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  „Entscheidung” von AlienVibe   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Dezember 2002
Alle hier vorkommenden Personen gehören den jeweiligen Eigentümern. Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Liams Entscheidung / Ein Weg für die Synode / Anfänge
Zeitpunkt:  nach Ende der 5. Staffel
Charaktere:  Liam Kincaid, Renée Palmer, Shainshiyee, zwei Jaridian, Ra'jel, die angehende Gesangshüterin aus dem Volk im Dunklen, Aveena, Sinyia (andere Angehörige der vier Völker)
 
Anmerkung:  Diese Geschichte wurde als Teil des Adventskalenders 2002 geschrieben.
 

 

ENTSCHEIDUNG

Kapitel 7

 

Liam Kincaid lag im Sand, zusammengerollt auf der Seite, die Hände vor das nasse Gesicht geschlagen.
„Vater, wo immer Du sein magst, vergib mir ... Wie habe ich so blind sein können, ein Leben lang?”
Er sah die leuchtende Gestalt Ha'gels, die Trauer in dessen Augen, als dieser die Handflächen auf die seines Sohnes legte ... spürte, mit welchem Widerwillen Ha'gel tat, was er tun mußte ... fühlte den reißenden Schmerz und die grenzenlose Ekstase der gewaltigen Energieentladung ... fand in seinem Gedächtnis das Gefühl unbändiger Kraft, das ihm jeder Einsatz seines Shaqaravas vermittelt hatte, das er nie richtig zu gebrauchen gelernt hatte - er hatte es nur immer automatisch unterdrückt, es hatte sich lediglich in Momenten der Gefahr Bahn gebrochen ... Er erinnerte sich - wie lange war das her? - an den aus Taelon-Gefangenschaft entkommenen Jaridian, der, tödlich verletzt, vor ihm gelegen hatte - seine, Liams, innere Energie hatte nicht gezögert, und der, der zuvor ihn geheilt hatte, war gerettet ...
Er hatte sich - ein Leben lang etwas vorgemacht. Mit vagen Phantasien, er wolle, seien die Taelon endlich besiegt, ‚ein ganz normales Leben führen’ ... und mit der Idee, als es mit ihnen zuende ging, es sei sein Schicksal, sein Leben für die zu geben, die in Ma'els Kammer im Schlund des Vulkans Vereinigung vollziehen wollten - Letzteres hatte er sogar getan - allerdings nur, um herauszufinden, daß das ‚Schicksal’ da offenbar anderer Ansicht zu sein schien ...
Er hätte nie konkret benennen können, was er mit ‚normalem Leben’ eigentlich meinte - er wußte nur, als er vor die Wahl gestellt war, zu bleiben, wo er sich befand oder diese Reise ins Ungewisse anzutreten, die ihn schließlich hierher, auf diese Welt, in diese Situation gebracht hatte, hatte er, ohne lange zu überlegen - das Ungewisse gewählt.
Er, Liam, mochte alles mögliche sein - eines war er bestimmt nicht: ein ‚ganz normaler’ Mensch ...
Und er, Liam, mochte noch nicht wissen, was und wohin er im Tiefsten eigentlich wollte - eines wollte er, und dessen war er sich jetzt wirklich sicher, bestimmt nicht: ein ‚ganz normales’ Leben ...
Er wollte etwas anderes.
Weil er etwas anderes war.
Er war Mensch - und Kimera.

Mit einem Mal war keine Wut, keine Bitterkeit und keine verzweifelte Sehnsucht mehr in ihm.
Er hatte noch nie - einen solchen Frieden empfunden ...
Auf seinem nassen Gesicht lag, ohne, daß es ihm bewußt war - ein breites Grinsen.
Er hatte sich entschieden.
Er würde Aveenas Angebot annehmen.

Er raffte sich vom Boden auf und leerte den Rest des Wasserbehältnisses um die Hälfte, dann packte er das Bündel wieder zusammen, verschnürte es, legte sich im Sand zurecht und schob es sich unter den Kopf.
Später weckten ihn die ersten Sonnenstrahlen und die Geräusche entfernter Geschäftigkeit, und er erhob sich, mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit, um sich zur Urältesten und den Ihren zurück zu begeben.

„Shainshiyee, das kommt nicht in Frage - Dulmara hat Dich bei der Schichtübergabe extra auf die Liste derer gesetzt, die vorerst nichts mehr bekommen.”
Die Jaridian, die im Moment das Heilmittel-Lager beaufsichtigte, nahm der Geflügelten sanft, aber bestimmt die Portion Kräuter aus der Hand, die diese schon zu einem Klumpen zu formen begonnen hatte.
„Du hast vier Hell- und Dunkelphasen in einem durch gearbeitet, das hier wäre Deine sechste Dosis, und das kann weder sie noch ich noch irgend jemand verantworten ...”
„Bitte ... wir müssen noch in dieser Dunkelphase eine Lösung für Ra'jel finden, die Zeit läuft uns davon ... und ich bin, sobald es hell wird, für die Fünfgliedrigen-Hybriden eingeteilt, die auch nicht ewig warten können ...”
„Du bist, wenn es hell wird, nirgends mehr eingeteilt - ich habe mir erlaubt, den Schichtplan zu ändern, und Sikoral und Limara waren völlig begeistert, endlich auch einmal Durchhaltevermögen unter Beweis stellen zu können.”
„Sikoral und Limara? Die beiden arbeiten phantastisch, aber für Fünfgliedrigen-Hybriden sind sie viel zu jung! Sie können sich gegen so viel Schmerz kaum schützen, ich habe ihnen oft genug ...”
Die Jaridian legte die Kräuter beiseite, die sie Sha abgenommen hatte, und schloß diese fest in die Arme, ihr Shaqarava zufließen lassend, was der Geflügelten spürbar gut tat.
Sha legte ihrerseits die Flügel um die jaridianische Heilerin. „Sei beruhigt ... ich weiß, wie weit ich mich belasten kann ...”
Die Angesprochene gab ein mißbilligendes Geräusch von sich. „Ich werde Dich jetzt nicht daran erinnern, wie Du vor zehn Hellphasen ... in Ordnung, lassen wir das. Daß Du keine Ruhe findest, bis das mit Ra'jel geklärt ist - er hat übrigens, wie Du erbeten hattest, eine zusätzliche Kraftfeld-Sicherung um sein Stasisbehältnis und eine Sitzwache - verstehe ich, aber Du bekommst trotzdem keine Kräuter mehr, und ich bestehe auf den Freischichten - gehe Dich im nächsten Tümpel irgendwo anschauen, und Du wirst mir nicht mehr zu widersprechen wagen ...” Sie zeigte der, die halb auch ihres Volkes war, wie sie sie wahrnahm - knochig, die Augen eingesunken, das verbliebene Fell borstig und ungepflegt, mit sehr niedrigem Energielevel, dafür mit deutlich beschleunigtem Herzschlag und sich immer wieder aktivierendem Shaqarava ...
„Geh' nach unten in die Halle, wo sich alle zusammengefunden haben, die sich zutrauen, Ra'jel und all diesen Taelon in seinem Kopf irgendwie helfen zu können - findet hoffentlich zusammen eine Lösung und tut, was immer getan werden muß - aber danach bleibst Du hier und verbringst mindestens zwei Deiner Freischichten unter Heiler - Aufsicht ...”
Sha atmete tief auf. „In Ordnung ... und danke für all Deine Freundlichkeit ...”
„Reiner Eigennutz”, meinte die Jaridian lapidar, „wir können es uns nicht leisten, daß auch nur einer von uns hier dauerhaft ausfällt ...”

Kurze Zeit später hockte die Geflügelte in der weiten, von vielen Feuerschalen erhellten Halle, die das Unterste der nach jaridianischem Vorbild errichteten Heilstation darstellte, zusammen mit den Vielen, die sich, besorgt und helfen wollend, eingefunden hatten, im Kreis zusammen.
„Jeder einzelne dieser Taelon will wieder eine Energiegestalt”, erklärte sie. „Sie wollen leben, wie sie immer gelebt haben, nicht in diesem komprimierten, inaktiven Zustand als Teil von Ra'jels Geist - der im Übrigen dem Druck der gewaltigen Menge an Information, die diese Präsenzen darstellen, sowieso nicht mehr gewachsen ist ... Wenn wir ihnen doch nur etwas Derartiges zur Verfügung stellen könnten ... aber ich vermute, aus reiner Taelon-Energie lebendige Gestalten formen, denen sich dann ein Bewußtsein aufprägen kann, dazu sind nicht einmal die Taelon selbst imstande, sonst hätte Ra'jel das doch als Option erwähnt ...”
„Bist Du Dir da so sicher? Er könnte diese Möglichkeit schlicht deshalb verworfen haben, weil die Bergende, mit der er hier ist, nicht genug Energie dafür hat ...” meinte einer der Jaridian, die den Kreis mit formten.
„Hat sich überhaupt jemand um einen Tachyonkonverter für die Schiffswesenheit gekümmert?” fragte Sha, erschrocken über sich selbst, daran nicht eher gedacht zu haben.
„Das ist längst geschehen, kurz nachdem Ra'jel und Du sie verlassen habt”, antwortete ein anderer Jaridian. „Torvak hat das veranlaßt ...”
„Dem Wind sei Dank ...” Die Geflügelte war erleichtert. „Dann geht es jetzt eigentlich nur noch um eines - wohin lagern wir die Präsenzen der Synodenmitglieder aus, bevor Ra'jels Geist unter ihnen birst und alle Beteiligten auf die nächste Ebene zwingt? Und wie bewerkstelligen wir das, haben wir erst einmal einen Platz für sie gefunden?”
„Wir könnten sie beherbergen, abwechselnd”, meinte jemand vom Wasservolk. „Da drei der vier Völker auf der, die uns trägt, befähigt sind, ihre Physis für drei Hell- und Dunkelphasen zu verlassen, könnten wir ihnen abwechselnd unsere Körper ... der Wechsel müßte dann allerdings sehr exakt organisiert sein ...”
„Die Idee klingt gut - aber das könnte sehr große Schwierigkeiten geben ... an der Aversion speziell dieser Taelon gegen Unseresgleichen dürfte sich, auch nach all der langen Zeit, kaum etwas geändert haben, abgesehen davon, daß das keine Lösung für die Dauer ist. Es muß doch noch mehr geben ...”
„Das gibt es auch.”
Ein auffallend großer Jaridian mit sehr tiefer Stimme und freundlichen Augen, der auf dem Boden der Halle keinen Platz mehr gefunden hatte und daher in einem der Eingänge lehnte, mit einem Fuß Kontakt zu der ihm nächstbefindlichen Erdvolk-Angehörigen, die fest in den Kreis einbezogen war, haltend, zog die Aufmerksamkeit auf sich.
„Es geht im Grunde darum, geeignete Speichermedien zu finden für einzelne, sehr große, kompakte Mengen an Information ... etwas anderes sind diese Synoden-Bewußtseine doch nicht, in ihrem gegenwärtigen Zustand, nur komprimierte Information ...”
Er bückte sich, um etwas aufzuheben, was er, schwer, wie es war, mit sicht- und spürbarer Mühe hoch hielt, so daß alle es sehen konnten.
„Ich habe Shainshiyee geholfen, Ra'jel in Stasis zu versetzen vor zwei Zeiteinheiten. Sie hat über den Kontakt mit mir geteilt, was geschehen ist im Inneren der Bergenden und wie es in seinem Geist momentan aussieht. Und mich hat das nicht mehr losgelassen ... Eine definierte Menge an Information kann in jedem Medium gespeichert werden, das komplex, flexibel und umfangreich genug ist, eine derartige Menge davon in sich aufzunehmen ...”
Das transparente Gebilde, das er zeigte, war ein riesiger Kristall, dessen Form die überraschte Shainshiyee am ehesten an eine Darstellung des Klumpens Denkgewebe im Schädelinneren eines Menschen, eines Jaridian oder eines Wesens, das einem der vier Völker angehörte, erinnerte - an - an ein Gehirn ...
„Das ist die zentrale Steuerungseinheit eines Sokhara-Kreuzers, noch unkonfiguriert ...” erklärte der Jaridian. „Dieser Kristall verarbeitet in aktivem Modus in jeder Untereinheit eines Fluges, egal, wie lang dieser dauert, sämtliche Informationen, die im Schiff ausgetauscht werden ... für eine einzelne der Präsenzen, die Ra'jel hütet, in inaktivem Zustand müßte er auf jeden Fall ausreichen.”
Die Bilder, die er dazu in den Kontakt gab, waren plausibel und stimmig.
„Damit ist der eigentliche Wunsch dieser Taelon natürlich nicht erfüllt, aber alle Beteiligten wären außer Lebensgefahr und es wäre wertvolle Zeit gewonnen ...” überlegte Shainshiyee. „Und es dürfte eigentlich leicht sein, den Transfer einer Präsenz aus Ra'jel in einen solchen Kristall zu vollziehen, das Gefälle ist groß genug ... Wenn zum Beispiel ich mich als Kanal zur Verfügung stelle ...” In der Berührung war ein Eindruck von ihr, die linke Flügelhand auf Ra'jels Kopf gelegt, die rechte auf eine Steuerungseinheit. „Der Druck in seinem Geist ist immens, und die Leere eines solchen noch ungeprägten Kristalls stellt einen gewaltigen Sog dar ... Die Synodenmitglieder verlassen Ra'jel und finden, jedes für sich, eine Sphäre, die sie bewohnen - bewahrt man diese nahe beieinander, vielleicht sogar in Berührung miteinander, auf, dürfte auch keine Gefahr bestehen, daß das Gemeinwesen, das sie zusammen mit ihrem Hüter formen, Schaden nimmt ... und wir, die den Transfer einleiten, sind nur - Wegweiser ...” Sha ließ die zugehörigen Gedankenbilder in den Kreis fließen, verbunden mit ihrer tiefen Erleichterung.
„Auf eine ähnliche Weise habe ich mir das auch vorgestellt”, ließ der Jaridian alle wissen. „Sha, es dürfte Dir aber klar sein, daß gerade Du - und alle, die sind wie Du - diese Arbeit nicht werden tun können.”
Ihr Nichtbegreifen erreichte ihn durch den Kreis.
„Erinnere Dich, was Du mir gesungen hast - was passiert ist, als einer der Taelon versucht hat, auf das Ungeborene zuzugreifen ...”
Sie verstand, erschrocken. „Meine Barriere ... ich werde hier wohl - überhaupt nichts tun können ...”
„Oh doch ... jemand muß Ra'jel schützen, falls der Prozeß, den wir hier entwickeln, Komplikationen zeitigt oder schlicht nicht funktioniert ...”
Jetzt konzentrierten sich alle auf den möglichen Ablauf dieser ungewöhnlichen Heilarbeit, die darauf abzielen würde, jedes einzelne Synodenmitglied in einer leeren Sokhara-Steuerungseinheit unterzubringen und den Geist ihres Hüters endgültig zu entlasten.
„Wir vom Windvolk, die keine Barriere haben, können den Transfer vollziehen ...”
„Wir aus dem Dunklen überwachen und ankern die Tansferhelfenden ...”
„Wir auf dem Weg halten den Raum ...”
„Wir aus den Tiefen schauen voraus - dorthin, wo sich vielleicht lebendige Gestalt für Gehütetes findet, damit die Überdauernden Hoffnung schöpfen ...”
„Ich sorge für die notwendige Anzahl Steuerungseinheiten - ich ziehe sie von der Lieferung ab, die in der bevorstehenden Hellphase abgeholt wird, mit einer entsprechenden Erklärung ...”
„Sha nimmt Ra'jel in ihre Barriere und hält ihn, bis es gelungen ist, egal, was passiert ..”

Eine Zeit später, die Sonne ließ erste hellgoldene Strahlen durch die Fenster in der Halle fallen, wurde Ra'jel, bleich und sehr still in seinem Stasisbehältnis, hereingebracht. In der Mitte des riesigen Raumes war im Kreis die benötigte Anzahl der großen Kristalle angeordnet, darum stand die gleiche Anzahl Windvolk-Angehöriger, bereit, den Transfer geschehen zu lassen ... Alle übrigen formten Kreise in Kreisen um sie, und Shainshiyee legte eine Flügelhand auf das Stasisbehältnis, bereit, das schützende Feld abzuschalten. Ihr Herz schlug zu schnell in ihrem wie zusammengeschnürten Brustkorb ...
Der Jaridian berührte sie am linken Flügel, Zuversicht und Ermutigung ausstrahlend.
Sha atmete tief auf.
„Laßt uns anfangen ...”

Renée wurde langsam wach ... sie hatte gar nicht das Bedürfnis, die Augen zu öffnen, bis in alle Ewigkeit hätte sie nur so da liegen können ... sie konnte sich nicht erinnern, sich je in ihrem Leben so wohl gefühlt zu haben - so - so eins ... eins mit sich und ...
Etwas Nasses, Kühles benetzte ihr Gesicht, und als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte sie Salz. Dann war etwas Kleines, Vertrautes, sich feucht Anfühlendes in Berührung mit ihr - Sinyia, erkannte sie, als deren hellgoldenes Stimmchen erklang: „Es tut mir leid ... jetzt habe ich Dich geweckt ...”
„Ich war schon wach ...” Sie streckte sich und öffnete die Augen. Die Nichtflügge hockte neben ihr, eine Flügelhand auf ihrem rechten Arm, und strahlte sie an. Wassertropfen glitzerten auf ihrer Haut - sie hatte sich ins Meer getaucht, in rauschendes, funkelndes Vergnügen ...
Wann war sie, Renée, zum letzten Mal im Meer schwimmen gewesen?
An einem - ersten Weihnachtstag?
Eine neue Berührung, sehr behutsam - die Erdvolk-Weibliche, dieses freundliche, geduldige Wesen, das ihr - dieses Angebot gemacht hatte ... das Angebot, sie zu heilen ... das Angebot, daß sie innerlich dankbar angenommen hatte ...
Freude überflutete sie, tiefrot und golden. „Ich bin für Dich da ... Wenn Du im Wasser warst und ersetzt hast, was Dein Körper verbraucht hat in der Dunkelphase, können wir beginnen ...”
Renée schaute die angehende Gesangshüterin überrascht an - bis sie einmal mehr begriff, daß auf dieser Welt hier ‚Denken’ und ‚Sprechen’ eins war, sobald physischer Kontakt zu einem der Eingeborenen bestand ... Sie empfand ein vages Gefühl von Peinlichkeit - sie hatte vorgehabt, mit der im Umgang mit Fremden gebotenen Höflichkeit zu erfragen, ob das - gestern? - unterbreitete Angebot noch Gültigkeit besäße - statt dessen hatte sie hier einfach vollendete Tatsachen geschaffen ...
Das muskulöse rothäutige Geschöpf strahlte sie genau so an wie die Nichtflügge. „Es ist in Ordnung ... Du hast Dich für Heilung entschieden - was könnte denn besser sein als das? Was könnten wir Angenehmeres tun für Dich, als Dir zu helfen, wieder ganz zu werden, was Du bist?”
Die ehemalige Widerstandskämpferin verspürte das dringende Bedürfnis, die fremde Weibliche in die Arme zu schließen, und ehe sie sich selbst erlaubte, darüber nachzudenken und es unter Maßgabe menschlicher Manieren in Frage zu stellen, gab sie dem einfach nach.
„Danke ...” sagte sie, aus dem Tiefsten. „Danke, daß Du das für mich tun willst ...”
„Es ist mir Freude ...”

Wenig später merkte die Menschenfrau, daß es ihr alles andere als leicht fiel, ihre Kleidung abzulegen, um sich ins Meer zu tauchen, wie es etliche derer, die offenbar alle am Strand übernachtet hatten, jetzt taten. Sie - sie war so anders als ...
Sinyia, die immer noch in Kontakt war mit ihr, gab zwitschernde Geräusche von sich und überflutete sie mit schierer Belustigung. „Natürlich bist Du anders als wir, was denn sonst ... und selbstverständlich schauen wir Dich an - Du schaust uns doch auch an ...”
Renée stieg das Blut in den Kopf. Darüber hatte sie nicht einen Sekundenbruchteil nachgedacht ... Sie hatte sich wirklich Mühe gegeben, nicht allzu offensichtlich zu starren, als sie in der letzten Hellphase aus dem Shuttle gestiegen war. Sie hatte sich bei Shainshiyee mit Mühe - und eigentlich nicht wirklich - daran gewöhnt, daß Kleidung auf deren Welt die absolute Ausnahme darstellte, und unter all den unverhüllten Wesen hier war sie sich in ihrer Kampfmontur zwischendurch seltsam vorgekommen, ohne allerdings den Mut zu finden, es den Eingeborenen gleichzutun ... obwohl es auf jeden Fall warm genug war dafür ...
„Du mußt Dich nicht zwingen, so zu sein wie wir ... Sha hat davon gesungen, daß Eure Regeln verbieten, ohne Kleidung zu sein, wenn Ihr viele seid ...”
Das war wieder die Erdvolk-Weibliche, sehr sanft.
„Unsere Regeln ...” Renée fühlte selbst, wie absurd das hier war, was ihr dazu im Kopf herumspukte.
Entschlossen erhob sie sich, sich dabei aus den Berührungen lösend, und legte ihre Kleidung vollständig ab.

Eine Zeit später hatte die Sonne das Meerwasser auf ihrer Haut getrocknet, eine ganz feine Schicht Salz hinterlassend. Sie hatte festgestellt, daß sie nicht mehr und nicht weniger angeschaut wurde als im bekleideten Zustand auch, also hatte sie sich gar nicht erst wieder angezogen - es war sowieso zu heiß dafür ... Sie hatte mit den Eingeborenen - es wurde Zeit, daß sie aufhörte, diesen etwas merkwürdig besetzten Begriff zu benutzen, beschloß sie - Früchte, Wasser und eine Art heißer Suppe geteilt, und jetzt lag sie im warmen Sand ausgestreckt auf dem Rücken. An ihrer rechten Seite saß die Weibliche vom Volk aus dem Dunklen, flankiert von einem Männlichen vom Wasservolk, dessen große Augen glänzten, weil er die Zwischenlider, mit denen er sie sonst an Land schützte, offen hatte, und einer gerade Ausgewachsenen vom Windvolk, die ein ausgesprochen dichtes hellgrünes Fell hatte, in dem noch Wassertropfen hingen - auch sie hatte im Meer gebadet ...
„Ich werde Dich zunächst einmal mit den Tiefensinnen untersuchen, und sie hier”, - die werdende Gesangshüterin wies auf die beiden Wesen rechts und links neben sich - „helfen mir dabei ...”
Sie legte eine Hand auf den Bauch der Menschenfrau, unterhalb dieser seltsamen kleinen Vertiefung - ‚Nabel’ war der Begriff dafür - die andere auf deren Brust, in Herzhöhe.
„Laßt uns anfangen ...”

Ein großer Teil derer, die offenbar die Nacht - nein, ‚Dunkelphase’ nannten sie das hier - alle am Strand verbracht hatten, tobte ausgelassen im Wasser herum, und Liam, der das Schauspiel aus einiger Entfernung beobachtete, stellte fest, daß er das Bedürfnis hatte, es ihnen gleich zu tun ... Er täte aber gut daran, sich erst einmal zu erkundigen, ob er dadurch nicht irgendwelche Regeln oder gar Tabus brechen würde - er war schließlich - gestern? - bereits zur Genüge in jeden nur bereitstehenden Fettnapf getreten ...
Er näherte sich dem mindestens ebenso großen Kreis derer, die im Sand lagerten und - offenbar zu frühstücken schienen, und hielt dabei vergebens Ausschau nach Renée.
Er war in der Nacht einfach weggelaufen ... weggelaufen und hatte seine Reisegefährtin schutzlos ...
‚Dummes Zeug’, schalt er sich selbst. Renée Palmer war sehr gut in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, und an diesem Strand ging von keinem einzigen bewußten Geschöpf irgendeine Gefahr für sie aus ...
Etwas Großes tauchte vor ihm auf, in das er beinahe hinein gelaufen wäre - ausgerechnet - die Urälteste ...
„Es tut mir leid ... Ich habe nicht aufgepaßt ...” Peinlichkeit trieb ihm einmal mehr die Röte ins Gesicht.
Faltige rauhe ‚Hände’ umschlossen die seinen.
„Ich doch genau so wenig ... wie sagt Ihr Menschen? ‚Alter schützt vor Dummheit nicht’?”
Sie war nur belustigt, nicht verärgert oder gekränkt, wie es ein Mensch vielleicht gewesen wäre in einer ähnlichen Situation ...
Und dann spürte Kincaid etwas wie - wie eine sanfte, innerliche Berührung, und Aveenas Belustigung wich einem anderen Gefühl - tiefer, warmer Freude.
„Du hast Dich entschieden ...” Sie strahlte ihn an.
Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, daß es hier selbstverständlich war, daß jeder davon erfuhr, den er berührte - ein Teil seines Geistes war nach wie vor mit diesem Thema beschäftigt, und damit war es im Kontakt ...
Sonnenhell war in ihm und um ihn, und das war einmal mehr nur angenehm.
„Wenn Du aus dem Meer zurück bist und Nahrung und Wasser geteilt hast, werden wir für Dich da sein ... damit Du wieder ganz wirst, was Du längst bist ...” sang ihm das uralte Geschöpf. „Du brichst keine Regeln, wenn Du Dich ins Wasser tauchst, wie wir es tun ...”

Eine Zeit später ruhte der ehemalige Anführer der Widerstandsbewegung im warmen Sand, ausgestreckt auf dem Rücken. Eine Weibliche derer auf dem Weg hielt seine Füße, und auf seinen Schläfen spürte er die feuchten Flossenspitzen eines Wasservolk-Angehörigen. Aveena hockte an seiner rechten Seite, die rechte Flügelhand auf seinen Unterbauch gelegt. Ein Ausgewachsener aus dem Volk im Dunklen hatte den Platz ihr gegenüber eingenommen, seine linke Klaue ruhte auf Liams Brust.
„Wir werden erst einmal über die Tiefenwahrnehmung feststellen, welchen Schaden Dein System genau genommen hat”, erklärte ihm Urälteste dieser Welt. Sie schaute den ihn Umringenden in die Augen, dann ihm selbst.
„Laßt uns anfangen ...”

 

ENDE

 

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