklich schüttelte er den Kopf. Hätte er damals gewusst, wie es sich anfühlte, implantiert zu werden, hätte er nicht in die Prozedur eingewilligt. Oder doch?
Diesmal ließ er das Flashback zu. Die Trauer kehrte zurück. Kate! Nein, er hätte sich nicht anders entschieden. Ohne sie hatte er keine Perspektive mehr gehabt. Hatte er durch seine Entscheidung eine neue erhalten? Zumindest war es ihm gelungen, den größten Schmerz zu überwinden, hatte sich in seine neue Arbeit gestürzt, um zu vergessen. Zu vergessen. Aber genau das konnte er nicht mehr.
„Die vollkommene Erinnerung ist ein zweischneidiges Messer.” Wie Recht dieser Spruch doch hatte. Natürlich hatte es Vorteile, nichts zu vergessen. Es erleichterte ihm viele seiner Aufgaben. Aber es ließ ihn auch nicht den Schmerz vergessen.
Kate! Manchmal träumte er von ihr und der Traum wirkte so realistisch, dass er morgens im Bett neben sich tastete, doch nichts fand. Wenn ihm dann bewusst wurde, dass es nur ein Traum gewesen war, fühlte er sich leer und elend. Lustlos stand er auf und ging zur Arbeit. Meistens gelang es ihm, seine gedrückte Stimmung abzuschütteln, wenn er mit Lili unterwegs war, mit Sandoval kleine Wortgefechte austrug oder tiefsinnige Gespräche mit Da'an führte. Doch völlig vergessen würde er nie!
Er schüttelte diese Gedanken ab. Im Moment war nur wichtig, was mit seiner Partnerin geschah. Das Zittern war abgeebbt und sie lag ruhig mit geschlossenen Augen da. Schlimme Befürchtungen stiegen in ihm auf. War etwas schief gelaufen? Die Ärztin sah beunruhigt aus, fühlte Lilis Puls, leuchtete ihr mit ihrer kleinen Taschenlampe in die Augen, überprüfte immer wieder die Daten auf ihrem Bildschirm.
Hastig betätigte er die Sprechanlage. „Was ist los?”
„Keine Ahnung. Ihre Lebenszeichen werden schwächer.” Sie gab ihrer Assistentin, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, eine Anweisung. Schnell und geschickt zog sie eine Spritze auf und reichte sie der Ärztin. Lili schien nicht auf das Mittel anzusprechen.
Aus dem Augenwinkel sah Boone, wie Da'an einen Augenblick lang die Kontrolle über sein Äußeres verlor. Jenseits der Scheibe bemühten sich Doktor Belman und ihre Assistentin weiterhin um die Shuttle-Pilotin. Ohne Erfolg, wie es aussah.

 
* * *
 

Ihre Augen öffneten sich in dem Moment, als er den Raum betrat. Sofort wandte sie den Blick und sah ihn durchdringend an. Wusste sie, was mit ihr geschehen war? Aufmerksam beobachtete er sie. Wenn sie es wusste, dann ließ sie sich jedoch nichts anmerken.
„Zo'or möchte Sie sprechen”, sagte er mit unbewegter Miene, wobei er eine steril verpackte Spritze und ein Fläschchen aus der Tasche zog. Ohne ein Wort ließ sie sich das Gegenmittel verabreichen und wartete eine Weile, bevor sie versuchte, sich aufzusetzen. Langsam und vorsichtig ließ sie sich von dem Tisch heruntergleiten und stand einen Moment schwankend an die Tischkante geklammert, bevor sie ihr Gleichgewicht fand.
„Folgen Sie mir!” befahl er und trat auf den Korridor hinaus. Gehorsam folgte sie der Anweisung und ließ sich von ihm durch die schier endlosen blau-violetten Gänge der Mondbasis zu einem Raum führen, der Zo'or als Büro diente, solange er hier war. Der Synodenführer sah ihnen erwartungsvoll entgegen, erhob sich sogar von seinem hohen Stuhl und trat von dem kleinen Podest herunter, auf dem er stand. Vor der zierlichen Frau wirkte er sogar noch größer, als er ohnehin schon war. Mit einem blasierten Lächeln auf den Lippen sah er auf sie herab.
„Ich sagte doch, Sie unterschätzen meine Mittel. Sie werden mir jetzt alles zeigen, was ich wissen will!” befahl er und hob eine Hand, die Handfläche nach außen gedreht. Ohne eine Miene zu verziehen, blickte sie zu ihm auf. Sandoval beobachtete das Ganze angespannt. Langsam hob sie ihre Hand und legte ihre Handfläche auf die seine. Augenblicklich initiierte der Taelon die Gedankenverbindung. Beide Wesen schlossen die Augen, der Taelon verlor die Kontrolle über seine menschliche Fassade und drehte den Kopf ein wenig, als wäre er überwältigt von dem, was er von dem Menschen empfing. Einen Moment später jedoch verzog er ärgerlich das Gesicht und unterbrach die Verbindung.
„Der Transfer muss missglückt sein. Sie trägt nicht die Essenz des Hybriden in sich!”
„Unmöglich! Der Transfer verlief ohne Zwischenfälle.”
„Dann erklären Sie mir, warum diese Frau dort immer noch den Geist von Agent Melanie Harris besitzt!”
„Ich weiß es nicht, Zo'or. Theoretisch hätte alles einwandfrei funktionieren sollen. Agent Harris lag bis zum Zeitpunkt des Transfers im Koma”, versuchte er sich zu rechtfertigen.
„Und was ist mit dem Hybriden?” fragte der Taelon in scharfem Ton.
„Ihren Körper haben wir in Kryostase versetzt.”
Der Synodenführer wirkte überaus frustriert. „Nun gut, dann können wir zumindest damit experimentieren. Ich erwarte einen genauen Bericht über jegliche Unregelmäßigkeiten, die bei dem Transfer aufgetreten sind!”
„Sehr wohl, Zo'or.” Na großartig, jetzt wurde er dafür verantwortlich gemacht, dass die Essenz des Hybriden sich auf rätselhafte Weise verflüchtigt hatte. Zwar war dieser Umstand bedauerlich, aber nun mal nicht zu ändern. Er würde gründliche Nachforschungen anstellen müssen, um Zo'ors Gier nach Informationen stillen zu können und somit seine Gunst wieder zu erlangen.
„Sie dürfen sich entfernen!” schnauzte der Companion ihn an.
„Ähm, Verzeihung, aber was ist mit ihr?” Dabei nickte er mit dem Kopf in Richtung der Companion-Agentin.
Zo'or ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder und sah hochnäsig auf ihn herab. „Sie haben doch seit Captain Marquettes angeblichem Tod keine Assistentin mehr. Nach dem, was ich gesehen habe, scheint Agent Harris recht kompetent zu sein. Vielleicht kann sie dafür sorgen, dass Sie nicht bei jeder Gelegenheit wieder versagen, Agent Sandoval!”
Verärgert warf Sandoval ihr einen Seitenblick zu, doch ihre Miene blieb unbewegt. „Wie Sie wünschen, Zo'or.”

 
* * *
 

Ohne zu zögern passierte er die Tür und legte die wenigen Schritte zu dem Operationstisch zurück. Lilis Augen waren geschlossen und ihr Atem ging flach. Er ergriff ihre kalte Hand und konzentrierte sich.
Doktor Belman, ihre Assistentin und Boone konnten nichts anderes tun als daneben zu stehen und zu beobachten, wie der nordamerikanische Companion die Kontrolle über seine Fassade verlor, während er durch ein Sharing versuchte, der Shuttle-Pilotin zu helfen. Das Licht seines Körpers pulsierte sanft.
Behutsam tauchte er in die Tiefen von Lilis Geist, gab ihr ein wenig von seiner Energie, um ihre Körperfunktionen zu unterstützen.
Als er zurücktrat, schwankte er ein wenig, so dass Boone sich beeilte, zu ihm zu treten und ihn zu stützen. Die Ärztin starrte erstaunt auf ihre Anzeigen. „Sie erholt sich!”
Boone atmete erleichtert auf. „Was ist mit dem CVI?”
„Das Anti-CVI hat es ersetzt und löst sich gerade selbst in seine Bestandteile auf.”
„Dann hat es funktioniert?”
Doktor Belman lächelte ihn warm an. „Keine Sorge, sie wacht gleich wieder auf.” Dann wandte sie sich an den Taelon. „Vielen Dank.”
„Nichts zu danken, Doktor.” Dann sah er Boone an. „Erinnern Sie sich daran, was ich gesagt habe! Ich muss zurück in die Botschaft, aber Sie können mich jederzeit kontaktieren.”
Boone nickte nur und sah seinem Companion nach, als Da'an sich verabschiedete und den Raum verließ.

 
* * *
 

Voller Wut und Enttäuschung saß er auf seinem thronartigen Stuhl und starrte vor sich hin, ohne wirklich etwas zu sehen. Seine Hände öffneten und schlossen sich um die Lehnen des Sitzes. Warum nur war sein Plan missglückt? Er hätte funktionieren müssen! Noch immer konnte er kaum fassen, welches Wissen mit dem Verschwinden ihrer Essenz verloren gegangen war.
Das einzig Gute war, dass er immer noch den Körper des Mischlings in seinem Besitz hatte. Bald, schon sehr bald würde er wissen, welcher Taelon sich mit einem Menschen vereinigt und damit Schande über ihre gesamte Spezies gebracht hatte. Dieses Verhalten würde er keinesfalls dulden! Keinesfalls!
Natürlich hatte er einen Verdacht, um welchen Taelon es sich handelte, doch dass er so weit gehen würde, sich mit einem so primitiven Individuum zu paaren ... Der Gedanke widerte ihn an. Wenn sich sein Verdacht bestätigte, würde er nicht einmal den Triumph genießen können. Wenn sein Elter tatsächlich diesen Schritt getan hatte, fiel ein Teil seiner Schuld auch auf ihn. Warum verstand Da'an nicht, wie wichtig es war, die hohe Entwicklungsstufe ihrer Rasse zu erhalten? So weit waren sie gekommen! Sie waren eine der am höchsten entwickelten Spezies des ihnen bekannten Raums und er war stolz darauf. Es musste einen anderen Weg geben, ihre Art vor dem Untergang zu bewahren, als die Evolutionsleiter herabzusteigen, sich auf eine Ebene mit den Menschen herablassen zu müssen. Er wollte vorangehen, nicht zurück. Die Lösung musste in einer Verschmelzung mit einer noch höher entwickelten Rasse liegen. Das Problem war nur, eine solche zu finden. Vor allem da er sich um andere Probleme zu kümmern hatte. Solange dieser Krieg mit den Jaridians nicht beendet war, konnten sie sich keinen anderen Aufgaben zuwenden.
Hier, auf diesem Planeten, würde die letzte Schlacht stattfinden! Die Menschen würden für sie kämpfen müssen! Was glaubten diese Erdlinge eigentlich, wozu sie ihre schlimmsten Krankheiten ausgerottet, die Wüsten wieder fruchtbar gemacht und den Hunger auch aus den ärmsten Ländern verbannt hatten? Weil sie nichts Besseres zu tun hatten als durch den Weltraum zu streifen und gute Taten zu vollbringen? Alles hatte seinen Preis! Und diesen Preis würden die Menschen früher oder später bezahlen müssen!

 
* * *
 

Es fiel ihm schwer, seinen Unwillen gegenüber seiner neuen Assistentin zu verbergen. Während sie völlig ruhig in dem Shuttle-Sitz neben ihm saß, beobachtete er sie. Dunkle Locken umrahmten ihr fein geschnittenes Gesicht, das immer noch keinerlei Emotion verriet.
„Wie fühlen Sie sich?” fragte er, um überhaupt etwas zu sagen, allerdings klang sein Ton nicht gerade freundlich.
Sie wandte den Blick zu ihm und sah ihn gleichgültig an.
„Danke, nur etwas müde.”
„Deshalb sind Sie so schweigsam?”
„Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten.”
„Interessiert es Sie gar nicht, was passiert ist, während Sie im Koma lagen?”
„Zo'or hat mich über das Notwendigste informiert.”
„Gut. Sie werden morgen ihren Skrill erhalten.”
Sie senkte den Blick auf ihren Arm und blickte lange darauf. „Sie sind nicht gerade glücklich über Zo'ors Entscheidung.”
„Ich bin nicht in der Position, sie anzuzweifeln.”
„Aber Sie tun es doch.”
Er antwortete nicht, sondern sah nur starr geradeaus. Der Freiwillige, der das Shuttle flog, ließ sich nichts anmerken, sondern befolgte nur seine Befehle. Das Shuttle verließ den Interdimensionsraum, so dass unter ihnen das vom Abendlicht erleuchtete Washington zu sehen war. Wenig später landeten sie in der Nähe des Hauses, in dem sich die Wohnung der Companion-Agentin befand. Als sie ausstieg, rief Sandoval ihr nach: „Seien Sie morgen um acht Uhr in der Botschaft.”
Sie nickte nur und trat einige Schritte zurück, so dass das Shuttle abheben konnte. Sandoval glaubte, ihren Blick immer noch auf sich ruhen zu fühlen, als sie sich längst wieder in der Luft befanden.
Plötzlich piepte sein Global. Da'ans Gesicht erschien auf dem Display.
„Was kann ich für Sie tun, Da'an?” fragte er überrascht.
„Ich erfuhr gerade, dass Sie in Washington sind. Bitte kommen Sie unverzüglich in die Botschaft.”
„Ich bin auf dem Weg.”
Der Taelon beendete die Verbindung und Sandoval steckte sein Global weg. Der Pilot hatte das Gespräch offenbar mitbekommen, denn er hatte bereits die Koordinaten der Botschaft eingegeben. Kurz darauf landeten sie in der Shuttle-Bucht und Sandoval machte sich auf den Weg zum Büro des Taelons. Als er dort eintraf, stand dieser mit dem Rücken zu ihm am Fenster, drehte sich auch nicht zu ihm um, als er sprach: „Agent Sandoval?”
„Ja, Da'an?”
„Sie verbergen etwas vor mir.”
Obwohl der Companion wie immer sehr sanft gesprochen hatte, lag eine Kälte in seiner Stimme, die Sandoval innerlich zusammenzucken ließ. „Ich weiß nicht...”
„Sie wissen sehr wohl, was ich meine!” unterbrach ihn der Außerirdische. „Ihr Motivations-Imperativ funktioniert schon seit einer geraumen Weile nicht mehr, nicht wahr?”
Der FBI-Agent wusste nicht, was er sagen sollte. Da'an fuhr fort: „Ich weiß, Sie verfolgen eigene Ziele. Beantworten Sie mir nur bitte eine Frage.”
Er war etwas überrascht von dieser untypischen Direktheit. „Welche?”
„Welches Ziel hatte das Shuttle, in dem sich Captain Marquette befand?”
Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Vielleicht mit: „Wenn Sie einen freien Willen haben, warum arbeiten Sie dann immer noch für uns?” oder „Auf welcher Seite stehen Sie wirklich?”. Aber die Antwort auf Da'ans Frage beinhaltete gleichzeitig die auf alle anderen.
„Auf diese Frage kann ich Ihnen keine Antwort geben.”
Der Taelon drehte sich nun endlich um und sah ihn lange traurig an. „Es tut mir leid.”
Schon wieder zuckte Sandoval unwillkürlich zusammen. „Was meinen Sie?”
„Durch meine Schuld wurden Sie zu dem, was Sie nun sind. Ich bin froh, dass Sie Ihren freien Willen zurück erhalten haben.”
Sandoval starrte ihn nur noch völlig verwundert an.
„Aber Sie sind sich hoffentlich darüber im Klaren, dass ich Ihnen nie wieder vertrauen werde.”
Das tat weh. Der Companion-Agent senkte den Blick. „Werden Sie Zo'or davon in Kenntnis setzen?”
„Von mir wird er nichts erfahren. Ich werde mich nicht noch einmal an Ihnen schuldig machen.”
Erstaunt sah er wieder auf. „Aber Sie gehen damit ein Risiko ein.”
„Die Gefahr, in der Sie schweben, ist größer, Agent. Zo'or wird Nachforschungen anstellen lassen, wie Captain Marquette zurückkehren konnte, obwohl Sie ihm ihren Tod gemeldet haben.” Er unterstrich seine Worte mit einer Geste. Die überirdisch blauen Augen schienen ihn zu durchdringen, so dass er lieber wieder den Blick abwandte. Er fühlte ... Schuld. Ja, er schämte sich fast, dieses Wesen, das ihm vor einer Weile noch alles bedeutet hatte, so hintergangen zu haben. Doch er sagte nichts. Noch war er zu wütend. Wütend, weil die Taelons ihn dazu gebracht hatten, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte und für die er sich selbst hasste. Sich und sie. Alles in ihm hatte nach Vergeltung geschrien, Vergeltung für den Tod seiner Frau, Vergeltung für all das Leid, das die Taelons ihm und anderen angetan hatten. Aber wenn er diesen Taelon ansah, wollte zumindest ein Teil von ihm verzeihen, ein anderer jedoch hielt an dem Wunsch nach Rache fest. Beide Teile kämpften in ihm.
„Lassen Sie das meine Sorge sein, Da'an.”
„Wenn Sie meine erste Frage nicht beantworten möchten, sagen Sie mir wenigstens dies: Warum gerade den Captain?”
‚Weil Sie sie mochten’, dachte er. Doch laut sagte er: „Die Gelegenheit bot sich einfach. Außerdem war ich beeindruckt von ihren Fähigkeiten.” Das war nur ein Teil der Wahrheit, aber Da'an schien sich damit zufrieden zu geben. Er hätte wahrscheinlich nie verstanden, wie schwer es Sandoval gefallen war, zusehen zu müssen, wie der Taelon in Boone und Lili all sein Vertrauen gesetzt hatte, während er um seine Gunst hatte kämpfen müssen. Bei der Erinnerung daran siegte der Teil in ihm, der nach Vergeltung schrie. Zum Glück hatte Da'an nicht gefragt, ob er ihm verzieh. Seine Antwort hätte „Nein!” gelautet.
„Ich danke Ihnen, Agent Sandoval. Sie dürfen sich entfernen.”
Sandoval verbeugte sich leicht und verließ das Audienzzimmer. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Da'an ahnte ja gar nicht, wie weit sein Verrat ging.

 
* * *
 

Kaum hatte sich die Wohnungstür hinter ihr geschlossen, ließ sie sich dagegen fallen, und rutschte langsam daran herunter, bis sie auf dem Boden saß. Wie zum Hohn befand sich genau ihr gegenüber ein großer Spiegel. Verzweifelt sah sie ihr Gegenüber an. Das schmale Gesicht, das nicht das ihre war, die dunklen Locken, die nicht zu ihr gehörten, die zierliche Gestalt, die so erbärmlich in sich zusammengeschrumpft da saß. Sie sah sich selbst an und versuchte auszusprechen, wer sie war.
Doch die Worte, die zu hören waren, lauteten: „Ich bin Melanie Harris!”
Vorsichtig, als fürchtete sie sich, tastete sie über ihr Gesicht. Nein, nicht ihr Gesicht, sondern Melanies. Dieser ganze Körper gehörte Melanie, nicht ihr! Es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gebraucht, bis sie verstanden hatte, was passiert war. Sie hatten ihren Geist und ihre Erinnerungen in diesen bereits implantierten Körper übertragen, um sie daraufhin leichter verhören zu können. Die einzige Möglichkeit, sich zu schützen, war Melanies Geist wiederzubeleben und ihren eigenen dahinter zu verbergen. Sie hatte sich in sie zurückgezogen, hatte sich geistig zusammengekauert.
Das Schlimmste war, dass sie dem Motivations-Imperativ folgen musste, auch wenn sie noch einen freien Willen besaß. Frei denken, aber nicht danach handeln zu können, war eine schlimmere Gefangenschaft als die, die sie in der Sanctuary-Zentrale empfunden hatte.
Ihr Handeln war von dem CVI bestimmt, während sie relativ frei denken konnte. Sie wusste nur nicht, ob sie ihr taelonisches Erbe dafür verfluchen oder dankbar sein sollte.
Auch wusste sie nicht, ob sie nun Melanie oder Liana war. Sie beide befanden sich in einem Körper, ihre beiden Geister begannen allmählich, sich zu vermischen. Liana sah Melanies Erinnerungen und Melanie Lianas. Beide fanden Trost in der Gegenwart der anderen, und doch ...
Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Große Fenster eröffneten einen wunderschönen Blick, da die Wohnung so hoch lag, dass sie über die Dächer der anderen Häuser hinweg sehen konnte. In der Ferne erhob sich das Washington Monument, das von den letzten Strahlen der Sonne erleuchtet wurde.
Vor einem Kamin stand ein kleines Sofa und ein Sessel mit einem niedrigen Tisch davor, außerdem gab es einige Bücherregale, in denen allerdings mehr Aktenordner als Bücher aufbewahrt wurden, ein Klavier und einen Schreibtisch unter einem der Fenster. Auf letzteren steuerte sie zu, nahm ein Blatt Papier aus einer Schublade und begann, mit einem Füller darauf zu schreiben. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, dass der Motivations-Imperativ sie nicht davon abhielt, ihre Gedanken aufzuschreiben:
Freiheit habe ich mir gewünscht und bin nur noch tiefer in Gefangenschaft geraten. Ich habe mir gewünscht, den Himmel zu sehen, habe mir gewünscht, Sonne und Regen auf der Haut zu spüren, doch welchen Preis musste ich dafür zahlen?!
Die einzige Hoffnung, die mir bleibt, ist, dass ich versuchen kann, das CVI in meinem Kopf zum Zusammenbruch zu bringen. Schneller als es normalerweise zusammenbrechen würde. Vielleicht bleibt mir dann Zeit genug, Augur zu kontaktieren und ihn um Hilfe zu bitten. Aber wie lange wird es dauern, bis es zusammenbricht und wie lange werde ich dann frei sein, bevor für mich alles zu spät ist? Und was dann? Wie kann ich jemals meinen eigenen Körper zurück erlangen?
Vorerst muss ich mich wohl damit abfinden, dass ich nun Agent Melanie Harris bin, Sandovals neue Assistentin. Welch eine Ironie, dass ich für den Mann arbeiten muss, der beinahe meine Eltern getötet hätte. Nicht einmal meine Abscheu für ihn kann ich ausdrücken. Ich weiß ja nicht einmal, an welche Regeln sich dieser Motivations-Imperativ hält, dass er mich zwar nicht meine wahren Gedanken aussprechen, aber dafür niederschreiben lässt. Letztendlich ist wohl alles, was mir an Freiheit bleibt, das Aufschreiben meiner Erinnerungen.

Sie steckte die Kappe wieder auf den Füller, betrachtete einen Augenblick das beschriebene Blatt, stand dann auf und ging zum Kamin. Nach kurzer Zeit loderten die Flammen hell auf. Sie nahm das Blatt vom Schreibtisch, riss es mehrere Male durch und warf die unregelmäßigen Fetzen ins Feuer. Sofort wurde das Papier von den Flammen zerfressen und es blieb nichts übrig. Nur Asche.

 

Ende von Kapitel 2

 

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