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  „Hinter den Masken” von Emma   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Frühjahr 2001
Alle hier vorkommenden Personen gehören den jeweiligen Eigentümern. Mission Erde/Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Lili, Elaine und Belman kommen dem Plan der Taelons auf die Spur, während diese sich mit einer Reihe neuer Probleme konfrontiert sehen.
Zeitpunkt:  einige Monate nach der Ankunft der Taelons auf der Erde
Charaktere:  Lili Marquette, Ronald Sandoval, Sa'el, Da'an (Juliana Belman, Elaine Lorber)
 

 

HINTER DEN MASKEN

Kapitel 5

 

Nachdem Lili Sandovals Büro verlassen hatte, machte sie sich auf den Weg zurück zum Shuttle. Sie hatte zwar noch etwas Zeit, bis sie Da'an wieder von der Botschaft abholen musste, doch im Shuttle hatte sie ihre Ruhe. Sie musste nachdenken. Wie sollte sie Elaine von dieser neuen Situation berichten, ohne dass Sandoval oder seine Spitzel es mithörten und sie doch noch auf seine schwarze Liste kam? Gesetzt den Fall, dies war kein mieser Trick und sie schon längst zum Abschuss frei gegeben.
Sie hatte das Shuttle noch nicht erreicht, da klingelte ihr Global. Schlecht gelaunt zerrte sie es aus ihrer Jackentasche und blickte erstaunt in das Gesicht einer älteren Frau. *Belman*, schoss es ihr durch den Kopf. *Das ist eine der Ärztinnen! - Na, also! Es geht eben auch ohne CVI!*
„Was kann ich für Sie tun, Dr. Belman?”
„Kommen Sie ins Lazarett. Ich muss Sie bitten, ein paar Kranke an einen anderen Ort zu transportieren.”
„Okay, bin unterwegs!” Mürrisch schloss Lili das Global. „Vom Taxi zum Krankentransport, ein echter Aufstieg!”

Wenige Minuten später landete sie auf einer Freifläche zwischen den in Containerbauweise errichteten Gebäuden des Lazaretts.
Belman hatte sie bereits erwartet und kam schnell auf sie zu. „Captain Marquette, schön Sie kennen zu lernen!” Beiläufig drückte sie ihr die Hand und war auch schon wieder auf dem Weg nach drinnen. Nach einigen Schritten drehte sie sich um. „Worauf warten Sie? Los, kommen Sie!”
Lili hatte keine Gelegenheit, der Frau eine Abfuhr zu erteilen. Sollte Sie jetzt auch noch selbst die Krankenbahren schleppen? Verärgert vergrub sie beide Hände in den Jackentaschen und folgte Belman.

Diese führte sie durch einen Vorraum in ein gut gesichertes Büro und von dort aus in ein Labor. Lilis Aufmerksamkeit wurde so von dem jungen Mann, der scheinbar bewusstlos auf einer Krankenbahre in der Mitte des Raumes lag, beansprucht, dass sie Elaine erst bemerkte, als sie zu ihr trat und sie ansprach.
„Schön, Sie wieder zu sehen”, begrüßte die Privatdetektivin sie freundlich.
„Ja, ich freue mich auch”, erwiderte Lili artig, während sie sich fieberhaft fragte, wie sie Belman loswerden konnte, um eine paar Sätze mit Elaine wechseln zu können. Doch ihre neue Freundin unterbrach ihre Überlegung.
„Keine Sorge, Lili. Belman ist auf unserer Seite.”
„Wie?”, überrascht fuhr Lili herum und starrte die Ärztin an.
„Ja, Captain Marquette, Sie haben richtig gehört, auch ich gehöre zu den Leuten, von denen Jonathan Doors seine Informationen bezieht”, bestätigte die Ärztin mit einem verschmitzten Lächeln.
„Doors hat mir nichts gesagt. Haben Sie das gewusst?”, wandte sich Lili an Elaine.
„Nein, ich habe es auch eben erst von Dr. Belman erfahren,” lautete die Antwort, wobei die Stimme der Detektivin im Gegensatz zu Lilis deutlich verärgert klang. „Doors schätzt es meiner Erfahrung nach leider sehr, mit derartigen Überraschungen aufzuwarten.”
„Es war nicht notwendig, dass wir davon wussten. Im Gegenteil es wäre sogar riskant gewesen”, entgegnete Lili ungerührt. „Sandoval hat mir mitgeteilt, dass er alle Globaltransmissionen in diesem Schild überwachen lässt und darüber hinaus mit Hilfe der Taelontechnik in der Lage ist, alle Codierungen zu knacken.”
„Oh, mein Gott!” Elaine sah Lili erschrocken an. „Dann hat er...”
„Ja, aber glücklicherweise hält er mich für unschuldig. Und er konnte wohl auch nicht ermitteln, wohin Sie La'rons Bericht weitergeleitet haben. Sie werden jetzt allerdings überwacht.”
Elaine entspannte sich. „Na, wenn Ihre und Doors Tarnung nicht aufgeflogen ist, dann ist ja noch mal alles gut gegangen. Und was mich betrifft, nun, ich wurde auch vorher schon überwacht. Sandoval wusste von Anfang an, wer ich bin. Er kann nur nichts gegen mich unternehmen, da mein Presseausweis und mein Engagement für eine kleine Provinzzeitschrift echt sind. Wir müssen...”
„Was diese Information für die Zukunft bedeutet, sollten wir nicht jetzt besprechen”, unterbrach Belman die Diskussion. ”Für den Augenblick gibt es wichtigeres: Wir müssen ihn hier raus schaffen.” Damit deutete die Ärztin auf den Mann auf der Bahre.
„Was ist mit ihm?” Lili trat an das Kopfende der Liege. Der Mann war jung und sah friedlich, ja irgendwie sogar rührend aus. Sie war versucht ihm eine Haarsträne aus dem Gesicht zu streichen, die nach vorne gefallen war.
„Er ist tot.”
„Was?”, erschrocken fuhr Lili zurück. Sie hatte schon viele Leichen gesehen, diese jedoch... „Er sieht aber nicht tot aus. Sind Sie sicher?”
„Bin ich. Gehirnaktivität gleich null. Doch Sie haben schon recht, diese Leiche ist sonderbar. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass der Mann seit gestern Abend tot ist, doch es lassen sich keinerlei Zerfallsprozesse ausmachen.”
„Wie ist so etwas möglich?”
„Es ist nicht möglich,” antwortete Belman trocken. „Zumindest nicht, soweit ich weiß.”
„Woran ist er gestorben?”
„An Kreislaufversagen. Und das ist das sonderbare: Er gehörte zu den mittelschweren Strahlenopfern, also zu denen, bei denen davon auszugehen war, dass sie es mit Hilfe der Taelonbehandlung überleben würden. Doch dann ging es ihm gestern morgen plötzlich sehr schlecht und er wurde ins Taelonlabor verlegt, in die direkte Obhut von Sa'el. Und dort ist er dann gestorben.”
Lili hatte das Gefühl als würde eine eisige Hand nach ihr greifen und sie hörte, wie Elaine scharf die Luft einzog. Sie wechselte einen ernsten Blick mit Belman, bevor sie aussprach, was sie alle dachten: „Sie machen Experimente mit Menschen!”
„Das glaub ich nicht!” Elaine schüttelte entsetzt den Kopf. „Nicht ohne weitere Hinweise.”
„Weitere Hinweise? Kein Problem!” Belman ging zu einem Computer und rief einige Informationen auf den Bildschirm. „Der Junge hieß Antonio Mineto. 24 Jahre alt, italienische Abstammung, aus armer Familie, keine bekannten lebenden Angehörigen, er war Gelegenheitsarbeiter und erst seit drei Monaten in der Stadt.”
„Ein ideales Opfer, dessen Verschwinden niemand kümmert”, murmelte Lili.
„Richtig. Zudem war er weitgehend gesund und hat auch die Strahlenbelastung körperlich vergleichsweise gut verkraftet. Bis eben gestern morgen. Es schien so, als hätte er eine allergische Reaktion auf eins der Medikamente entwickelt. Doch es ist ohne weiteres möglich, dass die Medikamente ausgetauscht wurden und diese Reaktion durch ein anderes Mittel, das absichtlich verabreicht worden ist, hervorgerufen wurde. Mir fallen spontan drei verschiedene Substanzen ein, mit denen man zeitweise eine solche Reaktion hervorrufen kann, ohne dass ein wirklicher Schaden entsteht.”
„Haben Sie eine davon nachweisen können?” Elaines Stimme klang nach wie vor skeptisch, ja sogar abwehrend.
„Nein, ich kann hier keine Autopsie durchführen. Deswegen sind Sie, Captain Marquette, auch hier. Wir müssen die Leiche unauffällig wegschaffen. Und zwar schnell. Offiziell ist sie bereits verbrannt worden. Agent Sandoval hatte es sehr eilig. Sie sollte direkt vom Labor ins Krematorium gebracht werden und ich musste mich wirklich anstrengen, um an sie heranzukommen, ohne dass jemand etwas merkt. Finden Sie diese Hast nicht auch etwas verdächtig?”, fragte Belman wieder an Elaine gewandt.
Diese ließ sich nicht darauf ein. Misstrauisch, beinahe feindselig, musterte sie die Ärztin. „Wenn Sie die Leiche gar nicht auf dem Untersuchungstisch hatten, wieso sind Sie dann auf die Idee gekommen, dass etwas nicht stimmt?”
Belman erwiderte ruhig ihren Blick. „Weil dies nicht der erste Fall war.” Sie dreht sich zum Monitor und rief weitere Daten auf. „David Porter, ein 21 jähriger Afroamerikaner. Der Vater war Pförtner des Atomkraftwerks und ist kurz nach dem Unglück gestorben, keine weiteren Angehörigen. Jean Valun, 23 Jahre, Belgier, arbeitete als Kellner hier im Hotel. Er hat Angehörige, aber die sind in Europa. Lilian Schulman, 19 Jahre alt, ein Mädchen aus dem Ort, Halbwaise, der Vater hat vor Jahren die Familie verlassen, Aufenthaltsort unbekannt. Ist bei ihrer Tante und deren fünf Kindern aufgewachsen. Nach allem, was ich gehörte habe, keine liebevolle Umgebung. Mit allen ist etwas ähnliches passiert: Nachdem sich ihr Gesundheitszustand plötzlich rapide verschlechtert hatte, wurden sie alle von dem gleichen Arzt untersucht und in Sa'els Labor verlegt. Und ihre Totenscheine wurden ebenfalls alle von diesem Arzt unterschrieben: Dr. Frank Stratton, dem Assistenten von Sa'el. Brauchen Sie noch weitere Hinweise?”
Elaine antwortete nicht. Totenblass sank sie gegen die Wand und ließ sich auf den Boden gleiten. „Das glaub ich nicht, das kann einfach nicht sein,” stammelte sie immer wieder vor sich hin, das Gesicht in die Hände vergraben.
Lili warf Belman einen verwirrten Blick zu, doch diese verzog nur ärgerlich den Mund. „Beruhigen Sie sich!”, fuhr sie Elaine an. „Die Vorstellung, dass Experimente an Menschen gemacht wurden, ist grausig, aber wir können uns hier keinen hysterischen Anfall leisten. Also nehmen Sie sich verdammt noch mal zusammen.” Belmans Ton war hart und streng, doch er zeigte tatsächlich Wirkung. Elaine hörte auf zu zittern und hob den Kopf.
„Sie verstehen nicht,” murmelte sie und suchte erst Belmans und dann Lilis Blick, bevor sie die Augen schloss und tief einatmete. „Frank Stratton ist mein Freund,” begann sie zögernd, doch dann kamen die Worte immer schneller. „Ich habe seit zwei Jahren eine Beziehung mit ihm. Ich kann einfach nicht glauben, dass er so etwas tun würde. Ich kann nicht glauben, dass ich mit jemandem zusammen war - bin, der zu so etwas imstande ist. Ich...” Sie brach ab und biss sich auf die Lippe.
Lili und Belman wechselten einen Blick und eine ganze Weile sagte niemand etwas. In dieser Situation gab es keine Worte, alles hätte entweder hart oder pathetisch geklungen.
Schließlich stand Elaine auf und sah Belman mit ausdruckslosen Augen an. „Haben Sie irgendeine Ahnung, wozu diese Experimente dienten?”
„Nicht die geringste,” verneinte die Ärztin. „Deswegen ist es ja auch so wichtig, dass wir die Leiche an einen Ort bringen, an dem ich sie untersuchen kann.”
„Wir sollten uns damit beeilen”, mischte sich Lili ein und zwang die Gesichter der Versuchsopfer mit all ihrer Willenskraft aus ihrem Kopf. „Ich muss demnächst Da'an in Washington abholen. Vorher muss das über die Bühne gehen. Wie bringen wir die Leiche von hier weg, ohne dass jemand etwas merkt?”
„Ich habe noch einige leichte, schon behandelte Fälle, die ich in ein Krankenhaus schaffen will, in dem ein befreundeter Arzt arbeitet”, antwortete Belman. „Unter diese Kranken schmuggeln wir auch die Leiche. So wie sie aussieht, merkt ja niemand, dass er tot und nicht bewusstlos ist.”
„Makaber...” Lili verzog das Gesicht.
Belman öffnete den Mund um etwas zu erwidern, als plötzlich ein Signalton anzeigte, dass jemand an der Tür war. Sie ging schnell zum Monitor. „Mist! Das ist Sandoval! - Verstecken Sie sich.”
In Windeseile drückte Belman dem Toten eine Sauerstoff-Maske aufs Gesicht und drehte die Bahre so, dass man ihn durch das Glasfenster, die das Labor vom Büro trennte, nicht erkennen konnte. Lili und Elaine kauerten sich unterhalb der Scheibe auf den Boden, während Belman die Tür zwischen Labor und Büro verschloss.

Lili hörte wie Belman Sandoval öffnete und gleich darauf erklang seine verärgerte Stimme.
„Warum schließen Sie ab, Dr. Belman? Was soll das?”
„Oh, einen schönen guten Tag, Agent Sandoval. Kommen Sie doch herein!”, begrüßte Belman den Mann herausfordernd freundlich. Schritte zeigten an, dass die beiden in den Raum traten.
„Ich bin nicht hier um Höflichkeiten auszutauschen. Warum haben Sie mich warten lassen?”
„Sie müssen wohl immer alles ganz genau wissen? Ich habe abgeschlossen, da ich im Labor
mit gefährlichen Stoffen hantiert habe und ich will nicht, dass währenddessen jemand dort hinein trampelt.”
„Gefährliche Stoffe? Wollen Sie Ihren Patienten vergiften?”
„Sagt Ihnen der Spruch ‚Die Dosis macht das Gift’ etwas?”
„Paracelsus. Er hatte von Dosierung nicht viel Ahnung, sonst wäre er nicht an einer schleichenden Quecksilbervergiftung gestorben.”
„Wie nett, dass Sie mich extra besuchen kommen, um mit mir über Medizingeschichte zu plaudern oder wollen Sie mir nur zeigen, dass Ihr CVI funktioniert?”
Lili biss in ihrem Versteck die Zähne zusammen, um nicht laut loszuschreien. Konnte Belman nicht versuchen, Sandoval so schnell wie möglich loszuwerden? Musste Sie ihn auch noch provozieren? Sie warf Elaine einen Blick zu und rollte genervt mit den Augen, doch die andere Frau saß nur zusammengekauert da und war mit ihren Gedanken anscheinend weit weg.
„Weder noch,” erwiderte in der Zwischenzeit Sandoval ungerührt. „Ich wollte mich nach zwei Ihrer Patienten erkundigen. Belle und Steve Hartley. Sie sind Patenkinder eines Politikers, der gerne Gouverneur werden will.”
„Und die sollen wir nun bevorzugt behandeln?” Belman klang weniger verärgert als resigniert.
„Wenn Sie in Ruhe weiterarbeiten wollen: ja. Wie geht es den beiden?”
Lili hörte das Klappern der Tastatur und dann erst mal nichts mehr.
„Was ist, Doktor?”, wollte auch Sandoval ungeduldig und etwas beunruhigt wissen. „Sie gehören nicht zu den schweren Fällen.”
„Nein, aber gestern Nacht gab es wohl eine Komplikation. Sie sind von Dr. Stratton in Sa'els Labor verlegt worden.”
Lili spürte wie ihr das Blut in den Kopf schoss und sie hörte ihren Puls in den Ohren pochen. *Nein, bitte nicht!*, war alles, was sie denken konnte.
Sie nahm kaum wahr wie Sandoval einen unterdrückten Fluch ausstieß und ohne weiteren Kommentar das Büro verließ.

Erst als Belman wieder ins Labor kam, stand sie langsam auf.
„Noch zwei... Wir müssen ihnen helfen!”
„Wie denn?” Belman schüttelte den Kopf. „Nein, um die zwei wird Sandoval sich kümmern. Er hat ein Interesse, dass ihnen nichts geschieht.”
„Falls es nicht schon zu spät ist... Aber Sie haben recht. Machen wir uns lieber an die Arbeit!” gab Lili zu und wollte sich der Bahre zuwenden. Dabei fiel ihr Blick auf Elaine, die zwar mittlerweile auch aufgestanden war, aber immer noch abwesend vor sich hin starrte.
Belman folgte ihrem Blick.
„Elaine, ich schlage vor, Sie überlassen den Rest Lili und mir und legen sich erst mal eine Weile aufs Ohr”, sagte sie resolut. Sie ging zu einem Schrank und holte aus einer Schublade ein paar Tabletten heraus. „Hier nehmen Sie die und ruhen Sie sich aus.”
Elaine nickte erschöpft. „Ja, scheint so als bräuchte ich etwas Ruhe, bevor ich wieder klar denken kann.” Sie nahm die Tabletten. An der Tür drehte sie sich noch mal um. „Wenn wir uns das nächste Mal sehen, Lili, dann werde ich Sie wie gestern zu einem Kaffee einladen. Wir sollten alles vermeiden, was Sandoval Verdacht schöpfen lassen könnte.”

„Die Arme”, meinte Lili als Belman und sie alleine waren.
„Ja, Experimente an Menschen sind allein schon schrecklich genug, aber wenn es der eigene Freund macht...” Die Ärztin schüttelte sich. „Allerdings war mir dieser Kerl von Anfang an unsympathisch.”
„Das hilft jetzt nichts. Lassen Sie uns die Leiche ins Shuttle transportieren. Ich will die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen.”

 
* * *
 

Aufgebracht ging Sandoval in Richtung Taelon-Labor. Er hoffte wirklich inständig, dass es sich bei den Zwillingen tatsächlich nur um eine Verschlechterung ihres Zustandes handelte und nicht... Nein, wieso sollten sie plötzlich an zwei Objekten zugleich experimentieren? Das ergab keinen Sinn und es war schließlich üblich, dass die schweren Fälle von Sa'el und Stratton direkt behandelt wurden. Schon allein, um keinen Verdacht zu erwecken, wenn jemand verlegt wurde. Doch schon wenn es ihnen schlechter ging, war dies schlimm genug. Brown würde toben, wenn er nicht zu vorteilhaften Medienbildern kam!

Stratton sah überrascht auf, als er in sein Labor gestürmt kam. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Sandoval ließ ihm nicht die Zeit dazu.
„Wie geht es den Zwillingen?”
„Den Zwillingen...” Die Art wie Stratton sich zu Sa'el umsah, der in diesem Moment eintrat, ließ bei Sandoval alle Alarmglocken klingeln.
Gemessenen Schritts kam Sa'el näher.
„Warum bitte, fragen Sie nach Belle und Steve Hartley?”, wollte der Taelon wissen und er unterstrich seine Frage mit einer Handbewegung.
„Ein Politiker ist mit ihnen verwandt und wir brauchen sie für eine Medienpräsentation.”
„Das wird nicht möglich sein.” Die Mimik des Wissenschaftlers blieb unverändert, doch Sandoval meinte in seiner Stimme eine gewisse Verärgerung zu hören.
„Haben Sie sie für das Projekt verwendet?” Sandoval gab sich alle Mühe ruhig zu bleiben.
„Ja. Sagen Sie diesem Menschen, sie seien gestorben.”
Sa'el wollte sich abwenden und den Raum wieder verlassen, doch Sandoval war nicht bereit, sich so schnell abfertigen zu lassen. Der Taelon begriff nicht, welche Probleme das verursachen würde.
„Dann haben sie es also überlebt, könnten wir nicht...”
„Nein, wir können nicht!”
Sandoval schrak zurück. Noch nie hatte er einen Taelon derart hart erlebt. Sa'els Augen schienen sich direkt in sein Gehirn zu bohren. Unwillkürlich senkte er den Blick. Als er wieder aufsah, war Sa'el verschwunden und Stratton trat mit einem schadenfrohen Grinsen zu ihm.
„Na, da werden Sie sich wohl was einfallen lassen müssen!”, sagte er herablassen und folgte seinem Chef.

Doch das letzte Wort in dieser Sache sprach Da'an! Sandoval war sich sicher, dass der Nordamerikanische Companion verstand wie gefährlich diese Situation für das Ansehen der Taelons war. Er verließ das Gebäude und zog sein Global aus der Tasche.
”Gibt es ein Problem, Agent Sandoval?”
Manchmal glaubte er, Da'an könne seine Gedanken lesen.
„In der Tat...” Er gab seinem Vorgesetzten eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse und schon an dessen Blick konnte er ablesen, dass er begriff.
„Ich werde mich um diese Sache kümmern.”
„Sehr gut!” Sandoval fühlte, wie der Druck von ihm wich und sein anderes Problem wieder in sein Bewusstsein trat. „Wann sind Sie zurück?”
„In Kürze. Gibt es weitere Schwierigkeiten?”
„Ja...”, gab er zögernd zu und er war mit einem Mal gar nicht mehr so glücklich über Morels Verrat. „Ich muss mit Ihnen reden...”
Da'an antwortete nicht, sondern sah ihn einfach nur fragend an.
„Ich... ich denke... ich habe Beweise, dass Stella Morel Mitglied in der Gruppe ist, die das Bostoner Attentat durchführte.”
Da'an schloss die Augen und dreht den Kopf zur Seite. Leuchtende Energieströme liefen über sein Gesicht. Es tat Sandoval fast körperlich weh.
„Sie wird für diesen Verrat bezahlen!” Ja, das würde sie. Er schwor es sich!
„Bitte informieren Sie Dr. Morel, dass ich sie sehen möchte, sobald ich zurück bin. Und schicken Sie mir alle Daten, die Sie diesbezüglich gesammelt haben.”
„Selbstverständlich, Da'an!”, antwortete er leise und sah wie der Taelon mit einer seiner grazilen Bewegungen die Verbindung beendete. Bedrückt starrte er weiterhin auf das Doors Int.-Symbol und hob erst den Blick als er das typische Geräusch eines in den Interdimensionsraums springenden Shuttles hörte. Dann schloss er das Global und ging langsam zurück zum Hotel.

 
* * *
 

Wie Sa'el es erwartet hatte, meldete sich Da'an schon wenige Minuten nach seiner Konfrontation mit dem Implantanten Sandoval. Äußerlich gelassen betrachtete er Da'ans Abbild auf dem Datenstrom.
„Ich erwarte, dass die beiden Menschen unverzüglich implantiert werden, Sa'el!”
„Willst du denn gar nicht wissen, ob wir erfolgreich waren?”
„Das ist unwichtig. Weder die menschliche Öffentlichkeit noch die Synode darf etwas erfahren. Also implantiere ein CVI und stoppe vorerst das Projekt.”
„Da'an, ich werde auf keinen Fall zulassen, dass die beiden geopfert werden! Verstehst du nicht, sie haben sich stabilisiert. Es besteht die Möglichkeit, dass sie sich anpassen können. Ihr Geist ist dabei, sich neu zu strukturieren. Da'an, ich kann spüren, wie sie...”
„Nein. Ich kann es mir nicht leisten, gleichzeitig der Synode von einem verheimlichten Experiment zu berichten und die Sympathien vieler Menschen zu verlieren.”
„Den Menschen sind Belle und Steve gleichgültig. Sie benützen sie nur für ihre eigenen Ziele. Ein Politiker, der Macht will, willst du sie dafür opfern? Was ist mit unseren Überzeugungen? Wie viel können wir dafür aufgeben, nur weil wir auf diesem Planeten eine andere Strategie verfolgen wollen?” Er merkte, wie er unwillkürlich in Eunoia verfallen war.
Da'ans harter Blick milderte sich und seine Stimme war sanft, als er auch er in dieser Sprache antwortete.
„Ich verstehe dich, Sa'el. Und es tut mir leid. Du kennst Ma'els Berichte und die Entscheidung der Synode war einstimmig. Wir werden diese Rasse nicht versklaven. Unsere persönlichen Meinungen hierüber sind bedeutungslos.”
„Ich wünschte, du wärst immer noch Synodenführer. Ich verstehe diesen Wandel nicht. Warum Quo'on? Warum ein Wissenschaftler, der niemals zuvor ein Diplomat war?”
„Es war der Wille des Gemeinwesens”, antwortete Da'an mit einer Banalität und gestikulierte seine eigene Hilflosigkeit.
Sa'el schloss für einen Moment die Augen.
„In Ordnung, Da'an. Ich werde die beiden mit einem CVI implantieren. Danach dürfte ihre Verbindung zum Gemeinwesen einseitig unterdrückt sein, so dass sie wieder funktionieren.”
„Danke, Sa'el. Und vergiss nicht, es ist nicht für immer. Und auch die Experimente werden wir zu geeigneter Zeit wieder aufnehmen.”

 
* * *
 

Der Datenstrom schloss sich automatisch, als Da'an die Verbindung abgebrochen hatte und eine Weile stand Sa'el einfach nur da. Schließlich drehte er sich um und ging in den Raum, in dem die beiden Zwillinge lagen. Sie sahen friedlich aus. Zwar waren sie noch betäubt, doch er hatte Hoffnungen gehabt... Es war zu lange her, dass er ein neues Mitglied des Gemeinwesens sich hatte entwickeln sehen. Er war es müde, nur mit reifen, entwickelten Wesen zu kommunizieren. Er war es müde, nur von Krieg und Überleben zu hören. Worauf wartete die Synode? Wann würde endlich eine neue Generation heranwachsen dürfen? Die Kriegerkaste verwies auf den Krieg und die Diplomaten auf die Mission Erde, die Wissenschaftler suchten nach anderen Lösungen und die Bürokraten bangten um die bestehenden Strukturen. Und die Künstler und Philosophen schwiegen wie immer. Warum verwendeten sie die Energie nicht auf das Wichtigste, das sie hatten? Warum dachten nur so wenige wie er? Selbst Da'an, in dem er die gleiche Sehnsucht spürte wie in sich selbst, gab dem Druck des Gemeinwesens nach. Er war nicht bereit das gleiche zu tun, nicht jetzt, wo er so nahe...
„Gibt es Probleme?”
Irritiert blickte Sa'el auf Stratton, der taktlos seine Gedanken störte.
„Ja, Da'an hat angeordnet, dass Experiment abzubrechen. Wir werden den beiden ein CVI implantieren.”
„Ich verstehe nicht... Was soll das bringen?”
„Ein CVI filtert bestimmte Wahrnehmungen heraus und strukturiert ihr Gehirn ähnlich wie das bei normalen Menschen der Fall ist. Ihr Körper ist dann zwar noch der eines Hybriden, doch ihr Geist ist es nicht.”
„Aha, dann habe ich vielleicht nicht ganz unrecht... Sa'el, ich habe nachgedacht.”
„Ja?”
„Wenn ich das richtig verstanden habe, so macht die Energie die Menschen, sobald sie sich richtig mit dem Körper verbunden hat, aggressiv. Vermutlich aufgrund einer Überlastung, weil die Wahrnehmung verändert ist.”
Sa'el hütete sich das zu kommentieren. Der Mann nahm es als Bestätigung.
„Gut. Dann hätten wir Menschen nehmen sollen, die sich besser kontrollieren können.”
„Richtig. Deswegen habe ich diese beiden ausgewählt. Sie kommen aus dem, was Menschen ‚stabile Verhältnisse’ nennen.”
„Ja, aber sie sind so jung, noch jünger als die anderen und völlig unerfahren damit, sich zusammenzunehmen.”
„Dr. Stratton, alle Menschen sind jung und neigen zu emotionaler Unkontrolliertheit! Der potentielle Unterschied dürfte unwesentlich sein.”
„Das denke ich nicht. Hören Sie, Sa'el, ich habe eine Idee...”

 
* * *
 

Langsam ließ Da'an die Hand sinken, mit der er den Datenstrom geschlossen hatte. Er hatte Sa'el veranlasst zu tun, was er für notwendig hielt. Wieder einmal war er gezwungen, die Verantwortung zu tragen für eine Entscheidung, die er nicht treffen wollte. Es war gefühllos, die Zwillinge zu verstoßen, selbst wenn es nicht für immer war. Er fühlte sich schuldig.
Die Entscheidung der Synode, der Menschheit gegenüber eine Strategie der Kollaboration zu verfolgen, hatte - wie von ihm befürchtet - tragische Konsequenzen. Dies war ein Grund gewesen, weshalb er für eine Beibehaltung ihrer bisherigen Taktik plädiert hatte. Ohne Erfolg. Seit Beginn der Debatte um ihre Strategie auf der Erde hatte er gewusst, dass er auf verlorenem Posten kämpfte, auch wenn mehr als die halbe Synode zu ihm gestanden hatte. Er war so lange Synodenführer gewesen, dass er spürte, wann sich die Zustimmung der Künstler und der Philosophen verschob, auch wenn diese wie gewöhnlich schwiegen. Und dies war immer ein sicherer Gradmesser für einen Wandel im Gemeinwesen. Die meisten glaubten, dass es Quo'ons brillanter Plan und Zo'ors rhetorisches Geschick gewesen waren, die das Gemeinwesen überzeugt hatten. Nein, es hatte sich im Stillen und ganz allmählich ein Richtungswechsel vollzogen, den er hilflos beobachtet und erfolglos bekämpft hatte. Seine Mitstreiter hielten ihn für schwach, dachten, er hätte im entscheidenden Moment, auf der entscheidenden Synodensitzung versagt, weil er nicht mehr argumentiert hatte. Doch die Entscheidung des Gemeinwesens hatte festgestanden, schon bevor er die Sitzung einberufen hatte.
Dass er auch jetzt noch Diplomat und kein Philosoph war, zeigte, wie tief seine Überzeugungen mit der des Gemeinwesens im Widerspruch standen, etwas, was ihn mehr schmerzte als er dachte, ertragen zu können. Es war nicht gut, so verletzlich mit einer fremden Spezies umzugehen. Er fühlte sich wie ein Blatt im Wind, unfähig, den Einflüssen etwas entgegenzusetzen.

Während er Sandovals Informationen über Stellas angeblichen Kontakt zu der Bostoner Terrorgruppe durchging, kam ihm ein Gespräch mit ihr in den Sinn. Stattgefunden hatte es zwei Tage nach dem Unglück von Silent Falls. Ein Unglück, dass kein Unglück sondern nur ein weiterer Beweis dafür war, dass die Menschheit nicht in der Lage war, mit gefährlichen Technologien verantwortungsvoll umzugehen.

„Ich fürchte,” hatte er nach einer Nachrichtensendung vorsichtig, um die Gefühle des Menschen nicht zu verletzten, gemeint, „ich fürchte, dass die menschlichen Behörden und Politiker die Lage nicht korrekt darstellen. Unsere Daten belegen leider schwerwiegende Schäden.”
Ein Lächeln spielte um Stellas Mund, dass nicht fröhlich war. „Das glaube ich sofort! Die Verantwortlichen werden immer nur soviel zugeben, wie sich nicht verheimlichen lässt. Das machen sie immer so.”
Er war wieder einmal überrascht gewesen, wie offen Stella ihm, einem Taelon, ihr Missfallen darüber zeigte. Sie schien ihm und seiner Spezies auch ganz ohne CVI mehr Sympathie und Loyalität entgegen zu bringen als ihren eigenen Führern.
Aufgrund Ma'els Berichten wussten sie, dass die Menschen Fremden sowohl Ablehnung wie auch Interesse entgegenbringen konnten. Sie hatten lange und ausgiebig alle Informationen analysiert, die diese Rasse über sich in den Weltraum sendete, um zu ergründen, wie sie auftreten mussten, um sie für sich einzunehmen. Wie er also Sympathie bei diesen Wesen ihm gegenüber hervorrufen konnte, war ihm bewusst. Von daher war er nicht erstaunt, dass Stella ihm positiv gegenüberstand. Doch die Bereitschaft, so schnell zu vertrauen und Loyalitäten aufzubauen, gegen die eigene Spezies, das war etwas, was sie nicht erwartet hatten und was lange Diskussionen in der Synode und darüber hinaus verursachte. Ein solches Verhalten war ihnen bei keiner der vielen anderen, meist viel friedliebenderen Rassen begegnet. Und dabei hatten sie sich nirgendwo so distanziert verhalten wie auf der Erde, wie gegenüber der Menschheit.
Stella war dabei kein Einzelfall. Auch andere Companions hatten Menschen ohne CVI in ihre Nähe gelassen und ähnliche Erfahrungen gemacht. Ganz zu schweigen von der Masse von Menschen, die sie fast oder tatsächlich wie Götter verehrten, auch wenn sie nie einem von ihnen direkt begegnet waren. Woran lag dies? Daran, dass die Menschen sich untereinander so oft wie die schlimmsten Feinde verhielten? Sich gegenseitig ausbeuteten und unterdrückten, der Einzelne so oft auf nichts als den eigenen persönlichen Vorteil bedacht war?
„Die Menschen legen in dieser Krise ein ineffektives Verhalten an den Tag, das wir mit Verwunderung beobachten,” antwortete er wahrheitsgemäß.
„Alle Beteiligten sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich Strategien zu überlegen, wie sie persönlich heil aus der Sache herauskommen und wen sie zum Sündenbock machen können, als das zu tun, was notwendig wäre, um zu retten, was noch zu retten ist.”
Stella begann vor seinem Stuhl auf und ab zu gehen und macht eine heftige, ihre Bemerkungen unterstreichende Handbewegung. Sie war aufgebracht, ärgerlich und dies ließ ihren Körper unnötige Bewegungen vollführen, um die Spannung abzubauen. Ein Phänomen, das ihr erstaunlicherweise nicht bewusst war, zumindest nicht in diesem Moment.
„Als eine kollektive Spezies ist uns dieses Vorgehen unverständlich. Die Handlungen eines jeden von uns ist stets primär darauf ausgerichtet, dem Gemeinwesen zu dienen. Persönliche Überlegungen sind demgegenüber bedeutungslos.”
Stella stoppte in ihrer Bewegung und sah ihn aufmerksam an.
„Kollektive Spezies? Wie meinen Sie das? Wir Menschen sind vor allem anderen soziale Wesen, doch das hält uns nicht davon ab, individuelle Ziele zu verfolgen.”
Da'an war über Stellas Interesse an seiner Spezies erfreut, doch er musste vorsichtig mit seiner Antwort sein. Die Synode hatte enge Grenzen gesetzt für das, was Menschen über sie erfahren durften.
„Ich habe beobachtet, dass auch Menschen durchaus fähig sind, altruistisch zu handeln. Doch für einen Menschen ist es eine Frage der Kultur und der persönlichen Überzeugung, wie stark er seine eigenen Bedürfnisse denen einer größeren Gruppe unterordnet. Für uns Taelons hingegen existiert kein Gegensatz, ja, nicht einmal ein Unterschied zwischen den eigenen Interessen und denen des Gemeinwesens. Es ist uns Taelons schlicht unmöglich, etwas anderes als das Gemeinwohl unserer gesamten Spezies an die erster Stelle unserer Interessen zu stellen.”
Stella sah ihn lange und nachdenklich an. Schließlich schüttelte sie langsam den Kopf.
„Das klingt fast so als würden Sie von etwas ähnlichem reden, wie einer genetischen Disposition.”
„Nein, es hat nichts mit Genen zu tun, aber der Vergleich ist vielleicht nicht ganz unzutreffend, zumal ich es Ihnen nicht besser erklären kann. Sie dürfen nicht vergessen, dass unsere Physiologie grundlegend anders ist als die Ihre.”
„Ja, aber wie? Und was hat das, wenn ich Sie recht verstanden habe, mit einem regelrechten Zwang zum Altruismus zu tun?”
„Für uns Taelons gibt es keinen Gegensatz zwischen Körper und Geist, zwischen Kultur und Biologie.”
„Tatsächlich?” Stella trat wieder ein paar Schritte auf ihn zu, ihre Augen leuchteten. „Ich bin der Ansicht, dass bei Menschen im Grunde alles kulturbedingt ist. Meinen Sie etwas ähnliches?”
„Nicht ganz, wir Taelons kennen das, was Sie mit Kultur benennen, nicht.”
„Ich fürchte, das verstehe ich nicht.” Stella sah ihn bedauernd und etwas enttäuscht an.
Er stand auf und trat mit einem Lächeln zu ihr herunter. „Und ich verstehe Sie nicht. Aber ich hoffe, dass wir dieses Verständnis mit der Zeit erlangen werden.”

Langsam ließ Da'an, nachdem er alle Informationen durchgesehen hatte, die Hand sinken. Diese Hoffnung lag nun in Scherben. Er hatte vermutet, dass Sandoval bezüglich Stellas Verrat und den Beweisen, die er dafür besaß, übertrieben hatte, denn es war ihm nicht verborgen geblieben, wie schlecht das Verhältnis zwischen den beiden Menschen war. Doch Sandovals Beweise waren stichhaltig. Stella Morel hatte ganz offensichtlich tatsächlich Kontakte zu einer taelonfeindlichen Gruppe, ja, sie schien eine der Initiatorinnen zu sein.
Sein Vertrauen in diesen Menschen war enttäuscht worden. In der Synode würde dieser augenscheinliche Beweis seiner mangelnden Urteilsfähigkeit den Menschen gegenüber zu einem weiteren Einflussverlust für ihn führen. Doch nicht nur aus diesem Grund zögerte er, die Synode sofort zu benachrichtigen. Die Situation war durch Sa'els Experiment prekär, er konnte keine Untersuchung zulassen, solange nicht alle Hinweise darauf vertuscht worden waren.
Besonders bedenklich war daher die Erwähnung von Sa'els Assistenten Frank Stratton im Zusammenhang mit dieser Organisation. War auch er an diesem Verrat beteiligt? Sandoval hatte dies als den bedenklichsten Punkt der ganzen Angelegenheit mit der Bemerkung versehen, dass der Wissenschaftler seither unter strenger Beobachtung stand. Doch dies beruhigte ihn nur wenig, denn es war leicht möglich, dass er Informationen über das Experiment bereits an andere Menschen weitergegeben hatte.
Trotz dieser Probleme wollte er zumindest einen Versuch unternehmen, Stellas Beweggründe zu verstehen. Umso mehr, als dass die Daten andeuteten, dass sie nichts von dem Anschlag in Boston gewusst hatte, ebenso wenig wie Margret Atwood und Samuel Rosenberg. Alle Gesprächsmitschnitte deuteten darauf hin, dass alle drei Personen nicht mit den Handlungen der Bostoner Terroristen einverstanden waren. Doch warum nicht? Hielten sie eine solche Aktion für verfrüht oder einfach in dieser Form für wirkungslos? Etwas an dieser Sache stimmte nicht. Zwei der drei Individuen waren, soweit es die Daten über sie anzeigten, keine Extremisten. Rosenberg und Atwood waren hochrangige Mitglieder der Wissenschaftlerkaste der Menschen. Beide galten dem menschlichen Geheimdienst als gemäßigt in ihren Ansichten. Im Gegenteil zu Stella Morel, deren politisch abweichende Meinung aktenkundig war, was von Anfang an Sandovals Misstrauen erweckt hatte.
Was war der Hintergrund? Alle offensichtlich oder scheinbar Beteiligten waren Wissenschaftler. Da'an fiel Stellas Antwort ein, als er zum Ende ihres Gesprächs, seine Hoffnung auf zunehmendes gegenseitiges Verständnis zum Ausdruck gebracht hatte: „Das hoffe ich auch!”, hatte sie emphatisch geäußert. „Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als Sie und Ihre Spezies zu verstehen!” War dies der Schlüssel? Der Wunsch nach Verständnis? Waren sie zum Gegenstand des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens einer Gruppe von menschlichen Wissenschaftlern geworden?
Wenn ja, warum dann der Anschlag? Es passte nicht zusammen. Vor allem nicht, wenn er eine weitere bedenkliche Information hinzunahm. Sandoval hatte in seinem Bericht seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass Stella Zugang zum Informationssystem der amerikanischen Gemeindienste hatte. Da'an wusste, wie es vermutlich hierzu gekommen war. Stella hatte Innenminister Bannen erpresst und dies vielleicht nicht nur, wie sie vorgegeben hatte, um ihm zu helfen. Oder besser, nicht nur, wie sie unter Druck zugegeben hatte, um Sandoval zu verärgern. Er war sich so sicher gewesen, dass er mit seiner Vermutung ihren wahren Beweggrund erraten hatte. Und nun schien es so, als hätte Stella geschickt eine Lüge hinter einer anderen versteckt. Sie hatte ihn getäuscht.
Waren die Menschen vielleicht in der Lage ihre wahren Absichten besser zu verbergen, als sie dies für möglich gehalten hatten. Wie sollten sie die Menschen verstehen lernen, wenn sie Chimären waren?
Aufgebracht stand Da'an auf und ging zum Fenster. Ma'el hatte sie gewarnt, zu kommen. Warum? Er hatte einen kompletten Wandel in seiner Meinung über ihr Vorgehen in Bezug auf die Menschheit vollzogen. Zunächst hatte er sie als ideale Ergänzung bezeichnet und später hatte er von Gefahr, Vernichtung und Ebenbürtigkeit gesprochen. Sie hatten diese Warnung respektiert, solange es möglich gewesen war.
Was hatten Ma'els Forschungen über die Menschheit ergeben? Hatte er Gefahr für die Taelons oder für die Menschheit vorausgesehen? Was hatte er mit Ebenbürtigkeit ihrer Rassen gemeint? Solange sie seine Forschungsprotokolle nicht hatten, war es unmöglich zu sagen, was der Grund für seine Warnung gewesen war. Worte waren vieldeutig und kaum interpretierbar, wenn der Sprecher es, wie in Ma'els Fall, nicht wollte. Das einzig Unmissverständliche war seine Warnung gewesen. Ma'el war auf diesem Planeten gestorben. Warum? Waren die Menschen gefährlich, wie die Kimera?
„Wir hätten nicht zur Erde kommen dürfen,” sagte Da'an seinem Verstand folgend zu seinem Spiegelbild vor der Skyline von Washington. „Ma'el hat uns nicht ohne Grund gewarnt!” Doch der Wunsch des Gemeinwesens die Zukunft auf der Erde zu suchen, war derart eindeutig, dass er selbst während er diese Sätze aussprach, fühlte, dass es das Richtige war.

 

Ende von Kapitel 5

 

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