Startseite Aktuelles Update Geschichten Kategorien Bilder Forum - Der Baum Links Hilfe Kontakt
  „Der gespiegelte Blick” von Emma   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Frühjahr 2002
Alle hier vorkommenden Personen gehören den jeweiligen Eigentümern. Mission Erde/Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Handlung:  Während Elaine und Stella versuchen mit ihrer jeweiligen Situation fertig zu werden, muss sich Sa'el mit seinen beiden Gefangenen auseinandersetzen.
Zeitpunkt:  einige Monate nach der Ankunft der Taelons auf der Erde, kurz nach dem Unfall bei Silent Falls
Charaktere:  Elaine Lorber, Sa'el, Frank Stratton, Stella Morel [Carol Rapp, Frederik Cockburn, eine Teth'a'dar]
 

 

DER GESPIEGELTE BLICK

Kapitel 2: Unliebsame Erinnerungen

 

Verärgert griff Elaine nach ihrer Kaffeetasse, um zum wiederholten Mal festzustellen, dass diese leer war.
„Soll ich dir neuen machen?”
Irritiert sah Elaine, deren Blick bereits wieder zurück auf den Bildschirm gewandert war, auf. Sie hatte Carol nicht kommen hören, doch nun stand sie neben ihr und sah fragend auf sie herunter.
Elaine schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich mach' es schon selbst...”
Immer noch etwas weggetreten stand sie auf und ging quer durch die Halle hinüber in die kleine Küche. Die Handgriffe konnte sie mittlerweile mit geschlossenen Augen. Kaffeefilter rauskippen, Filterpapier reinsetzen, Wasser nachfüllen, ja, sie musste noch nicht mal mehr die Löffel Kaffeepulver abzählen. Dass Carol ihr gefolgt war, merkte sie erst, als diese sie, lässig an den Türrahmen gelehnt, wieder ansprach.
„Nehme an, du bist noch nicht viel weiter?”
„Nein.”
Tatsächlich hatte Elaine nicht den Schimmer einer Ahnung, wie sie an Margret Attwood herankommen sollte, ohne dass das FBI es mitbekommen würde. Diese Frau lebte in der Öffentlichkeit und war von früh bis spät unterwegs. Da half es gar nichts, dass sie sich mit Hilfe von Doors herausragender Ausstattung bis in den Terminkalender der Frau Professorin hineingehackt hatte.
Dabei waren die Möglichkeiten, die sie dank Doors hatte, beinahe unbegrenzt. Ihm gehörten nicht nur eine ganze Reihe von Satelliten, sondern seine Firma hatte auch die überwiegende Mehrzahl der Programme hergestellt, die zumindest in diesem Teil der Welt die Rechner benutzbar machten. Kaum ein vernetzter Rechner blieb, dank gut versteckter Programmteile, unerreichbar für sie. Nicht einmal die der Geheimdienste, die, wie sie aus dieser neuen Perspektive feststellen konnte, nicht gerade das Nonplusultra in Sachen Geheimhaltung waren. Sicher gab es streng abgeschirmte Bereiche und die wirklich brisanten Daten waren unerreichbar verschlüsselt, doch das Gros der Aktivitäten war für sie ermittelbar. So wusste sie, dass es das FBI war, das seine Argusaugen auf Attwood gerichtet hatte, und welcher der Agenten den Job wann ausführte.
Doch das half ihr nicht, an Attwood und damit an die Daten, die ihre Organisation von Wissenschaftlern erhoben hatte, heranzukommen. Und auf ihren Computern war nichts zu finden, was dafür sprach, dass sie zumindest die einfachsten Regeln der Geheimhaltung befolgt und Daten lediglich per Disks ausgetauscht hatte. So gesehen war es schade, dass sie selbst Stella diese Dinge eingeschärft hatte...
„Und...?” Carols ungeduldige Stimme holte sie abermals aus ihren Gedanken.
„Was und?”
„Na, was tun wir jetzt? Willst du noch ein paar Tage vor dem Computer hängen und darüber brühten oder tun wir endlich was?”
„Was tun?”, Elaine konnte nicht vermeiden, dass ihre Stimme sarkastisch klang. „Was schlägst du denn vor? Wir kommen nicht an Attwood heran, wir können sie noch nicht mal beschatten, um herauszufinden, mit wem sie sich trifft und worüber sie sich mit denen unterhält.”
„Aber mit wem sie sich trifft, wissen wir doch auch so. Warum klappern wir die nicht einfach der Reihe nach ab?”
Elaine fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Debatte führten. „Carol, Attwood führt ein internationales Institut. Sie hat Kontakte zu unzähligen Wissenschaftlern. Wir können nicht alle abklappern, das ist zu auffällig!”
„Aber es wäre besser als nichts zu tun!”
„Nein, wäre es nicht!”
„Doors erwartet Resultate!”
Elaine schenkte Carol einen vielsagenden Blick. Die Gute tat den lieben langen Tag nichts, als über Doors zu schimpfen, und nun versuchte sie seine Wünsche als Untermauerung ihrer Meinung zu verwenden. Doch Elaine beschloss, dieses Fass nicht auch noch aufzumachen.
„Auch Doors erhält nicht immer, was er erwartet”, meinte sie nur lapidar, griff sich die Thermoskanne mit dem durchgelaufenen Kaffee und schnippte den Schalter der Maschine aus. Ohne Carol weiter zu beachten, quetschte sie sich an ihr vorbei und kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück.
„Also, stehen doch noch mal ein paar Tage rumsitzen auf dem Programm?”, rief ihr Carol hinterher. „Kein Problem, mach du nur! Aber ich hab die Schnauze voll. Ich kann schon nicht mehr gerade gucken, von all der Computerschrift!”
„Dann druck die Sachen endlich aus!”
„Papierverschwendung. Dass dafür Kanadische Urwälder abgeholzt werden, hast du wohl noch nicht mitbekommen!”
Elaine holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen. Geduld, sie durfte sich nicht aufregen. Was nicht so einfach war. Mittlerweile musste sich in ihrem Blut mehr Koffein als Blutkörperchen befinden! „Taelon-Gegnerin oder Umwelt-Aktivistin, du solltest dich entscheiden.” Sie konnte es nicht lassen. Dabei war die Stimmung schon gereizt genug.
Doch Carol blieb ruhig. Statt zurückzublaffen, kam sie herüber und lehnte sich an Elaines Tisch.
„Hör mal zu, Elaine”, leitete sich ein, was eine längere Erklärung zu werden drohte. Elaine schwante nichts Gutes bei dem freundlichen, ruhigen Ton. Skeptisch runzelte sie die Stirn und wartete ab, was kommen würde. „Ich weiß ja, dass du unter Strom stehst. Deine Situation ist mies. Meine eigentlich auch, aber deine ist noch mieser und deswegen will ich dir nicht noch mehr Stress machen. Aber ich finde jetzt echt, dass es mit der Informationssuche reicht. Ich hab' jetzt so viel über Taelon-Gegner und Skeptiker herausgefunden, dass ich jetzt so langsam auch mal zur Tat schreiten kann. Heute Abend trifft sich eine Gruppe und ich beabsichtige, da hin zu gehen!”
„Auf keinen Fall!”, entfuhr es Elaine, bevor sie feststellte, dass dieser Ton nicht angemessen war. „Tut mir leid, aber das ist wirklich keine gute Idee. Entweder es ist gefährlich oder aber nutzlos, je nachdem, ob die durchgeknallt oder harmlos sind. Was soll das also bringen?”
„Erstens komm' ich mal hier raus, bevor ich noch den Hüttenkoller krieg. Und zweitens sind die vermutlich weder das eine noch das andere. Ich kenne einen von denen flüchtig aus meiner New Yorker Zeit. Ich hab' mal eine Nacht lang mit ihm durchdiskutiert und weiß daher, dass er den Taelons ziemlich kritisch gegenüber steht. Damals fand ich das übertrieben, aber mittlerweile... Naja, jedenfalls bin ich deswegen auf die Idee gekommen, mir seine Mails mal genauer anzuschauen, und ich glaube, ich bin da einer halbwegs vernünftigen Gruppe auf die Spur gekommen.”
„Glaubst du?” Elaine versuchte nicht ihre Skepsis zu verbergen, aber sie war doch aufmerksam geworden. Carol schien es zu bemerken, denn sie ging zu ihrem Arbeitsplatz und kam mit einem dickeren Stapel Papier zurück.
„Hier, schau dir das mal an. Die Mails waren übrigens fürs Hin- und Herschicken verschlüsselt. Ganz naiv sind sie also nicht. Nur auf die Idee, sie auch auf dem Rechner verschlüsselt aufzubewahren, sind sie nicht gekommen.”
„Na, dann hast du ja schon was, was du ihnen sagen kannst...”, murmelte Elaine, während sie die Ausdrucke überflog. Tatsächlich, das sah vielversprechend aus. Und im Grunde hatte Carol ja recht, sie mussten endlich anfangen. Doors wurde zunehmend ungeduldig, Carol gelangweilt und sie selbst... Ja, ihr selbst gingen die Möglichkeiten der Ablenkung aus. Immer öfter wanderten ihre Gedanken wieder zu Stella und Frank und zu ihrer eigenen unglücklichen Lage. Und sie kam sich immer alberner dabei vor, die große Verschwörung gegen die Außerirdischen auszuhecken. Sie wollte ein halbwegs normales Leben führen und nicht Konspiration zum Zwecke der Welterrettung spielen. Dafür war sie zu alt! Aber sie hatte nicht den Luxus einer Wahl und so war es ihr unangenehm, dass der Aktivismus abzuebben drohte, in dem sie die letzten Tage gemeinsam mit Carol die Möglichkeiten der technischen Anlagen ausgetestet und nach nützlichen Informationen gesucht hatte.
„Also gut. Überzeugt! Geh dahin und versuch' herauszufinden, ob wir mit denen was anfangen können.”
„Na prima, ich wusste doch, dass du Vernunft annehmen würdest.” Carol sprang auf und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer.
„Was soll jetzt das heißen?”, rief Elaine ihr empört und etwas gekränkt hinterher.
Doch sie erhielt keine Antwort und so wendete sie sich wieder den Papieren zu. Fahrig blätterte sie darin herum und ihre Augen lasen den Text, ohne dass ihr Gehirn den Inhalt registrierte. Sie merkte es erst, als Carol wieder - mit einer Jacke und einem kleinen Rucksack ausgestattet - neben ihr stand.
„Ich geh' dann jetzt. Ich hab' zwar noch ein bisschen Zeit, aber ich werd' mal sehen, dass ich uns was Frisches zum Essen besorge.” Die junge Frau wollte sich schon zum Gehen wenden, doch dann zögerte sie und musterte sie mit kritischem Blick. „Nichts für ungut, Elaine, aber du solltest wirklich mal richtig schlafen. Und mit dem Kaffeetrinken aufhören. Man braucht kein abgeschlossenes Psychologie-Studium, um zu sehen, dass du so langsam an den Rand eines Zusammenbruchs kommst, aber meine paar Semester reichen nicht aus, um dich danach wieder aufzupäppeln.”

Elaine war so perplex, dass sie sprachlos zusah, wie Carol ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mit einem Kopfschütteln senkte sie den Blick und starrte in ihre Kaffeetasse. Ein Teil von ihr wollte sich aufregen, dass dieses Gör es wagte, so unverschämt mit ihr zu reden! Doch sie fühlte sich zu matt und wusste zu gut, dass Carol recht hatte.
Sie drehte die Tasse und sah zu wie die schwarze Flüssigkeit darin umherschwappte.
Vielleicht sollte sie anfangen, das, was sie hier tat, ernst zu nehmen und sich darauf einzulassen, anstatt es nur als willkommene Ablenkung von ihren Problemen zu betrachten?
Der Kaffee schillerte und reflektierte das schwache Licht, wenn sie die Tasse im richtigen Winkel hielt.
Sie musste in Ruhe über all das nachdenken. Doch dazu musste sie erst mal schlafen und daran war mit all dem Koffein intus nicht zu denken.
Missmutig stellte sie die Tasse auf den Tisch. Der leichte Knall, den das verursachte, hallte durch die Halle. Erschrocken sah sie sich um. Der vollgestellte und doch leere Raum mit der hohen Decke, dem künstlichen Licht und dem Rauschen der Lüftungsanlage verbreitete eine unfreundliche Atmosphäre.
Unwillkürlich stand Elaine auf, den Schauer, der über ihren Rücken lief, ignorierend. Sie hatte sich Jogging-Klamotten besorgen lassen und die würde sie nun ausprobieren. Auch sie musste mal raus aus diesem Loch!

 
* * *
 

Zufrieden schloss Sa'el den Datenstrom. Stella ging es gut. Er hatte nun alles mehrmals überprüft und auch wenn er in Betracht zog, dass der Adaptionsprozess noch nicht vollständig abgeschlossen war, gab es nichts, was darauf hin deutete, dass sie in irgendeiner Weise gefährdet war.
Insgesamt war damit - trotz der anfänglichen Schwierigkeiten - alles sehr unproblematisch abgelaufen, und da mittlerweile auch wirklich alle Daten so bereinigt waren, dass niemand Verdacht schöpfen konnte, dass es sich bei der Hybridisierung nicht um einen Unfall gehandelt hatte, sah er der Ankunft von Ne'eg und Ro'ha nun gelassen entgegen. - Gelassen, aber nicht erfreut! Glücklicherweise hatte er noch einige Tage Zeit, bis sie im Sonnensystem eintreffen würden.
Zo'or würde sich sicher nicht so lange Zeit lassen!
Die Nachricht, dass er zur Erde kommen würde, hatte hier - vorsichtig ausgedrückt - niemanden mit Begeisterung erfüllt. Sobald auch nur der Name fiel, wurde ein vielsagender Blick getauscht und ansonsten lieber geschwiegen. Sa'el hätte sich ja gerne gesagt, dass Zo'or Da'ans Problem war, doch es war unrealistisch, dass Zo'or wirklich den Umweg über Da'an machen würde, um ihn zu behelligen. Tatsächlich war Zo'or jedermanns Problem und vermutlich war noch nicht einmal Quo'on wirklich glücklich über sein Kommen. Nun, immerhin würde es hier in nächste Zeit niemandem langweilig werden...

Die ruhige Energie der Teth'a'dar veränderte sich leicht und nahm vorsichtig Kontakt mit ihm auf. Offensichtlich war sie der Ansicht, es ginge ihm mittlerweile wieder gut genug, um sich mit etwas Unangenehmem beschäftigen zu können. Sie formulierte keine Frage und das war auch gar nicht nötig. Er wusste, was sie wollte
Ergeben verließ er seinen Platz am Datenstrom und machte sich auf den Weg. Was sollte er auch anderes tun, als ihr den Gefallen zu erfüllen? Seit der Verschmelzung hatte sie so fürsorglich auf ihn geachtet, wie es schon sehr lange keine Teth'a'dar mehr getan hatte. Er hatte es weidlich genossen und sich verwundert gefragt, warum ihn zuvor die beständig von ihr ausgehenden, zu Ruhe mäßigenden Impulse gestört hatten. Wenn er zurückblickte, so war ihm klar, wie gerechtfertigt diese gewesen waren. Er war völlig aus dem Gleichgewicht geraten, ein Zustand, der sich zunehmend zugespitzt hatte. Da'an hatte kein bisschen zu früh eingegriffen.
Nun da die Veränderung eingetreten war, war seine Furcht vor ihr verflogen. Nun konnte er klarer sehen. Er wusste, wie er die Probleme anzugehen hatte und welchen Weg er gehen würde. Dabei war ihm wohl bewusst, dass ihn dieser Weg in eine Richtung führte, die er nicht hatte einschlagen wollen, die ihm beängstigend und unangenehm erschienen war. Nun, angenehm war sie ihm immer noch nicht, doch zumindest versprach sie interessanter zu werden als eine rein wissenschaftliche Arbeit, weit ab von allem Geschehen und nur im Kontakt mit anderen Wissenschaftlern. Die Verwicklungen, in die er geraten war, betrachtete er jetzt sogar mit einer gewissen Spannung, die ihn dazu brachte, sogar Zo'ors Kommen etwas abzugewinnen.

Angekommen am Bereich, auf den die beiden Menschen beschränkt waren, hielt Sa'el inne und bat die Teth'a'dar noch einmal um aktuelle Informationen.
Beide Menschen hatten viele Stunden geschlafen. Auch Frederic Cockburn. Endlich! Die Erleichterung, die die Teth'a'dar darüber empfand, war deutlich spürbar, trotz der Tatsache, dass es nur der Hilfe eines Medikaments zu verdanken war. Die Entscheidung, die Medikamente nicht aus der Liste der Sachen, die Stratton erhalten sollte, zu streichen, war also trotz des Risikos nicht falsch gewesen.
Nach einem kurzen Moment der Konzentration hatte er die mittlerweile schon zur Gewohnheit gewordene menschliche Maske aufgebaut. Mit einer Geste wies Sa'el die Teth'a'dar an, den Eingang zu öffnen, und trat dann in den Gang, der zum Labor führte. Von dort aus hörte er Stimmen. Die beiden Menschen unterhielten sich.

„Dann hat es die Experimente also tatsächlich gegeben.” Cockburns Stimme. Sie klang halb resigniert, halb fassungslos.
„Ja, was haben Sie denn gedacht?”, antwortete Stratton in dem schroffen, abweisenden Ton, der so typisch für ihn war. „Dachten Sie, Sie verhindern das, indem Sie ein Labor in die Luft sprengen?”
„Aber ohne die Daten... Sa'el hat nie eine Aufzeichnung mitgenommen. Wir dachten, wir hätten alles vernichtet...”

Sa'el hatte das Ende des Ganges erreicht. Als er um die Ecke bog, sah er, dass die beiden Menschen sich in der Sitzgruppe niedergelassen hatten. Cockburn hatte den Kopf in die Hände gestützt, während Stratton mit dem Rücken zu ihm saß. Sie bemerkten ihn nicht. Und auch er hatte Mühe, sie zu erkennen. Sie waren nur zwei blasse Schatten in dieser lebendigen, energiereichen Umgebung, die das Innere einer Teth'a'dar kennzeichnete und so angenehm machte. Schemenhaft und undeutlich wirkten sie, so dass Sa'el fast geneigt war, sie für irreal zu halten, hätte er nicht gewusst, dass sie ein sehr reales Problem für ihn darstellten.

Stratton machte eine aufgebrachte Geste. „Dann zahlen Sie jetzt den Preis für Ihre Naivität! - Und ich mit Ihnen!”
„Wie viele?”
„Bitte?”
„Wie viele Menschen sind den Experimenten zum Opfer gefallen?”
Stratton machte eine unwillige Geste. „Fünft oder sechs. Ich weiß es nicht genau.”
„Fünf oder sechs...” wiederholte Cockburn leise und entsetzt. „Was waren das für Menschen? Und was ist mit ihnen geschehen? Sind sie alle tot?”
„Ich weiß es nicht genau! Zum Teil sind sie tot und zum Teil weiß ich es nicht. Das hab' ich doch schon gesagt!” Stratton sprang ungehalten auf. „Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe damit!” Aufgebracht machte er sich daran, den Raum zu verlassen.

Ohne einen Laut zu verursachen, trat Sa'el etwas weiter in den Raum.
„Dr. Stratton, wollen Sie Ihrem Artgenossen nichts von Ihrer Beteiligung an den Experimenten berichten?”
Der Mensch zuckte zusammen und fuhr herum, seine Mimik verriet höchste Unsicherheit. Auch Cockburn starrte erst ihn überrascht an, bevor sein Blick verwirrt zu seinem Kollegen wanderte.
Sa'el nützte die Zeit, um näher zu treten. In aller Ruhe setzte er sich an den Platz, den Stratton kurz zuvor verlassen hatte.
„Ja, Dr. Cockburn, Dr. Stratton hat mir bei den von Ihnen so sehr bekämpften Experimenten assistiert.”
„Ist das wahr?” Fassungslos wandte sich der Angesprochene an den immer noch mitten im Raum stehenden Mann.
„Nein!... Ja...”, begann dieser mit einer fahrigen Geste. „Ich hatte keine andere Wahl. Zunächst wusste ich ja überhaupt nicht, worum es ging und er” - mit ausgestrecktem Arm und wütendem Blick deutete er auf Sa'el - „er hat mir gesagt, es würde diesen Menschen nichts geschehen! Was hätte ich denn tun sollen? Als ich dann erkannte, worum es tatsächlich ging, war es zu spät und ich war gezwungen mitzuspielen. Sie wissen ja mittlerweile selbst, zu was die Taelons fähig sind!”
Cockburns verwirrter Blick wanderte zurück zu Sa'el. Dieser fing ihn auf und erwiderte ihn ruhig. Sein erster Impuls war, Strattons Rede zu kommentieren, doch etwas hielt ihn zurück. Es war besser, Cockburn seine eigenen Schlüsse ziehen zu lassen.
Doch Stratton unterbrach die Stille, kaum dass sie eingetreten war.
„Cockburn! - Frederic, Sie müssen mir glauben!” Wie um seinen Worten noch mehr Eindringlichkeit zu geben, trat er näher an sie heran. Alles, was er erreichte, war jedoch, dass Cockburn den Blickkontakt mit Sa'el unterbrach und nachdenklich auf seine Hände sah. Sa'el beschloss, ihn seinen Gedanken zu überlassen, und nahm dafür den anderen Mann in den Blick.
„Dr. Stratton, wollen Sie nicht wissen, wie es Stella geht?”
Er erntete Schweigen.
„Wollen Sie nicht wissen, ob sie noch lebt?”
Mit zusammengekniffenem Mund starrte Stratton zurück, so als fürchtete er gegen seinen Willen zu antworten.”
„Und was ist mit Elaine Lorber und Carol Rapp? Wollen Sie auch nicht wissen, was mit diesen beiden Menschen geschehen ist?”
In Strattons Blick flackerte Interesse durch die Barriere aus Abwehr, die der Mensch gegen ihn aufgebaut hatte. Doch schließlich siegte wieder seine Wut. Er beugte sich drohend über den noch leeren Stuhl und sah ihn noch eindringlicher an.
„Hören Sie zu, Sa'el! Das Einzige, was ich wissen will, ist, wann Sie mich endlich frei lassen!”
Obwohl er am liebsten die Flucht ergriffen hätte, gelang es Sa'el ruhig zu bleiben. Dieses Wesen war ihm mit seiner Aggressivität ein Gräuel! Er war selbst überrascht, dass es ihm gelang, sich das nicht anmerken zu lassen.
„Sie werden sich den Gegebenheiten anpassen müssen, Dr. Stratton”, antwortete er ruhig. „Warum setzen Sie sich nicht zu uns, damit wir darüber reden können?”
„Auf keinen Fall!” Wie um das zu demonstrieren, wich der Mensch einige Schritte zurück, fand dort jedoch sofort wieder in seine Angriffshaltung zurück. „Ich erwarte, dass Sie mich umgehend freilassen! Ich habe Rechte!”
„Dr. Stratton, Sie verstehen anscheinend Ihre Situation nicht. Sie haben sich auf eine Kooperation mit uns eingelassen und nun behandeln wir Sie entsprechend. Ja, Sie haben Rechte, doch diese Rechte sind nun nicht mehr die, die Ihre Gesellschaft Ihnen gewährt, sondern die, die unsere Ihnen zugesteht.”
„Das ist Willkür!” Der Mensch kam wieder näher, um mit dem Zeigefinger auf die Rückenlehne des vor ihm stehenden Stuhles pochen zu können. „Ich bin Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika und ich erwarte entsprechend behandelt zu werden!”
Sa'el lächelte freundlich. „Was Sie erwarten, ist leider irrelevant. Ihre persönliche Geschichte, Ihr Schicksal hat Sie in diese Lage gebracht und nun müssen Sie sich darin zurechtfinden. Die Frage, die an Sie gestellt wird, ist nicht, was Sie sich wünschen, sondern ob Sie sich anpassen können. Als Wissenschaftler sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass die Grundbedingung der Existenz von Lebewesen, kollektiv wie individuell, ihre Anpassung an die Umwelt ist.”
„Und Nichtanpassung führt zur Vernichtung...”, warf Cockburn bitter ein.
Sa'el wandte sich ihm zu. „Ja, das ist richtig”, bestätigte er.
„Aber wir Menschen haben aus diesem Grund Gesetze entwickelt. Und wir haben so etwas wie Menschlichkeit.” Cockburn hob den Blick und sah ihn an. Zum ersten Mal seit dem Attentat auf das Labor hatte Sa'el das Gefühl, von dem Menschen wirklich wahrgenommen zu werden. „Wir versuchen diesem natürlichen Prinzip etwas entgegenzusetzen, es abzumildern und die Schwachen vor seinen Auswirkungen zu schützen. Wir versuchen zu verhindern, dass die Mächtigen die Schwachen ausbeuten. Es ist erbärmlich, dass die Taelon, die sich selbst so fortschrittlich nennen, nicht ebenfalls so handeln!”
Ruhig erwiderte Sa'el den Blick und wusste dabei, dass die Ruhe und die Geduld, die er empfand, ihn vor kurzem noch nicht ausgezeichnet hatten. Jetzt war er nicht ärgerlich über die Kurzsichtigkeit des Menschen, sondern suchte nach einem Weg, sich verständlich zu machen.
„Sie sollten erkennen, dass es von außen betrachtet gar nicht so aussieht, als würden die Schwachen in Ihrer Gesellschaft geschützt. Es scheint vielmehr so, als hätten diese Gesetze und die Art, wie sie Anwendung finden, die Aufgabe, Ihre Gesellschaft als Ganzes zu schützen. Die Schwachen werden in dem Maße geschützt und ausgebeutet, dass sich die Gesellschaft erhält. Nichts anderes jedoch machen wir auch. Auch wir haben Spielregeln, nur sind sie anders, weil wir anders sind.”
„Und Ihre Spielregeln rechtfertigen den Mord und die Missachtung der Lebensrechte von Unschuldigen?”
„Verstehen Sie nicht, dass es das Recht auf Unversehrtheit des Individuums, das Sie so hoch schätzen, für uns nicht gibt?”
„Aber ohne das geht es nicht. Das ist doch grundlegend! Es ist universal!”, beharrte Cockburn mit Nachdruck.
„Es gibt in diesem Universum kein Recht auf irgend etwas. Leben ist Veränderung. Recht ist nur eine Übereinkunft, die das Leben selbst nicht interessiert! Dementsprechend ist für uns das Wichtigste das Gemeinwesen und der Einzelne muss sich dafür verändern. Glauben Sie mir, auch ich muss mich dafür verändern und auch mir fällt das nicht leicht. Das Gewohnte, Bekannte erscheint so sicher, so vertraut. Veränderung ist immer mit Unsicherheit und oft mit Schmerzen verbunden, weil wir nicht wissen, was geschehen wird, weil sie uns verletzlich macht. Wir verlieren Stabilität und sind schutzlos den Einflüssen ausgeliefert. Veränderung birgt immer die Gefahr, dass wir zugrunde gehen, aber es birgt auch die Chance, dass wir zu etwas Neuem werden, das den Erfordernissen besser entspricht. Festes Material hält auch unter Druck seine Form, doch wird der Druck zu groß, zerbricht es. Flexibles Material verbiegt sich, gibt nach, aber es besteht weiter.”
Cockburn sah ihn eine Weile an, den Blick voller Ironie, und klatschte dann in die Hände.
„Bravo! Schön gesprochen! Sie sind der geborene Demagoge!”
Sa'el vollführte eine Geste der Resignation. „Nein, nicht der geborene!” Aber er war wohl auf dem besten Weg dorthin.
„Lassen wir doch endlich das unsinnige Gequatsche!” Strattons harsche Stimme schnitt in die eingetretene Stille. „Was haben Sie denn nun eigentlich mit uns vor? Sie werden uns nicht freilassen, aber was wollen Sie dann?”
„Das habe ich Ihnen doch bereits bei unserem letzten Zusammentreffen gesagt: Wir müssen unseren Konflikt beilegen, damit wir wieder unserer Wege gehen können.”
„Na gut, wenn es weiter nichts ist!” Stratton zog den Stuhl nach hinten und ließ sich darauf nieder. „Verzeihen wir einander und alles ist wieder wunderbar!”
Nun war es an Sa'el, fassungslos dreinzuschauen. „Ist Ihnen denn wirklich nicht klar, dass man, bevor man einen Konflikt lösen kann, zu einer Übereinstimmung der Sichtweisen kommen muss?”
„Bitte?” Unwillig und verächtlich schüttelte Stratton den Kopf. „Was soll jetzt das schon wieder?”
„Oh, ich verstehe schon!” Cockburn mischte sich ein und auch er klang höhnisch. „Es geht darum, dass wir seine Sichtweise übernehmen! Wir sollen uns ihr nicht nur beugen, sondern sie übernehmen! Ganz wie in Orwells ‚1984’. Wo zwei Finger sind, sollen wir nicht nur drei sagen, sondern auch drei Finger sehen!”
Sa'el nickte erleichtert. Sie kamen der Sache zumindest näher. „Ja, in gewissem Sinne haben Sie es erfasst. Nur sind in Wirklichkeit überhaupt keine Finger da! Und Sie sollen auch nicht unbedingt meine Sichtweise übernehmen, sondern wir müssen uns auf eine gemeinsame einigen oder aber die jeweils andere als gleichwertig anerkennen.”
Cockburn schwieg nachdenklich, doch Stratton ließ ein verächtliches Lachen ertönen.
„Dann wollen Sie mit uns einen Gesprächskreis veranstalten? Vergessen Sie's! Ich mache mich doch nicht für Sie zum Affen!” Stratton lehnte sich vor und nahm ihn fest in den Blick. Mit dem Zeigefinger pochte er vor ihm auf den Tisch. „Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sa'el! Egal, was Sie uns hier auch für einen wohlformulierten Mist erzählt haben: Bleiben wir doch mal bei den Fakten. Sie haben uns gekidnappt und halten uns hier fest, gegen unseren Willen und gegen jede Rechtsprechung, die ihr Taelons im übrigen anerkannt habt. Anscheinend wollen Sie uns einer Gehirnwäsche unterziehen. Wozu auch immer. Aber ich sage Ihnen, das funktioniert nicht so einfach. Darauf fall' ich nämlich nicht rein. Ebenso wenig wie auf die Sache mit dem CVI. Ich sage Ihnen, da ist gar nichts passiert, außer den Schmerzen. Denn wenn es so etwas wie das CVI in meinem Kopf gäbe, dann könnten Sie mich doch einfach umprogrammieren. - Nein, Sie wollen etwas von uns und ich will wissen, was das ist. Dass Sie hier rum sitzen und über Philosophie plaudern wollen, können Sie Stella Morel erzählen. Die glaubt Ihnen!”
Sa'el sah ihn verständnislos an. Was wollte Stratton von ihm? Warum glaubte er ihm nicht? Cockburn schien ihm seine Verwirrung anzumerken. Er beugte sich über den Tisch und suchte seinen Blick.
„Sa'el, Ihnen ist schon klar, wie absurd uns das Ganze erscheinen muss?”
Bedauernd erwiderte er den Blick des Menschen. „Nein, ehrlich gesagt ist es das nicht.”
„Na, fein!” Stratton fuhr ungeduldig dazwischen. „Stellen Sie sich ruhig dumm, wenn Sie meinen, das führt Sie ans Ziel. Doch was jetzt? Wollen Sie so lange auf uns einquatschen, bis Sie uns in dem gewünschten Zustand haben?”
Resignation breitete sich in Sa'el aus und er merkte, wie er für einen Moment die Kontrolle über seine Maske verlor. Er würde sich mit diesen Wesen nie verständigen können! Das Einzige, was ihn vor ihnen retten würde, war die begrenzte Lebensspanne ihrer Art! Doch bevor er sich hineinsteigerte, besann er sich. Das einzige Mal, als er ansatzweise Zugang zu Stratton erhalten hatte, war während der Arbeit mit den Hybriden gewesen...
„Nein, das wäre wohl nicht sehr effektiv und zudem eine Verschwendung von Ressourcen. Sie sind Wissenschaftler und werden mir bei der Arbeit an dem neuen Forschungsprojekt, dem ich zugeteilt wurde, helfen!”
„Nein, das werden wir nicht tun!” Cockburn sagte dies. Ruhig, aber bestimmt. Überrascht wandte sich Sa'el zu ihm um, während Stratton scharf die Luft einzog.
„Ich werde Ihnen bei keinen Forschungen helfen. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren!” Entschlossen sah Cockburn ihn an, doch Sa'el meinte, auch Furcht in seinen Augen erkennen zu können.
Zögernd sah er den Menschen an. Seine Idee war anscheinend doch nicht so gut gewesen. Eine weitere Fehleinschätzung seinerseits, eine unter vielen. Doch er sah keinen Sinn darin, Cockburn zu etwas zu zwingen.
„Gut, wie Sie wollen.”
„Wie?” Entschlossenheit und Furcht machten in Cockburns Blick Erstaunen Platz. „Ich dachte, Sie achten die Entscheidungen von einzelnen nicht.”
War denn nichts von dem, was er gesagt hatte, bei dem Menschen angekommen?
„Natürlich achte ich sie. Ich stelle sie bloß nicht über das Wohl des Gemeinwesens!”
„Das heißt also, ich muss Ihnen nicht helfen und bin statt dessen weiter zum Nichtstun verdammt.”
Etwas ungeduldig vollführte Sa'el eine abwehrende Geste. „Nein, das heißt nur, dass Sie sich Ihre Beschäftigung selbst suchen müssen!”
„Wie? Hier? Hier ist ja nicht mal ein Buch oder ein Fernseher!”
„Ich werde dafür sorgen, dass Sie beides erhalten. Und Sie können auch Ihre Forschungen weiterführen, wenn Sie es wünschen.”
Verblüfft schüttelte Cockburn den Kopf. „Ich kann nicht behaupten, dass das alles für mich einen Sinn macht. Erst planen Sie tödliche Experimente an Menschen, lassen mich verhaften, verhören und in Isolationshaft festhalten, pflanzen mir etwas ins Hirn, ermorden meinen Freund und Kollegen und dann sind Sie mit einem Mal nichts als freundlich. Was soll das alles?”
„Sie würden es verstehen, wenn Sie meine Sichtweise teilen würden”, antwortete Sa'el freundlich, wenn auch insgeheim mit einem gewissen Sarkasmus.
„Sinn oder nicht Sinn”, fuhr Stratton dazwischen. „Ich werde auf keinen Fall nutzlos hier rumsitzen! Wenn Sie meine Hilfe brauchen können, dann werde ich auch mit Ihnen arbeiten!”
Cockburn starrte ihn entsetzt an. „Stratton! Sie können...”
„...und zwar egal, was Mr. Moralapostel dazu meint!”
Während Cockburn nur fassungslos den Kopf schüttelte, war Sa'el positiv überrascht. Dass die Menschen sich in dieser Frage unterschiedlich entscheiden würden, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Umso erfreulicher war es.
„Wie Sie meinen, Dr. Stratton. Ich bin Ihnen für Ihre Kooperationsbereitschaft dankbar und nehme sie gerne an. Doch den Disput mit Ihrem Kollegen fechten Sie besser ohne mich aus.” Erleichtert, einen Grund zum Gehen gefunden zu haben, stand Sa'el auf. Er hoffte, dass die Schadenfreude, die er empfand, nicht allzu deutlich in seinem Blick lag. „So wie es aussieht, haben Sie auch untereinander einen Konflikt, den es beizulegen gilt. Dabei will ich Sie auf keinen Fall stören.”

 
* * *
 

Kaum hatte Sa'el den Raum verlassen, kam der unvermeidliche Ausbruch Cockburns.
„Haben Sie denn überhaupt keine Skrupel...”
„Hören Sie auf sich so aufzuplustern!” Frank hatte nicht vor, sich die ganze Litanei anzuhören. „Wenn Sie hier rumsitzen wollen, bitte. Ich werde meine Zeit nicht nutzlos verplempern! Wir müssen herausfinden, was die Taelons vorhaben und wie wir von hier fliehen können. Beides ist unmöglich, wenn wir hier festsitzen!”
Cockburn musterte ihn mit kühlem Blick.
„Sie haben auf alles eine Rechtfertigung, nicht? Sie tun, was Ihnen gerade passt, und erfinden eine Entschuldigung dafür. Wie erklären Sie denn Ihre Mithilfe am Mord von sieben Menschen?”
„Ihnen muss ich überhaupt nichts erklären!” Frank fiel es schwer, sein Unbehagen zu verbergen. Er wollte nicht darüber nachdenken...
„Und ich dachte, Sa'el wäre das Monster!”
Vor Wut blieb Frank für einen Moment die Luft weg. Dann explodierte er.
„Was fällt Ihnen überhaupt ein, hier die moralisch Keule zu schwingen! Sie haben mich doch mit Ihrem bescheuerten und komplett überflüssigen Anschlag überhaupt erst in diese Situation gebracht! Ja, natürlich, es war genau so, wie Sie denken: Sa'el kam zu mir und sagte ‚Hey, Mensch, ich will da mal eben ein paar Menschen mutieren. Kann sein, dass sie dabei drauf gehen, aber das macht ja nichts. Helfen Sie mir dabei?’ Und ich hab' natürlich begeistert zugestimmt, weil ich so was ganz große Klasse finde! Was denken Sie sich eigentlich?”
Frank hatte sich drohend über den Tisch gebeugt und starrte Cockburn wütend an. Es fehlte nicht viel und er hätte ihn am Kragen gepackt. Sein Gegenüber schien das zu spüren. Erschrocken war Cockburn nach hinten ausgewichen. Die Unsicherheit in seinem Blick besänftigte Frank soweit, dass er sich wieder in seinen Stuhl zurückfallen ließ.
Er fühlte sich erschöpft. Dabei war er doch eben erst aufgestanden...
„Glauben Sie mir, es war ganz anders. Ich bin da so reingeschlittert. Sa'el sagte mir tatsächlich, dass es den Probanden nicht schaden würde. Zwar war mir nicht wohl bei der Sache, aber was hätte ich tun sollen? Ich wusste doch, dass in Boston was schief gelaufen war, und ich wollte, ehrlich gesagt, nicht so enden wie Sie. Außerdem hätte es sonst halt jemand anderes geholfen und das wäre dann niemand gewesen, der seine Ergebnisse an andere Wissenschaftler weitergereicht hätte. Manchmal muss man Opfer bringen und dieses Opfer ist manchmal eben die Moral.”
Eine Weile herrschte Schweigen.
„Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen”, begann Cockburn schließlich zögernd. „Es war sicher eine schwierige Situation, in der Sie sich da befanden, und der Anschlag in Boston hat es Ihnen sicher auch nicht leichter gemacht. Ich kann nicht sagen, dass ich Ihr Verhalten richtig finde, aber gegenseitige Anschuldigungen bringen uns jetzt ja auch nicht weiter. Wie wäre es, wenn wir anfangen würden, zusammenzuarbeiten?”
Der verständnisvolle, zurücknehmende Ton, in dem Cockburn sprach, erregte Franks Misstrauen. So sprach jemand, der Hintergedanken hatte.
„Wie meinen Sie das?”, fragte er vorsichtig.
„Nun, was, wenn wir versuchen, gemeinsam auf Sa'el einzuwirken? Schließlich hat er von Angleichung unserer Sichtweisen gesprochen.”
Beinahe hätte Frank ihm ins Gesicht gelacht.
„Sind Sie wirklich so naiv, dass Sie das ganze Gesülze über Verständnis, Konflikte und Sichtweisen glauben?”
Scheinbar ja, denn Cockburn beugte sich eindringlich zu ihm vor. „Frank, ist Ihnen denn durch das Gespräch nicht klar geworden, dass das ein Alien ist! Sie dürfen keine menschlichen Maßstäbe ansetzen, um ihn zu beurteilen. Der tickt ganz anders als wir.”
Frank winkte ab.
„Der tickt nicht richtig, dass ist es, was mir das Gespräch gezeigt hat! Dieser Taelon hat entweder einen Sprung in der Schüssel oder Hintergedanken. Und in beiden Fällen heißt für mich die Devise: Schnellstens nach einem Fluchtweg suchen!”
„Ja, aber ziehen Sie denn gar nicht in Erwägung, dass er tatsächlich meint, was er sagt, und dafür gute Gründe hat?”
„Aha! Sehen Sie? Er hat Sie schon fast so weit!” Frank schlug triumphierend mit der flachen Hand auf den Tisch. „Wenn Sie anfangen darüber nachzudenken, dann sind Sie ihm doch schon fast ins Netz gegangen. Ich sage Ihnen, Sa'el braucht uns für irgendwas. Wir sind beide hervorragende Wissenschaftler und er will, dass wir etwas für ihn machen. So einfach ist das!”
Nun lachte Cockburn. Lachte ihn aus!
„Oh, Stratton! Glauben Sie das wirklich? Diese Wesen sind in der Lage durchs Weltall zu fliegen. Wieso um alles in der Welt sollten sie unsere Hilfe brauchen?”
Frank zog vor Ärger scharf die Luft ein. Nur mit Mühe gelang es ihm ruhig zu bleiben. „Wer sagt Ihnen, dass die auch noch in der Lage sind etwas Neues zu erfinden? Dass wir nicht etwas können, was die nicht können! Warum sonst versuchen sie überall auf der Welt die besten Wissenschaftler anzuwerben?”
Doch Cockburn lachte noch immer.
„Vielleicht, weil mit den anderen wirklich gar nichts mehr anzufangen ist? Haben Sie denn nicht bemerkt, dass wir für Sa'el nicht mehr waren als Laborassistenten?”
Empört schnappte Frank nach Luft.
„So ein Unsinn!”
Wie konnte Cockburn nur so etwas Offensichtliches nicht sehen? Er hatte doch die Erfahrung der Zusammenarbeit selbst gemacht, er musste doch wissen, wie viel sie dazu beigesteuert hatten.
Doch Cockburn sprach weiter, bevor er einhaken konnte.
„Und wenn es so wäre, wenn Sie befürchten, Sa'el wäre auf unsere Kreativität als Wissenschaftler aus, wieso liefern Sie ihm dann Ihre Mitarbeit frei Haus? Damit kommen Sie ihm doch weiter entgegen, als wenn Sie einmal darüber nachdenken, was für einen Sinn seine Aussagen machen könnten.”
„Ganz und gar nicht! Ich werde erfahren, was für ein Forschungsprojekt das ist, an dem Sa'el arbeitet. Mit Gesprächsanalysen kommen wir hingegen nirgendwo hin!”
„Aber erkennen Sie denn nicht die Möglichkeiten, die wir haben, wenn es denn wahr ist, was Sa'el sagt?” Cockburn war wieder ernst geworden und hatte sich abermals zu ihm vor gebeugt. „Wenn es um eine Veränderung der Sichtweisen geht, dann können wir ihn möglicherweise von unserer Perspektive überzeugen. Dann hätten wir einen Verbündeten und das würde uns nicht nur hier raus bringen, sondern vielleicht der Menschheit insgesamt helfen!”
Wieder spürte Frank die Wut in sich hoch kochen.
„Sind Sie jetzt völlig übergeschnappt? Glauben Sie, Sie könnten von hier aus, aus einer Gefängniszelle, die Menschheit vor diesen Teufeln retten?” Abschätzig musterte er Cockburn. „Ja, vermutlich glauben Sie das wirklich. Nach allem, was Sie in Boston angestellt haben, wird es wohl so sein. Da war es Ihnen ja auch egal, was Sie anrichten. Ihr Kollege ist jetzt tot und wer weiß, was gerade mit den anderen Mitgliedern der Organisation geschieht! Was meinen Sie, wie viele Existenzen Sie damit zerstört haben? Meine in jedem Fall und das geht ausschließlich auf Ihr Konto! Wissen Sie was? Das hier wird genauso schief gehen, wie Ihre letzte Aktion, aber dieses Mal bin ich gewarnt! Noch mal werde ich nicht zu den Leidtragenden gehören!”
„Sie machen sich wohl immer nur Sorgen um Ihr eigenes Wohlergehen!” Cockburns Mund verzog sich vor Abscheu. „Vielleicht glaube ich Ihnen sogar, dass Sie in die Geschichte so reingeschlittert sind, aber ich glaube auch, dass Sie den Tod der sieben Menschen bewusst in Kauf genommen haben! Und jetzt sind Sie bedenkenlos bereit an der nächsten Schweinerei mitzuarbeiten! Worum geht es Ihnen eigentlich? Um Ihre Karriere?”
„Sie können ja ganz ruhig sein!” Frank schrie beinahe. „Wer ist hier karrieregeil? Wer hat hier die Ambitionen zum Weltenretter? Und hören Sie endlich auf etwas zu behaupten, was gar nicht stimmt. Es waren keine sieben Tote, es waren nur vier!”
„Ach? Und der Rest? Die anderen drei? Sind das die drei, deren Namen Sa'el erwähnt hat, und von denen Sie so hartnäckig nichts wissen wollten?” Dieses Mal ließ sich Cockburn von seinem Ausbruch nicht einschüchtern. „Stella war einer der Namen und den haben Sie auch später noch mal erwähnt. Was ist mit der?”
Er würde sich das nicht gefallen lassen! Aufgebracht sprang Frank auf. Er konnte nichts dafür und Stella...
„Ich weiß es nicht und wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen! Warum fragen Sie nicht einfach Sa'el?”, fragte er gehässig. „Wo Sie doch so gerne mit ihm plaudern.”
„Das werde ich tun...”, meinte er Cockburn noch sagen zu hören, doch da war er schon aus dem Raum.

 
* * *
 

Stella saß an ihrem Lieblingsplatz in ihrem Quartier. Die Wand bildete hier zur Halle hin eine Öffnung, in der sie es sich bequem machen und hinunter schauen konnte, wobei das einseitig durchsichtige virtuelle Glas verhinderte, dass sie von außen gesehen wurde oder die gut zehn Meter hinunterstürzte. Doch obwohl, dass sie diesen Platz mochte, fühlte sie sich unwohl.
Immerhin konnte sie hier allein sein und ihren Gedanken nachhängen. Nicht, dass sie wirklich alleine war. Sie war eingebettet in ein Netz aus Beziehungen, bereits bestehenden und potentiellen, und jeder Blick in das Netz der sie umgebenden Energien erinnerte sie daran, dass sie Teil eines Ganzen war.

Dass das nicht selbstverständlich war, erkannte sie erst langsam. Die Welt war für sie nicht immer so gewesen. Stückweise kam die Erinnerung wieder, doch es waren die Erinnerungen einer Fremden.
Zumindest zum großen Teil. All das Wissen, dass sie in ihrem früheren Leben erlernt hatte, war wieder da und auch in der Art, wie sie Bewegungen ausführte und an Probleme heranging, erkannte sie sich wieder. Doch die Erinnerungen an all die Ereignisse, die ihr Leben ausgemacht hatten, waren ihr fremd. Bei vielen Episoden wusste sie, dass und auf welche Weise sie sich ereignet hatten, aber sie konnte nicht mehr nachvollziehen, warum sie darin auf die erinnerte Weise gehandelt hatte. Sie erinnerte sich an ihre Gefühle, aber warum sie sie gefühlt hatte, verstand sie nicht. Es war, als würde sie in ihren Erinnerungen eine völlig Fremde handeln sehen. Ihr fehlte der innere Bezug zu dem Geschehen und das, was sie an Bildern in sich heraufbeschwor, blieb fast ausschließlich abstraktes Faktenwissen.
Und dieser Bruch zwischen der Direktheit des unmittelbaren Erinnerns und der Distanz durch das Nichtverstehen des Erinnerten verwirrte sie so sehr, dass sie sich regelrecht zwingen musste, es überhaupt zu versuchen. Zumal die Erinnerungen nicht von selbst kamen, sondern sie sie sich mühsam vergegenwärtigen musste. Und so wusste sie zwar ungefähr, was sich in ihrer Vergangenheit zugetragen hatte, doch ein einheitliches Bild entstand nicht in ihr. Es war nicht wirklich ihre Vergangenheit, an die sie sich da erinnerte - und sie ahnte, dass sie das auch nie wieder sein würde!

Trotzdem war es nicht das, was sie sich unwohl fühlen ließ. Auch nicht, dass sie am liebsten die ganze Zeit schlafen würde. Sie wusste, dass Energetisierungsprozesse jedwelcher Art Ruhebedürftigkeit und eine längere Phase der Anpassung nach sich zogen. Die Hybridisierung war ein an Umstrukturierung kaum noch zu überbietender Eingriff und Da'ans Manipulation hatte ein übrigens getan.
Was sie beunruhigte, waren die Träume. Sie behielt es für sich - und hatte auch die Teth'a'dar gebeten, das zu tun - doch immer wieder wachte sie schweißgebadet auf, in ihren Ohren der Nachklang von Stimmen, die sie von Mal zu Mal mit zunehmender Dringlichkeit riefen. Im Aufwachen erinnerte sie sich noch an eine Gestalt, doch die Erinnerung daran verblasste schnell zu einem bloßen Schemen.
Da die fürsorgliche Präsenz der Teth'a'dar stets sofort zur Stelle war, gelang es ihr, die unangenehmen Eindrücke abzuschütteln. Doch es blieb ein unterschwelliges Gefühl der Beunruhigung.
Auch jetzt hielt sie das davon ab, sich einfach wieder hinzulegen und ihren Körper ungestört von ihrem Bewusstsein die Anpassungen vornehmen zu lassen. Sie überlegte, ob sie nach Sa'el schauen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Sie wusste nicht, ob ihre Beine sie schon so weit tragen würden. Allein auf den paar Schritten vom Bett zu diesem Platz war ihr schwindelig geworden. Und Sa'el würde ihr ansehen, dass sie immer noch erschöpft war und fragen, warum sie sich trotzdem auf den Weg zu ihm gemacht hatte. Was sollte sie dann antworten? Natürlich könnte sie ihm die Wahrheit sagen, doch Sa'els Fürsorglichkeit war so schon schwer zu ertragen.
Sie mochte es nicht, dass er sie mit der selben nachsichtigen Aufmerksamkeit behandelte, die man einem Kind entgegenbrachte. Sicher, in seinen Augen war sie wohl so etwas wie ein Kind, doch ihre eigene Perspektive war eine andere. Zudem: Unabhängig davon, was sie auch immer war und wie ihr Status zu bewerten war, sie konnte es nicht leiden, so behandelt zu werden und sie war sich sicher, dass das auch schon immer so gewesen war!

Doch da war noch etwas Anderes. Etwas, das sie dazu trieb, explizit zu wollen, dass die Träume ihr Geheimnis blieben. Vielleicht war auch das ein Relikt ihrer Vergangenheit? Hatte es etwas mit dem zu tun, was sie früher Privatsphäre genannt hatte?
Ein Schauer lief Stella über den Rücken und sie schlang die Arme enger um ihre angezogenen Knie. Warum nur fühlte sie sich die ganze Zeit beobachtet? Wieder besseren Wissens richtete sie den Blick abermals in die Halle hinunter, obwohl sie von dort aus durch das virtuelle Glas vor allen Blicken geschützt war. Und natürlich war sie, wie schon bei ihren letzten prüfenden Blicken, bis auf die Pflanzen, den Bach und die Brunnen leer. Niemand war dort... Stella erstarrte, als sie den Schatten sah! Eine Stelle direkt in ihrem Blickfeld, die hellerleuchtet hätte sein müssen, war sonderbar abgedunkelt, die hellen Energiemuster der Teth'a'dar unterbrochen...
„Was ist das?” Stella stand, bevor sie sich ihrer Bewegung bewusst war.
Von der Teth'a'dar erhielt sie beruhigende und ein wenig verwirrte Impulse.
*Was ist das?*, wiederholte sie in der Frequenz, die die Teth'a'dar als an sie gerichtet wahrnahm.
*Was?*
*Unten in der Halle. Ein Schatten.*
Stella konnte nicht sagen, ob es wirklich so war, aber sie hatte den Eindruck, als würde er sich leicht bewegen. Das Gefühl, angeschaut zu werden, intensivierte sich noch.
*In der Halle ist keinerlei Veränderung festzustellen.*
„Aber...” Während Stella noch wie gebannt auf die Stelle starrte, löste sich der Schatten vor ihren Augen auf und die Energiestruktur strahlte wieder wie gewohnt.
Nichts blieb davon zurück, außer dem Frösteln auf Stellas Haut.

 

Ende von Kapitel 2

 

Zurück / Back

 

Zum Seitenanfang