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  „Visionen” von Ma'ri   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen außer Liana gehören den Eigentümern von Mission Erde/Earth: Final Conflict. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Die Zeitreisen eines Taelon-Mensch-Hybriden
Zeitpunkt:  wechselnd
Charaktere:  Da'an, Liana, Augur, Boone, [Lili]
 

 

VISIONEN

Kapitel 1

 

2010:
Es gab nicht viele Dinge, in denen sich Menschen und Taelons wirklich glichen. Nicht einmal die einfachsten menschlichen Grundbegriffe ließen sich von ihrer Bedeutung her ohne weiteres auf beide Spezies anwenden: Hunger, Durst, Müdigkeit, Hass und Liebe, Wut, ja nicht einmal Freude war für beide Spezies dasselbe, obwohl es vielleicht eines der wenigen Gefühle war, in denen sich die beiden Rassen ähnelten. Doch hatte er in den Jahren, die er nun schon auf diesem Planeten weilte, einen Punkt entdeckt, in dem sich seine Art und die Menschen glichen: Opferungsbereitschaft. Vielleicht war es nicht ganz korrekt zu sagen, dass sich ihre Spezies darin glichen, vielmehr hatte er festgestellt, dass es in beiden Rassen Individuen gab, die diesen Zug besaßen. Ausnahmen gab es immer, und in diesem Fall fragte er sich beinahe, ob Menschen mit Opferungsbereitschaft nicht eher die Ausnahme waren als solche, die sie nicht besaßen. Bei seinen Artgenossen wusste er es mit Sicherheit, er stand ja in ständiger Verbindung mit ihnen. Tatsächlich erwartete man von jedem von ihnen, dass er bereit war, im Notfall sein Leben für seine Spezies und den Erfolg ihrer langfristigen Pläne zu opfern. Er hatte es am eigenen Leib erfahren.
Wie es sich bei der Menschheit im Allgemeinen verhielt, wusste er nicht. Seine Stellung erlaubte ihm keinen engeren Kontakt zu den Menschen um ihn herum, und doch hatte er eine Annäherung unternommen. Zwei Menschen hatte er auf sehr unterschiedliche Weise näher kennengelernt. Boones Vertrauen hatte er langsam und allmählich erworben, was ihm einen ersten tieferen Einblick in die Bedeutung des Menschseins vermittelt hatte.
Sein ehemaliger Attaché. Er schloss einen Moment lang die Augen. War dieses Gefühl, das er empfand, sobald er an ihn dachte, was die Menschen „Trauer” nannten? Er hatte es schon vorher gekannt, hatte es empfunden, als Ma'el auf die nächste Ebene überging, doch nach Boones Tod und auch heute noch war es ungleich stärker. Als ob eine leise Stimme in ihm davon prophezeite, dass er seinen Freund in dem Teil des Lebens, den die Menschen als „Jenseits” bezeichneten, nicht wiedersehen würde. Ma'el war ein Taelon. Auch heute noch geisterten seine Gedanken durch das Gemeinwesen, ihres körperlichen Ursprungs entbunden, aber Boone ...
Er war ein Mensch. Mit seinem Tod waren seine Gedanken verstummt, nur die Erinnerung blieb und auch sie verblasste mit der Zeit. Hatte er nicht in einem Buch eines menschlichen Autors gelesen: „Du stirbst erst in dem Moment wirklich, wenn auch die letzte Erinnerung an dich verschwunden, dein letztes Wort vergessen ist”? Wenn es sich so verhielt, waren Taelons unsterblich, denn ein Teil ihres Wesens blieb im Gemeinwesen erhalten, auch nach ihrem Tod. Aber ein Mensch ...
Der einzige andere Mensch, dem er sich wirklich nahe gefühlt hatte, war Captain Lili Marquette. Lili. Ihre Opferungsbereitschaft war so weit gegangen, dass sie, um der Widerstandsbewegung zu helfen, versucht hatte das Mutterschiff zu zerstören, während sie selbst noch an Bord war. Wobei sie viele Leben einfach ausgelöscht hätte! Er war mehr überrascht als wütend gewesen, dass sie zu solchen Maßnahmen gegriffen hatte. Natürlich war er verärgert gewesen, dass sie diesen Vergeltungsschlag zu unternehmen versucht hatte, aber sie hatte es immerhin mit ihrem Leben bezahlt! Wieder dieses Gefühl. Trauer?
Ihr Vertrauen hatte er auf für Menschen etwas unkonventionelle Art gewonnen. Die Verbindung war für sie beide eine Art Schnellkurs in Freundschaft gewesen. Innerhalb von Sekunden hatten sie einander besser kennengelernt als es bei einer normalen Freundschaft innerhalb eines Jahres möglich gewesen wäre. Für ihn war es gleichzeitig viel mehr gewesen: Es hatte ihm einen tiefen Einblick in die Bedeutung des Menschseins ermöglicht. Ja, durch Lili war ihm die Bedeutung der Worte „Hunger”, „Durst”, „Müdigkeit”, „Hass” und „Liebe”, „Wut”, „Angst”, „Freude” und „Trauer” erst wirklich klar geworden, hatte er menschliche Empfindungen verstanden. Kein Wunder, dass er sie vermisste. In diesem einen Punkt glichen sie sich wirklich: Opferungsbereitschaft.
Da'an wandte sich von dem Fenster ab und kehrte zu seinem Sitz zurück. Kaum hatte er sich niedergelassen, öffnete er einen Datenstrom, in dem er die neuesten Nachrichten der Erde verfolgte. Oder zumindest von außen diesen Anschein erweckte. Innerlich schweiften seine Gedanken immer wieder ab.
Obwohl Lilis Tod nun bereits zwei Wochen her war, empfand er immer noch tiefes Bedauern. Sie hatten seit ihrer Verbindung sehr wenig Zeit miteinander verbracht und nur selten allein. Nach Boones Tod war sie zu Sandovals Assistentin befördert und somit seiner Reichweite entzogen worden. Im Grunde hatte er zwei Freunde auf einmal verloren, wenn auch auf verschiedene Weise.
Wut. Das war es, was sich in die Trauer um seine beiden Freunde mischte. Wut auf Zo'or und seinen Schoßhund Sandoval. Diese beiden waren verantwortlich für seine zunehmende Isolation. Nein, Sandoval konnte er nicht für seine Handlungen verantwortlich machen. Er war nicht mehr der Mann, den er vor vier Jahren kennengelernt hatte, nicht einmal ein Schatten des charmanten jungen Mannes, der sich ahnungslos in die Hände der Taelons begeben hatte. Das CVI hatte ihn mehr verändert als Da'an erwartet hatte.
Und Zo'or? Konnte er den jungen Taelon wirklich für seine Taten verantwortlich machen? Hatte die Synode ihn nicht bereitwillig zu ihrem Führer erklärt, ihn immer wieder bestätigt? Beinahe verachtete er diejenigen, die ihn an die Macht gebracht hatten, mehr als Zo'or selbst. Es war ein Fehler gewesen zu glauben, ihn wie eine Marionette benutzen zu können. Sie hatten ihn unterschätzt. Natürlich waren sie fasziniert gewesen von dieser „Mutation”. Der letzte Taelon, der geboren worden war, hatte nur eine sehr schwache Verbindung zum Gemeinwesen, wodurch er aggressiver war als alle anderen Taelons. Außerdem besaß er dank dieses Zustandes ein funktionsfähiges Shaqarava. Doch diese Marionette hatte sich verselbstständigt. Zwar tat er nach wie vor sein Bestes, um seine Spezies vor der Ausrottung zu bewahren, doch schien er dabei so wenig Skrupel zu besitzen, dass er auch vor Mord an seinen eigenen Artgenossen nicht zurückschreckte, wenn es der Durchsetzung seiner Interessen diente. Es stimmte schon, die Synode hatte ihn zu ihrem Führer erklärt, weil sie selbst nicht wagten, zu derartigen Mitteln zu greifen. Boone hätte vielleicht gesagt: „Zo'or erledigt die Drecksarbeit für sie.” Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Gesichtszüge, als er an seinen Freund und seine Ausdrucksweise dachte.
Das Geräusch von sich nähernden Schritten unterbrach seinen Gedankengang. Liam betrat den Raum, um wie jeden Morgen den Tagesablauf mit ihm zu besprechen. Geduldig wartete der Companionbeschützer, bis Da'an den Datenstrom mit einer grazilen Handbewegung unterbrochen hatte und ihn näher winkte. Es war mal wieder ein Flug zum Mutterschiff geplant. Seit Lilis Tod war Liam Da'ans einziger Shuttle-Pilot. Natürlich hätte er jederzeit einen anderen Piloten anfordern können, aber wozu? Oft waren die Shuttleflüge die einzige Gelegenheit, allein mit Liam zu reden.
Die Vorbereitungen waren bald getroffen und der Companionbeschützer verließ den Raum. Da'an kehrte zum Fenster zurück und starrte hinaus.

 
* * *
 

2015:
Sie hoffte inständig, dass niemand vorbeikam und bemerkte, dass in einem der größeren Lagerräume im Forschungstrakt der Sanctuary-Zentrale trotz der späten Stunde noch Licht brannte. An einer Wand stand das Zeittor, ein annähernd runder, steinerner Rahmen mit einem Aktivierungspanel an der Seite. In Kürze würde sie hindurchgehen. Eine Mischung aus Anspannung und Vorfreude ergriffen von ihr Besitz, während Augur und sie alles noch einmal überprüften. Neben dem Tor stand der Android völlig bewegungslos mit geschlossenen Augen. Ihn zu beschaffen war das größte Problem gewesen, doch mit etwas Hilfe von Augurs alten Kontakten an der Oberfläche war es ihnen gelungen, ein Biosurrogat mit den von ihnen angeforderten Merkmalen zu bekommen und mit einem von Augur geschriebenen Computerprogramm auf seine bevorstehende Aufgabe zu programmieren.
Während er einige Einstellungen an dem Teleportationsapparat vornahm, überprüfte sie den Inhalt der Tragetasche. Ihr war der Ernst der Lage durchaus bewusst. Der kleinste Fehler konnte alles zerstören. Das Verrückte an dieser Zeitreise war, dass sie wusste, dass sie ihre Aufgabe erfüllen würde, da sie sonst nicht hier stünde. Sie erinnerte sich sogar zum Teil daran, zumindest an das Resultat. Allerdings durch die Augen eines Anderen, was vielleicht das Verwirrendste war. Manchmal war sie wirklich froh über ihre geerbte Erinnerung. Dennoch wollte sie kein Risiko eingehen.
Manchmal fragte sie sich, von welchem ihrer beiden Elternteile sie diesen Sinn für Perfektion geerbt hatte, von dem menschlichen oder dem außerirdischen. Oder von beiden?
„Also dafür schuldest du mir aber wirklich ein Abendessen, Liana!” Augurs Stimme unterbrach ihre Gedanken. Als sie sich zu ihm herumdrehte, hielt er ihr triumphierend den TPA entgegen. Sie seufzte. Der Kerl war unverbesserlich! „Ist ja gut, meinetwegen. Dafür musst du ihn mir aber wenigstens noch am Kragen befestigen.”
„Nichts lieber als das!” Sie drehte ihm den Rücken zu und hielt ihr langes, dunkles Haar zur Seite, so dass er es am Nackenstück ihres taelonartigen Overalls befestigen konnte. Das Gerät hatte etwa die Größe einer Streichholzschachtel und einen an einem hauchdünnen Kupferdraht befestigten, fast unsichtbaren Sensor zur Aktivierung. Eben diesen Draht führte er nun über ihre Schulter nach vorne und plazierte den Sensor genau an der Stelle, an die man beim Taelon-Gruß die eine Hand legte. „Der Code ist einprogrammiert, zur Aktivierung musst du also nur an den Sensor tippen. Wie du die Koordinaten eingibst, habe ich dir ja gezeigt.”
Sie verdrehte die Augen. „Mehrmals!” Etwas freundlicher fügte sie hinzu: „Mach dir keine Sorgen, Augur! Alles wird gut gehen. Stünde ich sonst hier?”
„Schon gut. Wer wollte denn alles doppelt und dreifach überprüfen?”
„In zehn Minuten bin ich ja wieder da. Von mir aus können wir danach in die Kantine gehen und zusammen ein sehr frühes Frühstück verdrücken.”
Ihre Worte schienen ihn nicht völlig zu beruhigen, dennoch nickte er. „Gut. Du weißt, wie du das Zeittor bedienen musst?”
Er konnte es nicht lassen! „Augur! Im Gegensatz zu Liam damals kann ich bereits sehr gut mit meinem Shaqarava umgehen. Ich weiß, was ich zu tun habe!”
Beschwichtigend hob er die Hände. „Ist ja gut. Worauf wartest du dann noch?”
Sie lächelte spitzbübisch. „Auf gar nichts. Willst du mich etwa loswerden?”
„Nein, nein, von mir aus könnten wir die ganze Nacht hier herumstehen, aber ich dachte, je eher du gehst, desto eher können wir uns in der Kantine ein paar Spiegeleier machen.”
„Du kannst ja schon mal vorgehen und Kaffee kochen.”
„Mach ich, Chefin!” Dabei salutierte er grinsend.
Sie stieg auf das flache Podest, das das Tor trug, und legte ihre rechte Hand auf das Aktivierungsfeld. In einem Strudel schillernder Farben öffnete es sich. Ein leises Vibrieren schien in der Luft zu liegen. Augur trat an seinen Computer, seine Hände flogen über die Tastatur und der Android öffnete die Augen. Das Programm war gestartet. Mit etwas langsamen Bewegungen trat er neben Liana auf das Podest. Sie sah noch einmal über die Schulter zurück und sagte: „Also, bis nachher, Augur!”, bevor sie gemeinsam mit dem Androiden durch den Vorhang aus bunten Lichtpunkten trat.

 
* * *
 

2009:
Ein seltsames, kribbelndes Gefühl lief durch ihren Körper, als sie auf der anderen Seite aus dem Tor heraustrat. Aber konnte man bei diesem Tor von einer anderen Seite sprechen? Der Android war neben ihr stehengeblieben, während sie sich in dem Raum umsah. Es schien sich um einen Lagerraum auf dem Taelon-Mutterschiff zu handeln. Wie sie erwartet hatte. Das Zeittor stand auch hier an einer der blau-violetten Wände, umgeben von anderen Taelon-Gegenständen, von denen sie einige aus der Sanctuary-Zentrale kannte.
Sie verlor keine weitere Zeit. Augur hatte die Koordinaten ihres ersten Zielorts bereits eingegeben, so dass sie nur noch den Sensor berühren musste, wobei sie einen Arm um den Androiden legte, damit das Gerät auch ihn erfasste. Auch wenn es ihr schwerfiel, musste sie zugeben, dass sie Augur ein dickes Dankeschön schuldete. Nicht nur, dass er Professor Cradens Pläne für den Bau eines Teleportationsapparates umgesetzt hatte, er hatte auch das lästige Aufleuchten beim Teleportieren unterdrückt. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, wenn sie bei jedem Ortswechsel wie eine Leuchtfackel erstrahlte!
Sie teleportierte. Als sie den Androiden losließ und sich umsah, fiel ihr Blick auf den großen blauen Tank, in dem der leblose Körper von Commander William Boone schwebte. Sie trat näher und legte ihre Handflächen auf das glasähnliche Material des riesenhaften Behälters. Während sie mit Hilfe ihrer geerbten Erinnerung ein dreidimensionales Bild von dem verletzten Boone erstellt hatte, hatte sie befürchtet, die Unterschiede würden so gravierend sein, dass Zo'or auf einen Blick erkennen würde, dass es nicht der echte Boone war, der dort drinnen schwamm. Ihre Befürchtungen hatten sich nicht bestätigt. Die Ähnlichkeit mit dem Androiden war verblüffend, jeder noch so kleine Kratzer war identisch. Das Duplikat war perfekt!
Ihre einzige Sorge war jetzt nur noch, ob der echte Boone den Transport überleben würde. Im Grunde wusste sie, dass er es überleben würde, weil sie ihn sonst nie kennengelernt hätte. Sie schüttelte den Kopf, um nicht länger über die Seltsamkeiten von Zeitreisen nachzudenken, sondern sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, trat an den Computer, der auf einem kleinen Tisch neben dem Tank stand, und ließ ihre Hände über die Tastatur fliegen. Nachdem sie den letzten Code eingegeben und ENTER gedrückt hatte, begann sich der kranartige Roboterarm zu bewegen und hob Boones leblosen Körper langsam aus der blauen Flüssigkeit. Gleichzeitig begann der Android, sich zu entkleiden, um sich selbst auf seine Einführung in den Tank vorzubereiten. Trotz allem war Liana nervös und so kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis die Apparatur dicht über dem Boden zum Stillstand kam. Sie trat zu ihm und entfernte das Atemgerät und einige weitere Schläuche und Kabel, die mit seinem Körper verbunden waren, dann trat sie wieder an die Tastatur. Eine weitere Eingabe in den Computer befreite Boone endgültig aus der Halterung, doch kaum war die Stütze verschwunden, fiel sein Körper kraftlos nach vorne, so dass sie schnell zugreifen musste, damit er nicht auf den harten Boden schlug. Vorsichtig brachte sie ihn in eine stabile Seitenlage, zog ein großes Handtuch aus der Tragetasche, breitete es über ihn und begann, ihn behutsam abzutrocknen. Der Android war ebenfalls in die Hocke gegangen und half ihr dabei, Boone die Kleidungsstücke anzuziehen, die er kurz zuvor abgelegt hatte. Als dies geschehen war, wischte sie mit dem Tuch noch die nassen Flecken vom Boden auf und packte es wieder in die Tasche. Sie wollte keine Spuren hinterlassen.
Inzwischen hatte der Android sich selbst in die Halterung begeben und schloss sich an die Lebenserhaltungsgeräte an. Wieder gab sie einige Befehle in den Computer ein, die Halterung schloss sich um den Androiden und der Kran setzte sich in Bewegung, hob ihn hoch, schwenkte über den Rand des Behälters und versenkte den falschen Boone langsam in der blauen Flüssigkeit. Als die Apparatur wieder zum Stillstand kam, schloss der Android die Augen und entspannte sich. Das Bild war dasselbe, wie zuvor, mit dem einzigen Unterschied, dass der echte Boone nun neben ihr auf dem Boden lag. Die ganze Prozedur hatte nur etwa zehn Minuten gedauert. Sie ging erneut neben Boone in die Hocke und überprüfte seinen Puls. Sein Herz schlug nur sehr schwach und unregelmäßig. Eile war geboten.
Sie nahm vorsichtig den TPA von ihrem Nacken, gab die Koordinaten des Zeittors ein, befestigte ihn wieder an ihrem Kragen und beugte sich dicht über den leblosen Freund. Durch ein kurzes Antippen des Sensors teleportierte sie Boone und sich zurück in den Lagerraum auf dem Mutterschiff.
Kaum waren sie an ihrem Zielort angekommen, hörte sie die Stimmen und sah den leeren Fleck an der Wand. Das Tor war verschwunden! Ebenso einige andere Taelon-Gegenstände, die herumgestanden hatten. Die Stimmen kamen näher. Wahrscheinlich Freiwillige, die zurückkamen, um weitere Gegenstände abzutransportieren. Nur wohin?
Obwohl sie mit ihrem Overall bequem als Freiwillige durchgegangen wäre, hatte sie keine Erklärung dafür, dass sie einen halbtoten Companionbeschützer mit sich herumschleppte. Gehetzt sah sie sich um. Verstecken konnte sie sich hier nicht. Man würde sie innerhalb weniger Minuten finden. Mit zitternden Händen nahm sie den TPA vom Nacken, ballte die Hände kurz zu Fäusten, zwang sich damit zur Ruhe und gab die Koordinaten ein, die Augur ihr für den Notfall gegeben hatte. Der Notfall war eingetreten! Sie nahm sich nicht mehr die Zeit, den TPA wieder zu verstauen, sondern beugte sich direkt über Boone und teleportierte sie beide ... in Augurs Wohnung über dem Flat Planet Café.
Langsam erhob sie sich und sah sich um. Will und sie hatten sich mitten im Wohnzimmer des Technikgenies materialisiert. Wenn man es Wohnzimmer nennen konnte. Möbel gab es nur sehr wenige, zwei von Augurs heißgeliebten grauen Liegestühlen, in einer Ecke stand ein Sofa mit einem niedrigen Tisch davor. Auch hier stand natürlich ein Computer an einer Wand, doch war es ein einfaches Modell. Nichts im Vergleich zu Augurs sonstigen Geräten. Daneben führte eine Tür in einen anderen Raum, wahrscheinlich das Schlafzimmer. Im Gegensatz zu der spärlichen Möblierung standen die Kunstwerke, denn davon gab es nicht wenige in dieser Wohnung. Ein Bild schien Augur besonders zu mögen, denn einer der Liegestühle stand davor. Es war nur allzu deutlich, dass der Bewohner dieser Räume nicht oft in ihnen weilte, doch wenn er es tat, schien es für ihn ein Ort der Ruhe und Erholung zu sein. Aber im Augenblick verfluchte sie den Umstand, dass er nicht da war. Es hing einfach zu viel von seiner Hilfe ab.
Mit raschen Schritten überzeugte sie sich davon, dass der angrenzende Raum wirklich das Schlafzimmer war, kehrte zu Boone zurück und prüfte seinen Puls. Im ersten Augenblick dachte sie, er sei tot, doch dann spürte sie den schwachen Herzschlag. Erleichtert drehte sie ihn auf den Rücken, schob den einen Arm darunter, den anderen unter seine Beine und konzentrierte sich. Zu ihrem taelonischen Erbe gehörte zum Glück auch die außergewöhnlich große Kraft, so hob sie vorsichtig den leblosen Körper des Freundes vom Boden hoch. Sie wusste, dass in diesem Moment ein blaues Leuchten über ihren Körper lief. Mühsam trug sie ihn in den Nebenraum und legte ihn auf das Bett. Besorgt strich sie ihm das noch immer etwas feuchte Haar aus der Stirn. Er war totenblass. Wo blieb Augur nur?! Das gehörte ganz und gar nicht zum Plan. Was sollte sie tun? Boone würde nicht lange außerhalb eines blauen Tanks überleben. Es gab eine Möglichkeit, doch die hatte sie nie zuvor ausprobiert. Nun ja, es gab für alles ein erstes Mal. Sie nahm seine Hände in die ihren und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Wieder fühlte sie das blaue Leuchten als Kribbeln auf der Haut, dass wie bei einer leichten statischen Aufladung die Härchen in ihrem Nacken zu Berge stehen ließ. Durch ihre eigene Energie versuchte sie, Boones lebenswichtige Körperfunktionen zu beeinflussen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sein Herz schlagen, doch unregelmäßig, krampfartig, unruhig. Langsam ließ sie ein wenig Energie in seinen Körper fließen, wodurch sie seinen Puls stabilisierte und seine Atmung beruhigte. Als dies geschehen war, unterbrach sie die Verbindung wieder. Die Prozedur hatte so an ihren Kräften gezehrt, dass sie in das Wohnzimmer zurückging und sich dort erschöpft auf das Sofa fallen ließ, um auf Augurs Rückkehr zu warten.
Warum hatte er sie nicht gewarnt? Er musste gewusst haben, dass dies passieren würde, und doch hatte er geschwiegen. Aber vielleicht war es so vorherbestimmt gewesen, wie alles andere. Sie dachte an die Nacht zurück, in der sie diesen seltsamen Traum gehabt hatte. Zumindest hatte sie gedacht, dass es ein Traum gewesen war, bis sie Da'an davon erzählte. Er hatte sie mit schief gelegtem Kopf angesehen und gesagt: „Was du gesehen hast, war kein Traum, sondern eine deiner geerbten Erinnerungen, die in deinem Unterbewusstsein verschüttet war.” Bei diesen Worten war es ihr heiß und kalt über den Rücken gelaufen. Wenn das, was sie gesehen hatte, der Realität entsprach, dann war sie ... eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie war geboren worden, wie jedes menschliche Kind, mit dem einzigen Unterschied, dass sie nicht völlig menschlich war. Tatsächlich besaß sie pro Zellkern nur dreiundzwanzig Chromosomen. Die Funktion der restlichen dreiundzwanzig übernahmen winzige Stränge Taelonenergie, die sich genau wie menschliche DNS-Stränge selbst kopierten. Was hätte sie darum gegeben, Doktor Belmans Gesicht zu sehen, als sie den ersten Blick auf ihr Genmaterial warf. Wissenschaftlich hatte sie eine solche Kombination für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten. Aber im Grunde musste sie ja inzwischen an so etwas gewöhnt sein. Immerhin kannte sie auch Liams Dreifach-Helix. Was konnte einen dann noch überraschen?
Aufgewachsen war sie allerdings nicht ganz so schnell wie Liam und dafür war sie dankbar. Oft fragte sie sich, wie er es ertragen hatte, so plötzlich in den Körper eines ausgewachsenen Mannes versetzt zu werden. Obwohl ihr eigenes Heranwachsen innerhalb eines ganzen Jahres vonstatten gegangen war, fühlte sie sich oft wie ein kleines Kind, das man in den Körper einer jungen Frau gesteckt hatte. Es war verwirrend und beängstigend.
Manchmal wünschte sie sich wirklich, Liam kennengelernt zu haben. Es wäre schön gewesen mit jemandem reden zu können, der genau wie man selbst zwischen den Spezies stand, der wusste, wie einsam diese Position sein konnte. Sie wusste, dass er seine Mutter und seinen außerirdischen Vater verloren, und sein irdischer Vater nichts von seiner Existenz gewusst hatte. Im Grunde sollte sie glücklich sein. Obwohl es nur sehr wenige Menschen und Taelons gab, die ihr wirklich nahe standen, hatte sie zumindest ihre Eltern, die ihr Bestes taten, um ihr das Leben zu erleichtern.
Aber Liam war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geboren, alles stand ihm noch bevor. Fast hatte sie Mitleid mit ihm. Aber sie durfte ihm nicht begegnen, durfte ihm nicht sagen, wer sie war. Oder was!
Eines Nachts, als sie etwa die Größe einer Vierjährigen hatte, hatte sie diese seltsame Vision gehabt. Sie sah sich selbst als Erwachsene Dinge tun, die sie nie wirklich getan hatte. Mit der Zeit waren die Visionen klarer geworden und auf diese Weise hatte sie von dieser Aufgabe erfahren. Sie war in die Vergangenheit gereist, um ihre eigene Existenz zu sichern. Und die von Sanctuary. Boone und Lili waren unentbehrlich für den neuen Widerstand. Und für sie.
Während sie über diese Dinge nachdachte, sank sie langsam in sich zusammen und schlief ein.

 
* * *
 

Es war ein anstrengender Tag gewesen. Nervenaufreibend wäre vielleicht passender gewesen. Mit angehaltenem Atem hatten die Mitglieder des Widerstands die Polizei und das FBI bei ihrer Spurensuche in der Kirche beobachtet. Zum Glück hatten sie sich dabei auf das Hauptschiff der Kirche konzentriert, wo die letzte Auseinandersetzung zwischen Boone und Ha'gel stattgefunden hatte, und hatten den kleinen Seitenraum mit dem Zugang zum Headquarter kaum Beachtung geschenkt. Als sie endlich abgezogen waren und die Nachricht von Lili gekommen war, dass Boone durchkommen würde, hatte Doors in einem Anflug von Freundlichkeit denjenigen Mitgliedern, die nicht unbedingt gebraucht wurden, einen freien Abend gestattet.
Augur hatte diesen Abend im Flat Planet verbracht und war nun auf dem Weg ins Bett. Und nicht allein. Einen Arm hatte er um Susan gelegt, die einige Drinks zu viel genommen hatte und ununterbrochen kicherte. Auch er sah nicht mehr ganz klar, so dass er etwas Mühe hatte, gleichzeitig seine neueste Eroberung zu stützen und den Schlüssel für seine Tür aus seiner Tasche zu fischen. Innerlich fluchte er darüber, dass er sich immer noch kein moderneres Schloss-System besorgt hatte, mit Zahlencode oder Netzhaut-Abtastung, jedenfalls irgend etwas, das in angetrunkenem Zustand besser zu handhaben war als ein altmodischer Schlüsselbund. Andererseits war es so gut wie unmöglich unbemerkt bis zu seiner Wohnungstür vorzudringen, da man dazu an der Bar vorbei musste, so dass er nicht unbedingt ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem brauchte.
Endlich brachte er den Schlüssel ins Schloss, legte seine Handfläche auf das Abtastungsfeld, um die Alarmanlage auszuschalten, drehte den Schlüssel, und die Tür sprang auf. Nebeneinander stolperten sie in seine Wohnräume und irgendwie schaffte er es, Susan gleichzeitig zu einem Kuss an sich zu ziehen und mit dem Fuß die Tür zu schließen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Nach einigen Augenblicken löste sie sich allerdings von ihm und fragte undeutlich: „Wo ist deine Toilette, Süßer?”
Verdammt, warum mussten Frauen in solchen Momenten immer aufs Klo?! „Durch die Tür da ins Schlafzimmer und von da durch die Tür links.”
„Danke, Süßer!” Sie küsste ihn noch einmal kurz, dann wandte sie sich um und wollte sich auf den Weg machen, doch statt dessen gefror sie zur Salzsäule. Augur folgte ihrem Blick und entdeckte, dass auf seiner Couch eine junge dunkelhaarige Frau saß und sie beide mit leicht spöttischem Lächeln ansah. Susan wirbelte zu ihm herum und schrie ihn unvermittelt an: „Was soll das! Ist das so ein perverses Spiel von dir, zwei Frauen gleichzeitig in deine Wohnung zu bringen?!”
„Aber ich weiß gar nicht, wer das ist!”, protestierte er, doch da hatte sie ihm schon eine saftige Ohrfeige verpasst, stürzte aus seiner Wohnung und schlug die Tür so heftig hinter sich zu, dass er unwillkürlich zusammenzuckte. Verärgert drehte er sich zu der Fremden um. Sie schien ein Grinsen kaum noch unterdrücken zu können.
„Vielen Dank! Sie haben mir gerade ein tolles Date verdorben!” Er war wirklich sauer. „Wer sind Sie überhaupt? Und wie sind Sie hier herein gekommen?”
Das Lächeln verschwand und sie erhob sich mit ernster Miene. „Das ist im Moment nicht wichtig! Wichtiger ist, dass ich deine Hilfe brauche, Augur!”
„Das ist mir scheißegal. Meinetwegen kommen Sie morgen wieder.” Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Besucherin eine Art Taelon-Uniform trug. Erschrocken runzelte er die Stirn. „Haben die Companions Sie geschickt?”
Sie sah an sich herab als hätte sie ihren Aufzug auch eben erst bemerkt. „Ich bin keine Freiwillige, wenn du das meinst. Das ist nur Tarnung.”
„Und das soll ich Ihnen glauben?”
„Das musst du!”, sagte sie ernst, ging zu seiner Schlafzimmertür und öffnete sie. „Sonst stirbt er!”
Sie war im Türrahmen stehengeblieben, doch als er verwundert näher trat, ging sie einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf den dahinter liegenden Raum frei. Auf seinem Bett lag jemand. Er trat noch einen Schritt näher, dann erkannte er, wer es war.
„Boone!” Mit zwei Schritten war er an seiner Seite und legte zwei Finger an seine Halsschlagader. Der alte Freund lebte noch. Verwirrt sah er die junge Frau an. „Was soll das bedeuten?”
„Dort, wo er war, konnte er nicht bleiben. Er wäre gestorben.”
„Und hier stirbt er nicht?” fragte der Computerzauberer mit ironischem Unterton.
„Nicht, wenn du mir hilfst, das Zeittor zu finden.”
„Das was?”
„Ein Taelon-Apparat zum Reisen durch die vierte Dimension. Damit bin ich in diese Zeit gekommen, aber es wurde vor kurzem weggebracht, und ich weiß nicht, wohin.”
„Moment, Moment! Sie wollen mir weismachen, Sie sind durch die Zeit gereist?”
„Es ist wahr! Ich komme aus der Zukunft.”
Völlig überrumpelt ließ sich Augur auf die Bettkante sinken. Auch wenn diese Geschichte überaus unwahrscheinlich klang, hatte er keine Ahnung, was für seltsame Geräte die Taelons besaßen. Die Fremde schien zu spüren, dass er noch nicht völlig überzeugt war. „Du kannst mir vertrauen, Augur. Ich weiß von der Widerstandsbewegung, dem Hauptquartier unter der Kirche. Wäre ich nicht auf eurer Seite, hätte ich euch längst alle verraten können.”
Er schwieg einen Moment, so dass sie hinzufügte: „Außerdem hätte ich dich auch ohne weiteres aus dem Weg schaffen können. Eine Falle brauchst du also nicht zu befürchten.”
Skeptisch sah er sie an. Diese junge Dame hielt ja ganz schön viel von sich. Er sagte jedoch nichts in dieser Hinsicht. „Also gut. Wenn ich Ihnen helfe, was passiert dann mit ihm?” Mit dem Kopf deutete er auf Boone.
„Ich bringe ihn in eine andere Zeit, in der er weniger gefährdet ist. Er wird wieder auf die Beine kommen.”
„Wissen Sie das mit Sicherheit?”
„Sonst hätte ich ihn niemals kennengelernt”, antwortete sie lächelnd.
„Na gut, ich suche dieses Zeittor für Sie. Dafür muss ich allerdings in meine Computerzentrale.” Er sah auf die Uhr. „In einer Stunde komme ich wieder.”
„Ich glaube, ich komme besser mit.” Als er widersprechen wollte, machte sie eine Geste, die keinen Widerspruch zuließ. „Es spart Zeit, wenn Boone und ich mitkommen und wir von dort aus zum Zeittor teleportieren.”
„Was?!”
Sie war sichtlich amüsiert über seine Reaktion. „Teleportieren. Keine Sorge, Augur. Das wird noch erfunden.”
„Oh ja, klar.”
„Ich würde es dir ja gerne demonstrieren, wenn du die genauen Koordinaten deiner Computerzentrale hast und mir garantieren kannst, dass da nichts im Weg steht.”
Er war so verwirrt, dass er seine Brille abnahm und sich die Schläfen rieb, um Zeit zu gewinnen. Langsam und tief atmete er ein und aus. Um nicht frühzeitig den Verstand zu verlieren, fasste er den Entschluss, einfach mitzuspielen. So stand er auf, ging zu dem Computer in seinem Wohnzimmer und machte sich auf die Suche nach einer Karte des alten Gewerbegebiets, in dem seine Lagerhalle stand. Die Fremde war ihm gefolgt und sah ihm über die Schulter. Ihm fiel auf, dass er immer noch nicht ihren Namen kannte. Er fragte sie danach.
„Liana.”
Sie schien nicht gewillt, ihm ihren Nachnamen zu verraten. Nun gut, dachte er, und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. Kurz darauf hatte er eine relativ neue Luftaufnahme des Gebietes und legte ein Koordinatennetz darüber. Den Eingangsbereich seiner Lagerhalle vergrößerte er so lange, bis er die genauen Koordinaten eines Punktes direkt vor dem Schiebetor hatte. Erwartungsvoll drehte er sich zu Liana um und deutete auf den Bildschirm. „Bitte schön. Und was kommt jetzt?”
Sie griff sich an den Nacken und brachte ein kleines schwarzes Kästchen in der Größe einer Streichholzschachtel zum Vorschein. Neugierig sah er zu, während sie die Einstellungen machte. Auf der einen Fläche war ein winziges Display eingebaut, auf dem einige Zahlen erschienen. An der anderen Seite befanden sich drei Rädchen, an denen sie nacheinander eine Weile drehte, bis die Zahlen mit denen auf dem Bildschirm übereinstimmten. Dann schob sie es wieder hinten unter ihr Haar.
„Jetzt, mein lieber Augur, wird teleportiert.” Damit ging sie zurück ins Schlafzimmer, setzte sich auf die Bettkante und schob einen Arm unter Boones Rücken, richtete ihn halb auf und winkte mit der freien Hand Augur zu. „Wir müssen jetzt dicht zusammenrücken, damit das Gerät uns alle erfasst. Hilf mir, ihn auf die Füße zu stellen!” Ohne Widerworte entsprach er ihrer Bitte, schob sich Boones linken Arm über die Schulter, während sie dasselbe mit seinem rechten Arm tat, so dass sie ihn gemeinsam hochstemmen und von dem Bett herunterziehen konnten. Dann plötzlich, ohne dass er bemerkt hatte, wie sie den kleinen Zauberkasten aktiviert hatte, standen sie unter freiem Himmel, direkt vor der Lagerhalle. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Diese Aktion war eine Nummer zu groß für ihn, dennoch bemühte er sich, einen klaren Kopf zu bewahren. So bedeutete er seiner Begleiterin, den immer noch bewusstlosen Boone vorsichtig auf den Boden zu legen. „Ich muss vorausgehen und meine Alarmanlage ausschalten”, erklärte er. Doch gerade als er ein paar Schritte in die dunkle Halle gegangen war, hörte er, dass sie ihm folgte. Ungeduldig und etwas wütend drehte er sich zu ihr um. Er hatte erwartet, sie als dunkle Silhouette vor dem schwachen Licht von draußen zu sehen, statt dessen erblickte er ein Wesen, das von innen her in einem sanften blauen Licht zu leuchten schien. Und dieses Wesen trug auf seinen Armen den leblosen Körper seines Freundes. Ihm fiel die Kinnlade herunter. Seine Besucherin war also nicht nur Zeitreisende, sondern definitiv auch außerirdisch!
„Ich erkläre es dir drinnen”, sagte sie mit einer ungeduldigen Kopfbewegung. Er musste heftig schlucken, bevor er den Mund wieder zubekam. Einen Augenblick lang verspürte er heftiges Misstrauen gegen sie, doch dann fiel ihm ihr Ausspruch von vorhin wieder ein: „Ich hätte dich ohne weiteres aus dem Weg schaffen können.” Er hatte es für gnadenlose Selbstüberschätzung gehalten, doch nun war er sich dessen nicht mehr so sicher. Jedoch sprach für sie, dass sie bis jetzt nichts dergleichen versucht hatte. Mit Mühe riss er sich von dem Anblick los, ging tiefer in die dunkle Halle hinein, vorbei an aufgestapelten Schrottteilen, die halb und halb mit Plastikplanen verdeckt waren, und gelangte schließlich an die Tür seines Verstecks. Hier hatte er einen Netzhautabtaster und ein Tastenfeld für den Zahlencode. Mit einem leisen Summen schaltete sich sein Sicherheitssystem ab, so dass sie ungehindert in seine Computerzentrale treten konnten. Ohne weiterhin Zeit zu verschwenden trat der Hacker an eine Tastatur und gab in rasender Geschwindigkeit Befehle ein. Bald lief ein weltweites Suchprogramm nach Taelon-Artefakten in Form eines Tores. Inzwischen hatte seine geheimnisvolle Besucherin Boone in einen seiner Liegestühle gebettet und sah sich um. Als sie den holographischen Bilderzeuger entdeckte, trat sie näher an den zylinderförmigen, durchsichtigen Behälter heran. Nachdenklich legte sie eine Hand auf die Oberfläche und strich langsam darüber. Sie wandte den Kopf zu ihm um und fragte leise und mit spöttischem Lächeln: „Holo-Lili?”
„Woher...”, begann Augur verwirrt, doch dann fuhr er fort: „Alles klar, aus der Zukunft.”
Sie nickte. Das Suchprogramm lief selbständig ab und brauchte einige Minuten Zeit, so lehnte er sich an die Tischkante und sah sie erwartungsvoll an. „Also, was hat dieses Leuchten zu bedeuten? Bist du vielleicht das Ergebnis eines verrückten Taelon-Experiments?”
Diese Vermutung schien sie tief zu treffen, denn das Lächeln verschwand sofort. „Meine Mutter hat mich vollkommen freiwillig zur Welt gebracht! Sie war kein Versuchskaninchen für die Taelons, sondern war sich der Tatsache völlig bewusst, das ihr Kind ein Mischling sein würde.”
„Aber wie ...”
„Ich bin ein Taelon-Mensch-Hybrid. Zufrieden?”
Das war er ganz und gar nicht. „Du willst mir weismachen, dass eine menschliche Frau und ein Taelon ...” Er war einfach zu verwirrt, um noch vollständige Sätze bilden zu können.
Das Lächeln kehrte wieder zurück. „Schwer vorzustellen, ich weiß. Aber wenn es nicht so wäre, stünde ich nicht hier.”
Der Computerfreak stöhnte laut auf. „Was kommt als nächstes?!”, sagte er zu sich selbst. Er bekam eine Antwort in Form eines Signaltons, der an das Klimpern von Münzen erinnerte und ihm die Vollendung der Suche mitteilte. Es gab vier Ergebnisse. Wenigstens nicht fünfhundert, dachte er. Als er das erste aufrief, erschien das Bild eines etwa dreieckigen Tores aus der gleichen seltsamen Struktur, wie alle Taelon-Bauwerke. Liana schüttelte den Kopf, so dass er das nächste Suchergebnis aufrief. Diesmal erschien ein breites, steinernes Quadrat, das nur sehr entfernt an ein Tor erinnerte. Wieder verneinte die junge Frau. Das dritte Bild zeigte einen annähernd runden Ring aus Stein mit einer glatten, ovalen Fläche an der Seite. „Das ist es”, verkündete sie, wobei ihre Stimme hörbar erleichtert klang. Augur überflog den zugehörigen Text. Offenbar war demnächst die Eröffnung eines Museums über die Companions geplant, in dem einige Artefakte ausgestellt wurden. Aus Sicherheitsgründen wurden allerdings einige der Ausstellungsstücke bis zwei Tage vor der Eröffnung in der Taelon-Botschaft in Washington gelagert.
„Wärst du so gut, mir die Koordinaten zu besorgen?”, fragte sie.
„Aber gerne doch.” Es stellte sich allerdings heraus, dass es keine Karte des Inneren der Botschaft gab, so dass er sich mit einer Karte des Außengeländes zufriedengeben musste. Nachdem seine Finger einige weitere Befehle in die Tastatur gehackt hatte, legte sich wieder das Koordinatennetz darüber. Fragend blickte er den Hybriden an. Sie deutete auf einen Punkt, neben einem Springbrunnen in der Gartenanlage. Er vergrößerte den Ausschnitt, bis die Koordinaten seiner Besucherin genau genug waren. Wieder nahm sie das Teleportationsgerät von ihrem Nacken und drehte an den drei Rädchen, bis die Zahlen stimmten.
Augur konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. „Das Einstellen scheint nicht besonders schnell zu gehen.”
„Das ist nur ein Prototyp. Wir werden die Rädchen durch eine Sprechfunktion ersetzen. Für diese Aktion sollte der Prototyp eigentlich reichen.”
„Heißt das, du hast das Ding vorher noch nie ausprobiert.”
„Hey, ich mag ein Hybrid sein, aber lebensmüde bin ich nicht. Wir haben mehrere Testläufe gemacht.”
„Gut! Freut mich zu hören.” Innerlich atmete er erleichtert auf. Er hatte keine Lust für eine neue Technologie das Versuchskaninchen zu spielen. „Wer ist eigentlich ‚wir'?”
Liana verdrehte die Augen. „Ich sehe schon, es lässt sich nicht aufschieben.” Mit sehr ernster Stimme fuhr sie fort. „Was ich dir jetzt sage, musst du um jeden Preis für dich behalten. Kein Mensch oder Taelon darf jemals davon erfahren! Versprochen?”
„Ich schwöre!” Er wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, aber vielleicht ließ sie sich dazu überreden, ihm einige Dinge aus der Zukunft zu verraten, aus denen sich Kapital schlagen ließ.
„Du wirst”, sie suchte einen Augenblick lang nach Worten, „eine große unterirdische Anlage bauen als Stützpunkt für eine neue Befreiungsbewegung.”
Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. „Wozu eine neue? Was ist denn mit der alten?”
„Neu ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. sagen wir eine ‚modifizierte Befreiungsbewegung'. Vieles wird sich in den nächsten Jahren verändern, Augur. In der Sanctuary-Zentrale wird sich der Widerstand verschanzen müssen, um für die Befreiung des Planeten Erde kämpfen zu können!”
„Hast du eine Ahnung, wieviel so etwas kostet? Ich bin nicht Doors!”
„Augur!” Sie kam auf ihn zu und blieb so dicht vor ihm stehen, dass ihre Nasen fast zusammenstießen. Ihre intensiv blauen Augen sahen ihn eindringlich an. „Das Schicksal der Menschheit hängt davon ab! Es wird eine Zeit kommen, da dir dein Geld sowieso nichts mehr nützt. Wäre es dann nicht besser, es für eine gute Sache einzusetzen?”
Unwillkürlich schluckte er. „Wann muss es fertig sein?”
„So bald wie möglich! Am Besten fängst du morgen an.” Sie trat einen Schritt zurück und hockte sich neben Boone, um seinen Zustand zu überprüfen.
Er folgte ihr mit seinem Blick. „Du weißt gar nicht, was du von mir verlangst. Ich kenne dich gerade eine knappe Stunde und du erwartest von mir, mein gesamtes Vermögen zum Bau einer unterirdischen Anlage für ... hunderte von Leuten aus dem Fenster zu werfen?”
Plötzlich wirkte sie unglaublich müde, denn sie schloss die Augen und stützte die Stirn in eine Hand. „Wenn du es nicht tust, fürchte ich, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Aber du wirst es tun.”
Er zog fragend die Augenbrauen hoch. „Warum bist du dir so sicher?”
Nun stahl sich doch noch ein Lächeln auf ihre Züge. „Es muss so vorherbestimmt gewesen sein, dass wir uns zu dieser Zeit begegnen. Ich konnte mich nur nicht daran erinnern, weil keiner meiner beiden Elternteile etwas davon mitbekommen hat. Du hast mir vor meiner Abreise auch nichts davon gesagt.” Er antwortete nicht, so fuhr sie fort: „Wenn du diese Anlage nicht bauen würdest, würden meine Eltern vermutlich nicht überleben und ich wäre nie geboren worden. Dann hätte ich nicht diese Reise unternehmen können und Boone wäre gestorben.”
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Seine Besucherin wandte sich wieder dem leblosen Companionbeschützer zu und fühlte seinen Puls und seine Stirn, auf der sich Schweißtropfen bildeten. Wahrscheinlich hatte er inzwischen hohes Fieber bekommen.
Bis jetzt hatten sich alle Ereignisse dermaßen schnell überschlagen, dass er die junge Frau nicht einmal richtig angesehen hatte. Im Grunde hätte er an ihrer Art sich zu bewegen direkt erkennen müssen, dass sie etwas von einem Taelon an sich hatte. Ihr langes dunkles Haar umrahmte ein ovales Gesicht mit großen, beinahe überirdisch blauen Augen. Ein weiteres Merkmal für ihre außerirdische Abstammung war ihre sehr helle Haut. All diese kleinen, verräterischen Dinge wären jemandem, der nicht Bescheid wusste, wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Eigentlich bereute er gar nicht mehr so sehr, dass Susan vorhin gegangen war.
Schließlich brach er das Schweigen. „Ich habe wohl keine andere Wahl.”
„Nein, hast du nicht.” Sie richtete sich auf und streckte ihm die Hand entgegen. Überrascht sah er sie an. „Ich danke dir, Augur! Für alles.”
„Moment, heißt das, du willst alleine da hin?”
„Natürlich. Du hast schon so viel für mich getan, dass ich nicht von dir verlangen kann, mich auch noch in die Höhle des Löwen zu begleiten.”
Heftig schüttelte er den Kopf. „Boone ist auch mein Freund, Liana. Ich möchte nicht, dass ihn im letzten Moment doch noch ein wild gewordener Companionagent niederskrillt.”
„Danke, dass du so besorgt um mich bist”, meinte sie spöttisch. „Na gut. Aber wenn ich dir sage, dass du umkehren sollst, dann musst du es auch tun. Einverstanden?”
Er legte eine Hand auf die Brust und streckte drei Finger in die Höhe. „Mein großes Ehrenwort!”
Wieder wuchteten sie Boone auf die Füße. Als Augur ihn berührte, wurde sein Verdacht bestätigt. Sein Freund hatte hohes Fieber. Diesmal beobachtete er genau, was die junge Frau tat. Sie hob ihre freie Hand und legte sie auf die Brust. Im nächsten Moment standen sie unter dem freien Nachthimmel und die schwach leuchtende Silhouette der Botschaft ragte vor ihnen empor. Das dunkelhäutige Technikgenie schauderte bei dem Anblick. Das Ganze mutete an wie ein futuristisches Spukschloss. Vorsichtig ließen sie ihre Last zu Boden sinken, um sich erst einmal über ihre weitere Vorgehensweise zu verständigen.
„Diesmal musst du mir beim Tragen helfen, sonst bin ich meilenweit zu sehen”, flüsterte sie.
„Und was ist mit den Überwachungskameras?”
„Kein Problem.”
„Was heißt hier kein ...” Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken, als er sah, wie sie ihre Arme nach vorne streckte, ihre Handflächen in einem blendenden Licht erstrahlten und sich eine Energiewelle von ihnen löste, die eine auf einem hohen Pfosten befestigte Kamera außer Gefecht setzte. Dann drehte sie sich ein wenig und feuerte auf eine zweite Kamera, die er bis jetzt gar nicht gesehen hatte. Sie schien sich hier gut auszukennen.
Entgeistert starrte er sie an. „Wow! Handflächenintegrierte Scheinwerfer mit Elektroschock-Funktion!”
„Shaqarava”, erklärte sie achselzuckend.
„Oh, natürlich!”
„Los komm!” Damit ergriff sie Boone unter den Armen, während Augur seine Beine nahm. Auf diese Weise trugen sie ihn eilig bis zur Außenwand des Gebäudes. Zum Glück standen dort einige Sträucher, die sie verbargen, denn beim Laufen hatte der Hacker zu ihrer linken die tanzenden Lichter zweier Taschenlampen entdeckt, die sich rasch näherten. Der plötzliche Ausfall von zwei Überwachungskameras hatte die Wachleute dann doch mißtrauisch gemacht. Nachdem sie Boone gegen die Wand gelehnt hatten, sah er sich um auf der Suche nach einem möglichen Fluchtweg. Zu seinem Schrecken gab es keinen. Die Sträucher, hinter denen sie sich verbargen, reichten noch etwa drei Meter weit zur Linken und zur Rechten. Im Umkreis von etwa fünfzehn Metern gab es sonst keine Deckung. Es war nur eine Frage von Minuten, bis die beiden Wachmänner sie hier finden würden. Gerade wollte er seine Begleiterin darauf aufmerksam machen, da entdeckt er, dass sie beide Hände auf die lebendige Struktur des Gebäudes gelegt hatte und Wellen des blauen Leuchtens über ihren Körper strömten.
„Willst du nicht gleich schreien: ‚Hier sind wir.'?”, zischte er ihr zu.
Die einzige Antwort bestand aus einem gepressten „Scht!”. So musste er sich damit begnügen abzuwarten. Die Wachmänner hatten inzwischen die beiden Kameras erreicht und begutachteten sie. „Sieht aus wie ein Kurzschluss”, sagte der eine.
„Aber zwei auf einmal? Lass uns lieber die Augen offenhalten. Vielleicht ist ja noch so ein Alien unterwegs. Besser wir rufen Verstärkung.” Damit holte er sein Global aus der Tasche und kommunizierte mit seinen Kollegen. Augur wurde es allmählich ungemütlich. Als er sich zu Liana umdrehte, entdeckte er, dass das lebende Material begonnen hatte, sich an einer Stelle zurückzuziehen, so dass sich ein Loch in der Außenwand bildete. „Wie machst du das?”, fragte er erstaunt.
„Ich habe es darum gebeten”, antwortete sie leise.
„Du hast mit dem Zeug gesprochen?”
„Das Zeug lebt, Augur!”
Allmählich wurde ihm das alles zu viel. Aber er hatte ja darauf bestanden, mitzukommen. Im Nachhinein hätte er sich dafür ohrfeigen können. Er hatte keine Ahnung, wie er hier jemals wieder herauskommen sollte. Inzwischen hatten sich die Wachmänner schon mal alleine auf die Suche nach einem Eindringling gemacht und kamen näher. Doch gleichzeitig wuchs auch das Loch. Als sie an dem einen Ende der Sträucher begannen, zwischen die Zweige zu leuchten, kroch Liana durch das Loch und zog Boone hinter sich her. Der Hacker begann vor Angst zu schwitzen. Die Männer waren noch zwei Meter entfernt. Boones Füße verschwanden im Inneren der Botschaft. Augur krabbelte hinterher. Zum Glück schloss sich die Struktur schneller als sie sich geöffnet hatte. Einige Sekunden lang warteten sie mit angehaltenem Atem, ob sich draußen etwas rührte, doch es war nichts zu hören. Sie waren unentdeckt geblieben.
Erst jetzt sah er sich um. Sie befanden sich auf einer Rampe, die in sanftem Bogen in die Tiefe führte.
„Ab hier gehe ich allein weiter”, sagte Liana. Erst wollte er protestieren, doch ihr Blick ließ keinen Widerspruch zu. „Die Wand wird sich in zwei Minuten noch einmal öffnen und dich hinauslassen. Bleib' in den Büschen, bis sich eine Gelegenheit bietet abzuhauen!” Er nickte. „Denk daran: Du musst vor allen intelligenten Lebewesen, die dir begegnen, so tun als sei ich nie hiergewesen und als sei Boone tot! Niemand darf davon erfahren!”
„Nicht einmal Lili?”, fragte er hoffnungsvoll.
„Nicht einmal Lili! Sie wird es eines Tages erfahren, aber jetzt ist noch nicht die Zeit dafür.”
Langsam nickte er. Der Gedanke, diese Sache vor Lili geheim halten zu müssen, behagte ihm gar nicht.
„Würdest du mir einen Gefallen tun, Augur?”
„Was, noch einen?”, fragte er spöttisch.
„Nur noch diesen: Du wirst bald jemanden kennenlernen, der ebenfalls Hybrid ist. Bitte, passe gut auf ihn auf! Es ist nicht leicht, zwischen den Spezies zu stehen.”
„Also gut”, seufzte er, doch diesen letzten Satz würde er bestimmt nicht so bald vergessen. „Sehen wir uns irgendwann mal wieder?”, fragte er daher.
„Irgendwann, in der Zukunft”, antwortete sie lächelnd. Damit schob sie ihre Arme unter Boone und hob ihn hoch. Wieder spielte das Leuchten über sie hinweg, so dass Augur einen Moment lang an einen Todesengel denken musste, der einen Menschen ins Jenseits trug.
„Danke für alles”, sagte sie noch einmal. „Und denke an dein Versprechen!” Dann drehte sie sich um und schritt mit dem leblosen Boone auf den Armen die Rampe hinab. Als sie verschwunden war, wandte sich Augur der Wand zu, die sich gerade wieder öffnete.

 
* * *
 

2010:
Vorsichtig bettete sie Boone auf die Bahre. Sein Gesicht war beunruhigend blass, so dass sie ihren ursprünglichen Plan, erst ihre Aufgabe komplett zu erfüllen und dann Doktor Belman zu benachrichtigen, verwarf und sich sofort auf die Suche nach dem Doktor begab. Obwohl es noch sehr früh am Morgen war, wusste sie, dass Julianne da sein würde. Sie kannte sie gut. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte die Ärztin sie oft untersucht. Damals hatte sie immer wieder kleine Schwächeanfälle gehabt, bis Doktor Belman vorgeschlagen hatte, dass sie jeden Tag einige Minuten unter dem Energiestrom sitzen sollte. Heute kam sie größtenteils ohne den Taelon-Apparat aus. Nur nach größeren Anstrengungen musste sie eine Weile daruntersitzen.
Die Ärztin hatte auch ihre Mutter während ihrer Schwangerschaft betreut. Auch sie war ein Mitglied des Sanctuary-Widerstands, allerdings arbeitete sie häufig extern, was ihr ermöglichte, einige Medikamente für die Befreiungsbewegung zu besorgen. Liana bewunderte sie für die Energie, die sie für den Widerstand aufbrachte. Ohne sie wären viele Dinge in den letzten Jahren schlechter gelaufen.
Inzwischen war sie vor der Tür zu ihrem Büro angekommen und klopfte. Eine warme Frauenstimme rief: „Herein.” Der Raum war sehr klein, doch er bot gerade Platz für einen Schreibtisch mit einem Computer, drei Sessel und ein Regal voller medizinischer Bücher und Aktenordner. Auf einem der drei Sessel saß Doktor Belman und sah sie fragend an. Vor ihr lag eines der Bücher aufgeschlagen, daneben stand eine Tasse Tee.
„Worum geht es?”, fragte sie höflich, doch Liana bemerkte, wie nervös sie war, dass eine vermeintliche Freiwillige in ihrem Büro aufkreuzte.
„Ich habe einen Patienten für Sie”, drückte sie sich daher vorsichtig aus.
Sofort erhob sich die Ärztin und folgte ihr den Gang hinunter, wo Liana ihr die Tür zu dem Raum öffnete, in dem Boone lag. Juliannes Reaktion glich der Augurs aufs Haar. Sofort rannte sie an seine Seite und fühlte seinen Puls.
Liana verließ den Raum. Hier konnte sie nichts mehr tun, es wurde Zeit für den nächsten Schritt. Um unbemerkt teleportieren zu können, öffnete sie die Tür zum Treppenhaus und lief hinauf aufs Dach. Dort nahm sie den TPA von ihrem Nacken und gab neue Koordinaten ein. Dieses Mal musste bei der Teleportation das Timing perfekt stimmen, da ihr Ziel sich ständig bewegte. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie noch genau zwei Minuten Zeit hatte. Die Sonne begann gerade, sich über den Horizont zu schieben. Die Sonne. Sie sah sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben. Sanctuary war nicht nur ein Zufluchtsort, sondern auch ein Gefängnis. Als die Jaridians gekommen waren, hatten Augur und einige andere Hacker sämtliche Mitglieder des neuen Sanctuary-Widerstands aus den Datenbanken gelöscht. Sie war niemals eingetragen worden, da sie erst nach der Ankunft der Jaridians geboren worden war. Offiziell existierte sie gar nicht und aus diesem Grund konnte sie nicht an die Oberfläche gehen. Wer nicht in den Datenbanken zu finden war, wurde einfach umgebracht, genau wie alle Menschen, die für die Companions gearbeitet hatten, wenn sie sich nicht Sanctuary angeschlossen hatten oder mit dem Großteil der Taelons auf dem Mutterschiff geflohen war.
Noch eine Minute. Sie dachte an Lili. Der Marine Captain schlief jetzt wahrscheinlich fest an Bord des Shuttles, das durch den Weltraum raste, einem ungewissen Ziel entgegen. Obwohl, sie kannte den Bestimmungsort nur zu gut. Am liebsten hätte sie es in die Luft gejagt, nachdem sie Lili von Bord geholt hatte, doch das hätte das Unvermeidbare nur hinausgezögert. In diesem Spiel des Schicksals war sie nur ein Werkzeug. Sie durfte ihren Wünschen nicht frei nachgehen.
Noch eine halbe Minute. Leise zählte sie den Countdown, während ihre Hand über dem winzigen Sensor schwebte. 30 ... 29 ... 28 ... Gleich würde sie in dem Shuttle neben Lili stehen ... 26 ... 25 ... 24 ... Es musste eine schreckliche Erfahrung sein, völlig allein durch die Leere zu fliegen, die bedrohlichen Weiten auf sich zu stürzen zu sehen, ... 22 ... 21 ... ohne Hoffnung auf Rettung. ... 19 ... 18 ...17 ... Fast fürchtete sie sich davor, Lili in diesem Zustand zu sehen, da ihr viel an ihr lag. ... 15 ...14 ... 13 ... 12 ... Die Sekunden schienen immer langsamer dahinzuticken, je näher die Null rückte. ... 10 ... 9 ... Der Sekundenzeiger schien sich wie durch zähen Honig kämpfen zu müssen. ... 8 ... 7 ... Die Sonne hatte sich ein Stück weiter über den Horizont geschoben. ... 6 ... 5 ... Sie beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen, sobald ihre Aufgabe erfüllt war. ... 4 ... 3 ... Bevor sie in die Gefangenschaft von Sanctuary zurückkehrte, wollte sie die Gelegenheit nutzen, ein wenig frische Luft zu atmen, sich an der Oberfläche umzusehen. ... 2 ... 1 ... Sie berührte den Sensor. Einen Moment lang strauchelte sie, als sie sich in dem Shuttle materialisierte, doch dann fand sie ihr Gleichgewicht wieder. Lili saß festgeschnallt in einem der Sitze, der Kopf war ihr nach vorne gefallen. Liana gab erst neue Koordinaten in den TPA ein, dann trat sie an ihre Seite, ging in die Hocke, löste einige Gurte und schüttelte sie sanft an der Schulter. Die Pilotin reagierte nicht. Sie schüttelte etwas stärker, da blinzelte Lili ein wenig, hob den Kopf und sah sie irritiert an.
„Keine Angst, Captain Marquette, Ihnen wird nichts geschehen”, versuchte Liana sie zu beruhigen. Das Mißtrauen in Lilis Augen wurde nur noch stärker. Natürlich, dachte sie, sie hatte ja erst vor kurzem einer Freiwilligen blind vertraut und war damit Sandoval in die Falle gegangen. Einen Moment lang bereute sie fast, Lili aufgeweckt und sie nicht einfach genau wie Boone bewusstlos zurückgebracht zu haben.
„Sie können die Atemmaske absetzen. Es ist noch genug Luft da und wir werden nicht mehr lange hierbleiben.” Zumindest in diesem Punkt hatte die Shuttle-Pilotin einen Beweis dafür, dass sie die Wahrheit sprach, so setzte sie vorsichtig die Maske ab.
„Wer sind Sie?” fragte Lili, wobei sie die Fremde unverwandt musterte.
„Vielleicht Ihre Rettung, wenn Sie mit mir kommen.”
„Wohin?” Mißtrauisch runzelte sie die Stirn.
„Nach Hause.”
Bei diesen Worten ließ Lili den Kopf hängen. „Ich habe kein Zuhause mehr. Auf der Erde kann ich nicht mehr leben, dafür hat Sandoval gesorgt.” Ihr Ton war bitter. Voller Wut ballte sie beide Hände zu Fäusten. Liana konnte sich lebhaft vorstellten, was der Marine Captain mit dem FBI-Agenten getan hätte, wäre er ihr in diesem Moment in die Finger geraten. Beschwichtigend legte sie ihr eine Hand auf den Arm. Lili streifte sie unsanft hab. Mit einem Seufzen erhob sich der Hybrid.
„Hören Sie, ich weiß, dass Sie so bald niemandem mehr vertrauen wollen, aber in diesem Fall werden Sie mit mir kommen müssen!”
„Was sonst?”
„Sonst ... kann Sie niemand mehr retten. Dies ist ihre letzte Chance, wieder heil zurück zur Erde zu kommen!”
„Ich sagte doch, ich kann dort nicht mehr leben.”
„Mir scheint fast, Sie wollen dort nicht mehr leben!”
„Doch, natürlich will ich zurück. Aber ich wurde mit einem CVI implantiert. Ich werde nie wieder dieselbe sein, die ich früher war!”
„Das mag sein, aber es gibt eine Möglichkeit, CVIs zu entfernen. Dazu müsste ich Sie allerdings zur Erde zurückbringen.”
Lilis fast schwarze Augen wurden groß und ein neuer Hoffnungsschimmer zeigte sich darin. Weitere Worte waren nicht nötig. Es war nur allzu deutlich, dass sie mitkommen wollte. Schlimmer als jetzt konnte es sowieso nicht mehr werden. Liana streckte ihr die Hand entgegen, Lili ergriff sie und ließ sich von ihr auf die Füße helfen. Vom langen Sitzen war sie steif geworden und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, doch bevor sie umkippen konnte, hatte Liana schon den Sensor berührt und sie sanft auf das selbe Krankenhausbett gedrückt, auf dem Boone kurz zuvor gelegen hatte.
Verwirrt sah Lili sich um. „Wo ... wo sind wir hier?”
„Im St. Patricks-Krankenhaus. Sie müssen leider fürs erste wieder in einen blauen Tank, bis das Anti-CVI programmiert ist.”
„Wie lange wird das dauern?”
„Alles braucht seine Zeit, Lili. Nur die Hoffnung nicht aufgeben! Übrigens werden Sie bald einen alten Freund wiedersehen.”
„Wen?”, fragte sie verwundert.
Liana zwinkerte vergnügt. „Sie könnten mit mir zu Doktor Belman gehen. Sie dürfte jetzt gerade bei ihm sein.”
Lili nickte und erhob sich immer noch schwerfällig von dem Krankenhausbett. Gemeinsam verließen sie das Zimmer und gingen langsam den Gang hinunter zum Fahrstuhl. Eine Krankenschwester kam ihnen entgegen und bekam große Augen bei dem Anblick: Zwei junge Frauen in Taelon-Uniformen.
Sie fühlten die Blicke noch auf sich ruhen, als die Lifttüren sich hinter ihnen schlossen. Liana wusste, dass die Intensivstation mit den blauen Tanks noch unter dem Erdgeschoss lagen, da die blaue Flüssigkeit nicht längere Zeit mit Tageslicht in Berührung kommen durfte. Lili blickte nervös um sich, als der Fahrstuhl anhielt und sie auf einen anderen Flur entließ.
Dieser Teil des Krankenhauses war früher zur Lagerung verwendet worden, wurde dann jedoch renoviert und mit Taelon-Technologie bestückt. Hier war auch Boone bis zu seinem Tod behandelt worden. Bis zu seinem vermeintlichen Tod.
Sie erreichten eine der zahlreichen Schwingtüren und traten ein. In dem Raum befanden sich gleich drei der großen Tanks, alle bereits gefüllt. In den einen wurde gerade ein Patient eingeführt. Doktor Belman stand an ihrem Computer und überwachte das Geschehen, doch als sie aufsah und Lili entdeckte wurden ihre Augen kugelrund vor Erstaunen. Sie sagte jedoch nichts.
Die Shuttle-Pilotin trat einen Schritt näher an den Tank heran, um zu sehen, wer der Patient war, der gerade darin versenkt wurde. Im nächsten Moment stolperte sie erschrocken zurück, so dass Liana sie schnell am Arm festhielt.
„Boone?”, fragte sie mit zitternder Stimme.
„Ich sagte doch, Sie werden einen alten Freund wiedersehen.” Zu Julianne sagte sie: „Captain Marquette muss unverzüglich ebenfalls in einen blauen Tank.”
Doktor Belman trat näher an sie heran, drückte Lili in einen Stuhl und begann einige kleinere Untersuchungen, fühlte ihren Puls, testete ihre Reflexe. „Was ist mit Ihnen passiert? Es wurde berichtet, Sie seien bei einer Explosion auf dem Mutterschiff umgekommen.”
„Ich wurde bei der Sabotage ertappt und verhaftet.” Dann erzählte sie in knappen Worten, was passiert war.
„Ein CVI? Mit Motivations-Imperativ?”
„Nein.”
„Naja, wenigstens etwas”, seufzte die Ärztin.
„Sie werden Hilfe brauchen, um ein Anti-CVI zu entwickeln”, sagte Liana. „Ich werde mit Da'an sprechen.” Beide Menschen sahen ihr nach, als sie sich umwandte und den Raum verließ.
Nun blieb nur noch das Gespräch mit dem Companion, bevor sie nach Hause zurückkehren musste. Nach Hause. Zurück in die Gefangenschaft. Nein, es war nicht richtig, so darüber zu denken. Es war eine Zuflucht in einer Welt, in der nichts mehr sicher zu sein schien. Sie war frei von der Kontrolle irgendeiner außerirdischen Rasse, doch gleichzeitig musste sie, um eben diese Freiheit zu behalten, in einer abgeriegelten, unterirdischen Anlage leben. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, für die Freiheit zu kämpfen und zu sterben als sein ganzes Leben in Gefangenschaft zu verbringen.
Freiheit. Um der Freiheit willen waren so viele Menschen gestorben, aber war es eine Lösung, sich zu verstecken und abzuwarten, bis alles sich zum Guten wandte?
Sie war wieder auf das Dach des Krankenhauses gestiegen. Sorgfältig gab sie die Koordinaten der Taelon-Botschaft ein. Genauer, die Koordinaten von Da'ans Büro. Sie konnte nur hoffen, dass Liam nicht anwesend war, sonst würde er wahrscheinlich spüren, dass sie „anders” war. Genau wie er.
Der TPA versetzte sie in den Eingangsbereich des Audienzzimmers. Der Companion war allein und stand in Gedanken versunken an einem Fenster mit dem Rücken zu ihr. Langsam ging sie zu ihm hinüber. In zwei Metern Entfernung blieb sie stehen und wartete darauf, von ihm bemerkt zu werden. Seine Hände bewegten sich ein wenig, doch wahrscheinlich war es ihm gar nicht bewusst. Es war ein trauriges Bild, ihn so alleine dort stehen zu sehen. Am liebsten wäre sie zu ihm getreten und hätte versucht, ihn zu trösten, aber sie rührte sich nicht. Nach etwa einer Minute drehte er sich endlich um und sah sie fragend an.
„Wie kann ich Ihnen helfen?” fragte er, wobei seine Hände sich weiterhin ruhelos bewegten.
Fast musste sie lächeln. Wie bedauerlich, dass sie nicht mehr von der Anmut ihres Taelon-Elternteils geerbt hatte.
„Ich möchte Ihnen etwas zeigen, Da'an.”
Diese für eine Freiwillige sehr seltsame Antwort erstaunte den nordamerikanischen Companion sichtlich. „Darf ich fragen, was Sie mir zeigen wollen?”, fragte er in seiner sanften Art.
„Sie werden es sehen. Ich muss Sie allerdings bitten, in das St. Patricks-Krankenhaus mitzukommen.”
Langsam nickte er. „Gut. Ich werde meinen Shuttle-Piloten rufen.” Damit wollte er an ihr vorbei zu seinem Sitz gehen, doch sie hielt ihn zurück.
„Das halte ich für keine gute Idee. Niemand darf davon erfahren! Ich werde das Shuttle fliegen.”
Da'an sah sie einen Moment skeptisch an, doch dann bedeutete er ihr mit einer Geste, vorauszugehen. Auf dem ganzen Weg zum Shuttle-Landeplatz fühlte sie seinen Blick im Rücken. Er war mißtrauisch, doch versuchte, es nicht zu zeigen. Es war schon seltsam. Alle, denen sie auf dieser Zeitreise begegnet war, waren anders als diejenigen, die sie aus ihrer eigenen Zeit kannte. Dabei lagen nur wenige Jahre dazwischen. Aber es war vieles geschehen, die Dinge hatten sich geändert. Doch taten sie das nicht immer?
Sie erreichten das Shuttle und sie half dem Companion, hinein zu klettern. Er ließ sich in einen der Sitze sinken und schnallte sich fest, während sie auf dem Pilotensitz Platz nahm. Zwar hatte sie noch nie ein solches Gerät geflogen, doch hatte sie genaue Erinnerungen daran, wie es funktionierte. Nachdem sie die Checkliste durchgegangen war, ließ sie das Vehikel abheben und steuerte es durch das virtuelle Glas ins Freie. Fast bedauerte sie, dass das Krankenhaus so nah lag, dass kein Interdimensionsflug nötig war. Immer noch ruhten die Augen des Companions auf ihr.
„Sie sind keine Freiwillige.”
Seine ruhigen Worten jagten ihr einen kurzen Schauer über den Rücken. Sie tat als konzentriere sie sich auf die Anzeigen vor ihr.
„Wer sind Sie?”
„Keine sehr passende Gelegenheit für philosophische Fragen, finden Sie nicht?”
Er ging nicht darauf ein. „Sind Sie Sympathisantin der Befreiungsbewegung?”
„So wie Sie?” Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Taelon in diesem Moment die Kontrolle über sein Äußeres verlor. „Keine Sorge, ich habe kein Interesse daran, Sie zu verraten.”
„Für wen arbeiten Sie?”
Diese Frage brachte sie zum Lächeln. „Für niemanden. Außer vielleicht für das Leben.”
„Eine seltsame Antwort.”
„Aber Sie sind erleichtert, dass sie nicht lautet: Für Zo'or.”
Darauf antwortete er nicht, aber sein Misstrauen war eindeutig in Neugier umgeschlagen.
Inzwischen hatten sie das Krankenhaus erreicht und das Käfershuttle setzte auf dem Dach auf. Liana half Da'an beim Aussteigen und gemeinsam bestiegen sie den Fahrstuhl. Auf dem Weg nach unten nutzte der Taelon die Gelegenheit, sie ausgiebig zu mustern. Sie erwiderte den Blick seiner überirdisch blauen Augen. Im Stillen fragte sie sich, was aus ihm geworden wäre, hätte sie diese Reise nie unternommen. Was wäre, wenn? Diese sinnlose Frage stellte sie sich in letzter Zeit viel zu oft.
Die Lifttüren glitten auseinander und sie ging voraus auf die Schwingtür zu, die sie vor knapp zwanzig Minuten zusammen mit Lili durchschritten hatte. Sie trat ein und hielt dem Companion die Tür auf. Auch Lili war inzwischen in einen blauen Tank versenkt worden. Doktor Belman erhob sich von ihrem Stuhl vor dem Computer, als der Taelon den Raum betrat.
Da'an verlor völlig die Kontrolle über seine menschliche Fassade und starrte nur noch ungläubig auf die beiden Widerstandskämpfer in der blauen Flüssigkeit, ging auf die beiden riesigen Behälter zu und legte je eine Hand auf die glatten Oberflächen, wie um sich davon zu überzeugen, dass er seinen Augen trauen konnte. Sein Leuchten pulsierte. Es dauerte eine geraume Weile, bis er seine Fassung wiedergewonnen hatte.
„Commander Boone wird bald wiederhergestellt sein, doch Captain Marquette ...” begann die Ärztin.
„Sie wurde mit einem CVI implantiert, zum Glück ohne Motivations-Imperativ”, fuhr Liana statt ihrer fort. „Dieser Umstand macht es leichter, es zu entfernen oder zumindest zu deaktivieren.”
„Etwas Derartiges wurde nie zuvor versucht.”
„Aber Ihr Volk hat ein Anti-CVI entwickelt!”
„Wie gesagt, es wurde nie getestet.”
Liana trat nah an ihn heran, so dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren und sprach mit ruhiger Stimme: „Captain Marquette kann auf der Erde nicht mehr außerhalb eines blauen Tanks leben. Natürlich könnten Sie sie auch wieder an Bord eines Shuttles verfrachten und sie ihrem Schicksal überlassen. Aber wie könnten Sie dann jemals wieder Boone oder Liam in die Augen sehen? Geschweige denn sich selbst!”
Eine Weile starrten sich beide schweigend an. Dann wandte sich Da'an Doktor Belman zu. „Ich werde Ihnen die nötigen Informationen zukommen lassen, wie sie ein CVI zu einem Anti-CVI umprogrammieren können. Mehr kann ich nicht tun.”
Liana trat einen Schritt zurück und lächelte zufrieden. Damit war ihre Pflicht erfüllt.
Plötzlich wandte der Companion sich noch einmal ihr zu. „Ich weiß nicht, wie Sie es gemacht haben, aber ich danke Ihnen dafür, dass Sie die beiden zurückgebracht haben.”
„Es hängt viel von ihnen ab. Und von Ihnen.”
Mit leicht geneigtem Kopf sah er sie an. „Wollen Sie mir nicht doch verraten, wer Sie sind?”
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Leben Sie wohl, Da'an.” Damit wandte sie sich um und ging.

 
* * *
 

Die Sonne stand schon ein gutes Stück über dem Horizont, als sie das Krankenhaus verließ. Einen Moment lang blieb sie stehen und atmete tief den Geruch der nahen Bäume ein. Ihr war bewusst, dass sie in ihrer Uniform auffallen würde, doch es kümmerte sie wenig. Es war ihre erste Gelegenheit, die Welt an der Oberfläche wirklich zu sehen. Durch ihre geerbte Erinnerung kannte sie Regen, Schnee, Wolken, die Sonne, den Himmel, die Sterne, das Meer. Das Meer! Wie gerne hätte sie es gesehen, gefühlt, geschmeckt. Was hätte sie nicht alles darum gegeben, eigene Erinnerungen daran zu haben. Es selbst erlebt zu haben. Wenn sie nachts nicht schlafen konnte, versuchte sie sich vorzustellen, wie es war, den Regen auf der Haut zu spüren, oder den Schnee mit der Zunge aufzufangen, im Meer zu schwimmen und sich danach in ein großes, warmes Badetuch zu wickeln. Aber der Preis für ein solches ganz normales Leben war der Verlust ihrer außerirdischen Kräfte. Liam hatte sich dafür entschieden, ein Mensch zu sein und so war er größtenteils menschlich geworden. Sie hatte diese Entscheidung nicht getroffen. Augur hatte einmal gesagt, sie setze sich zwischen alle Stühle. Wahrscheinlich hatte er recht. Eines Tages würde sie sich entscheiden müssen, zu welcher Spezies sie gehören wollte, aber so weit war sie noch nicht. Würde sie vielleicht auch nie sein. Solange sie sowohl mit Menschen als auch mit Taelons eng zusammenlebte, würde sie ihre außerirdischen Fähigkeiten behalten. Sobald sie Sanctuary verließe, würden sie verschwinden.
Langsam ging sie die Straße hinunter. Viele Menschen eilten an ihr vorbei, wahrscheinlich ihrer Arbeit entgegen. Sie hatte sich geirrt. Kaum jemand beachtete sie, so sehr waren die Menschen schon an den Anblick von Freiwilligen gewöhnt. Obwohl der Ausnahmezustand vor zwei Wochen beendet worden war, waren die Truppen der Freiwilligen geblieben. Schlechte Zeiten waren angebrochen, nur leider wussten die meisten Menschen nicht, wie schlecht.
Plötzlich hatte sie das seltsame Gefühl, dass jemand sie verfolgte. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Trupp Freiwilliger direkt auf sich zu kommen. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, ging sie weiter, obwohl sie nichts lieber getan hätte als so schnell wie möglich wegzulaufen. Statt dessen atmete sie einige Male tief ein und aus. Bei der nächsten Kreuzung bog sie ab und versuchte, sich in einer dichten Menschenmenge zu verbergen. Die Freiwilligen folgten ihr und holten sogar etwas auf. Auf diese Weise wurde sie sie nicht los. Solange Menschen in der Nähe waren, konnte sie nicht einmal den TPA verwenden, um sich in Sicherheit zu bringen. Wieder bog sie ab und die Straße wurde ein wenig leerer. Ein Blick über ihre Schulter zeigte ihr, dass die Verfolger auf zehn Meter herangekommen war. Das konnte kein Zufall mehr sein. Als sie den Eingang zu einer schmalen Gasse erreichte, fing sie an zu rennen. Die Freiwilligen folgten ihr. Sie hörte eine Stimme: „Bleiben Sie stehen!” Es spornte sie nur an, ihre Geschwindigkeit weiter zu erhöhen. Dennoch kamen die Schritte hinter ihr näher. Das Ende der Gasse lag noch ein gutes Stück vor ihr, aber es sah nicht so aus als würde sie es erreichen. Sie ließen ihr keine Wahl!
Ihr Shaqarava glühte auf, warf die beiden vorderen Freiwilligen zu Boden. Ihr Vorsprung vergrößerte sich wieder. Sie hatte das Ende der Gasse fast erreicht. Hinter ihr schrien ihre Verfolger wild durcheinander. Fast hätte sie laut gelacht vor Freude, doch da fühlte sie plötzlich einen schmerzhaften Stich an ihrem Arm. Ein langer, dünner Betäubungspfeil hatte die Uniform durchbohrt und steckte in ihrem Fleisch. Fast im selben Moment wurden ihre Beine schwer wie Blei und es fühlte sich an als watete sie durch Wasser. So sehr sie sich auch anstrengte, sie wurde immer langsamer und musste schließlich stehen bleiben. Die Schritte kamen wieder näher, doch bevor sie sie erreichten, gaben ihre Beine unter ihr nach, ihr Hinterkopf schlug hart auf das Pflaster auf und es wurde ihr schwarz vor den Augen.
Sie war sich so sicher gewesen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Zugegeben, sie war erfolgreich gewesen, hatte sie doch einen todsicheren Beweis dafür, dass Boone und Lili zurückgekehrt waren. Aber woher hatte sie die Sicherheit genommen, dass sie selbst zurückkehren würde?

 

Ende von Kapitel 1

 

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