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  „Entscheidung” von AlienVibe   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Dezember 2002
Alle hier vorkommenden Personen gehören den jeweiligen Eigentümern. Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Ra'jels Entschluß / Renées Entscheidung / Liams Kampf
Zeitpunkt:  nach Ende der 5. Staffel
Charaktere:  Die Bergende, Shainshiyee, Ra'jel, Renée Palmer, Sinyia, Liam Kincaid (Angehörige der vier Völker)
 
Anmerkung:  Diese Geschichte wurde als Teil des Adventskalenders 2002 geschrieben.
 

 

ENTSCHEIDUNG

Kapitel 6

 

Shainshiyee spürte, wie unangenehm es Ra'jel war, daß sie ihn auch nur berührte, also ließ sie ihn sanft zu Boden gleiten und hockte sich neben ihn.
„Entscheide Dich, Taelon, entscheide Dich ... Du mußt es jetzt tun ...”
Sie spürte, daß das, was sie ihn hatte über die Ungeborenen spüren und wissen lassen, angekommen war bei ihm, Ra'jel ... der jetzt genau so zwischen zwei Verpflichtungen zerrissen war wie die Schiffswesenheit ...
„Du entscheidest noch nicht für oder gegen die Synode ... Du entscheidest nur, ob Du mich versuchen läßt, eine Lösung für Euch alle zu finden ... es geht - um eine zusätzliche Chance ...” Sie hielt den Blick des Energiegeschöpfes fest.
Ra'jel verlor für einen Augenblick komplett die Fassade, und Sha spürte, wie sich etwas gegen ihre Barriere warf und daran abglitt. Dann waren die Züge des Taelon wieder erkennbar, und in seinem Blick war nur blanke Verzweiflung.
„Hilf mir, Shainshiyee, hilf mir ... Ich will die Ungeborenen nicht zerstören, ich habe verstanden - aber ich weiß keinen Weg ... Hilf mir bitte, bevor ich endgültig die Kontrolle verliere ... Ich bin Hüter dieser Bewußtseine, aber Führer bin ich nicht mehr ...”
„Ra'jel, ich helfe Dir ... ich bin da ... aber ich werde Dich berühren müssen - hältst Du das aus? Für eine Weile?”
Den Taelon überlief ein heftiger Farbschauer, und seine Fassade wurde erneut instabil, bevor er sich offenbar einmal mehr wieder fing.
„Mir bleibt ja wohl kaum etwas anderes übrig ... laß' Dich nicht abschrecken ...”
Sha hatte bereits begonnen, einmal mehr Beruhigung, Entspannung, Annahme, Geborgenheit zu singen - und war sehr erleichtert, als plötzlich ähnliche Impulse von der Bergenden ausgingen, die Ra'jel eindeutig wirksamer stabilisierten als ihr Lied es konnte. „Er hat sich wirklich entschieden, er, Ra'jel, hat sich für die Ungeborenen entschieden ... dafür, daß sie leben sollen ...” Die Schiffswesenheit klang unendlich erleichtert.
Sha veränderte ihre Position, bettete Ra'jels Kopf in ihren Schoß, legte sanft ihre Flügelhände darauf und öffnete die Tiefensinne - und hätte vor Schreck den Kontakt beinahe sofort wieder abgebrochen.
Die vielen Präsenzen, die er in sich bewahrte, waren sämtlich wach und stemmten sich mit aller Macht gegen den, dem sie zu verdanken hatten, überhaupt bewahrt zu sein ... und einer davon war es gelungen, auf Ra'jels Lebenskraft zuzugreifen ... das war derjenige, der seinem Hüter die Führung entrissen hatte ...
Wut kochte in ihr hoch, die sie sofort unterdrückte.
Es existierte die Option, jedes einzelne dieser Bewußtseine - einfach auszulöschen ... aber selbst wenn sie zu Derartigem imstande gewesen wäre, gab es zum einen die Gefahr, daß sie Ra'jel Schaden zufügte dadurch und zum anderen - hatten auch diese Wesen ein Recht auf ihr Leben, wie sie selbst es hatte, so, wie Ra'jel, so, wie die Ungeborenen ...
Ein Recht auf ihr Leben, aber nicht darauf, das eines anderen dafür zu nehmen, ebenso wenig, wie sie, Sha, Leben nehmen durfte ...
Sie schaute eine Weile auf das wirbelnde Durcheinander im Geist des Taelon, dessen Kopf in ihrem Schoß ruhte, und wußte, was sie zu tun hatte.
Sie stabilisierte ihre Barriere, schloß sie fest und sicher um sich selbst und verdoppelte dann deren ‚Wanddicke’ um eine weitere Schicht aus bewußt geformter Energie und Aufmerksamkeit. Dann sorgte sie dafür, daß diese zweite Schicht sich ‚verflüssigte’ und über ihre Flügelhandflächen, die auf den Schläfen des Taelon lagen, in dessen Geist zu strömen begann - und das, was er, Ra'jel, war, Schritt für Schritt von den übrigen Präsenzen in ihm separierte - bis auch er komplett von einer glatten, in faszinierend schönen Grüntönen gemaserten Höhlenwand umgeben war, vollständig, undurchdringlich ... Es war, als hockten sie und er in je einer abgeschlossenen Höhle, die durch eine schwingungsfähige Wand zugleich verbunden und voneinander getrennt waren ... Mit Ra'jel konnte sie sich jetzt verständigen wie durch die Sprache derer im Dunklen, die an die Wände schlugen, mit ihren tiefen Simmen sangen und mit schweren Schritten tanzten, um Botschaften an weit Entfernte der Ihren zu vermitteln - und alle anderen waren außen vor ...
Sie ließ für die Bewußtseine außerhalb die Maserung der Wände in Bewegung geraten, in fließende, klangvolle Bewegung, in der das, was sie an entspannenden Frequenzen sang, oktaviert und in faszinierende Farbmuster umgesetzt wurde ...
Und schließlich kehrte Ruhe in Ra'jels Geist ein. Selbst die Präsenz, die sich Zugriff auf seine Energie verschafft hatte, war in eine Art Traumzustand gesunken ...
„Ra'jel?” Sha ließ den Taelon sanft los. Dessen Blick, der zuvor ins Leere gegangen war, fokussierte auf sie, und er richtete sich auf - und schaute sich etwas überrascht um.
„Was hast Du getan?”
„Das spielt keine Rolle ... Ra'jel, sag' mir, was denkst Du? Ist es ein guter Plan, die Ungeborenen zu benutzen, um die Synode ins Leben zurück zu bringen?”
Der Taelon schaute sie an, sehr nachdenklich.
Und vollführte schließlich mit der rechten Hand die Geste seiner Rasse für Verneinung, sehr entschieden.
„Nein”, sagte er, „das ist kein guter Plan ... Selbst die, die sich nicht vereinen wollen, die bleiben wollen, was sie sind - Taelon - brauchen neue Impulse, neue Möglichkeiten ... Für die Synode müssen wir andere Lösungen finden - und ich weiß, daß ich das nicht allein kann ... Sha, bist Du - seid Ihr - denen die Unseren vor gar nicht so langer Zeit so viel Schmerz zugefügt haben - denn immer noch bereit, zu helfen?”
„Das sind wir - und jetzt laß' uns sehen, daß wir hier weg kommen - ich weiß nämlich nicht, wie lange das hält, was ich geschaffen habe ... Kannst Du uns mit dem Transportsystem der Bergenden direkt hinunter auf mein Zuhause bringen, an den Strand?”
„Ich denke schon ...”
Kurze Zeit später gab der Taelon im Transporterbereich der Schiffswesenheit dieser via energetischer Interaktion die entsprechenden Befehle und Koordinaten ein - und schließlich setzte blendende Helle auf inzwischen ausgekühltem Sand die Gestalten eines Taelon und einer seltsam aussehenden Windvolk-Angehörigen wieder zusammen.
Sha widerstand der Versuchung, Ra'jel stützen zu wollen auf dem Weg zu dem riesigen Kreis der Ihren, von denen die meisten noch keinen Schlaf gefunden hatten.

Renée wußte nicht genau, was sie geweckt hatte - vielleicht irgend etwas aus der stetigen, sanften ungewohnten Geräuschkulisse um sie herum ... das Anbranden der Wellen gegen den Strand, der entfernte Gesang, der zwitschernde Laut, den die winzige Sinyia, die ihr quer auf der Brust lag, die Flügelchen schlaff ausgebreitet, im Schlaf von sich gegeben hatte ...
Bis auf das Funkeln der Sterne und ein schwaches Leuchten vom Meer her war es vollkommen dunkel.
Sie spürte jemandes Hand auf ihrem linken Arm - der junge Erdvolk-Angehörige, der offenbar neben ihr eingeschlafen war irgendwann ... Der Arm über ihrem Bauch gehörte der Weiblichen, die sie die ganze Zeit über gehalten hatte. Die beiden Wasservolk-Winzigen konnte sie nicht fühlen, dafür einen fremden Flügel, der über ihre Beine gebreitet war und etwas Warmes, Großes, Weiches, das sie und alle auf ihr ruhenden Körperteile und Kleinen bedeckte ... sie griff danach, es war eine Art Decke, die irgendwer herangeschafft haben mochte, als sie längst schlief.
Etwas beschäftigte hartnäckig ihr Bewußtsein - sie hatte sogar vorhin davon geträumt, erinnerte sie sich. In dem Traum hatte Sha ihr, Renée, das Windvolk-Nichtflügge, das sich jetzt gerade auf ihr zurechtrückte, in die Arme gelegt, ihr über den hochgewölbten Leib streichend, und gesagt: „Halt' sie warm, so, wie Du bald Deine Neugewobenen warm halten wirst ...”
Die ehemalige Widerstandskämpferin blinzelte die Tränen weg, die sie wieder in den Augen hatte. Das war es gewesen, was sie im Wegdämmern gehört hatte - die Erdvolk-Weibliche hatte - hatte ihr angeboten, sie zu heilen ... rückgängig zu machen, was die Taelon ihr - wie so vielen Frauen auf der Erde - angetan hatten ... Dieses zutiefst fremdartige Geschöpf hatte ihr angeboten, dafür zu sorgen, daß sie - wieder in der Lage wäre, Nachwuchs zu haben ...
Sie war zutiefst überrascht, wie hell und weit es in ihr wurde bei dem Gedanken daran - sie hatte sich doch längst damit abgefunden - seit dem Moment, indem sie, verzweifelt und voller Zorn zugleich, Da'ans diesbezügliches Hilfsangebot abgelehnt hatte ...
Bitterkeit stieg in ihr auf. Sie mußte sich aufsetzen, weil sich gleichzeitig ihr Magen zusammenzog - und war erleichtert, daß das niemanden weckte. Sinyia griff mit den Krällchen zu, um nicht abzugleiten, und gab etwas von sich, das wie ein Seufzen klang, wurde aber nicht wirklich wach.
Die Taelon hatten experimentiert - und es war ihnen vollkommen gleichgültig gewesen, wie viele Frauen ... und auch Da'an war das eigentlich gleichgültig, und deshalb hatte sie sein Angebot abgelehnt ...
In ihrer Zeit beim Widerstand und während ihres Kampfes gegen Howlyn und die Seinen hatte sie keinen Sinn darin gesehen, Nachwuchs in eine versklavte Welt zu setzen, der doch nur zu leiden hätte ... sie hatte das entschieden, nicht irgend eine gleichgültige Übermacht, allerdings nur bis zu diesem - Experiment ...
Jetzt war die Erde frei, der galaxisweite Krieg zwischen Taelon und Jaridian beendet und die Heimatwelt der Atavi hatte die versprengten Ihren wieder aufgenommen ... jetzt gab es Hoffnung und neue Ziele, aber in ihr, Renée, war etwas zerstört ... aus ihrem Leib würde niemand hervorgehen, der all das Neue würde kennenlernen und nutzen können ...
Es sei denn ...
Es sei denn, sie nähme das Angebot der Eingeborenen hier an und - und ließe sich heilen ...
Die Nichtflügge regte sich an ihrer Brust, halb wach, und ganz zart strich Hellgold über Renées Inneres.
„Arme Menschenfrau, Du bist so traurig ... Du bist verletzt ...” Sinyias winziges Stimmchen versuchte ihr zu singen, was das Organ einer Ausgewachsenen erfordert hätte. „Wir sind bei Dir ... wir sind für Dich da ...”
Einmal mehr verschleierte sich Renées Sicht, und sie blinzelte. Jetzt hatte sie das kleine Geschöpf aufgeschreckt, das nach menschlichen Maßstäben höchstens - ja was eigentlich war? Ein Säugling? Ein Kleinkind? Keine dieser Bezeichnungen paßte wirklich ...
Das bißchen Hellgold intensivierte sich, und die Menschenfrau erinnerte sich, vage mitbekommen zu haben, daß hier so junge Wesen eigentlich noch gar nicht für andere sorgen sollten - so, wie Menschenkinder das auch nicht konnten/durften ... sie löste behutsam die Krallen der Kleinen aus ihrer Bekleidung und hob sie hoch, um sie anschauen zu können.
„Sinyia, das ist sehr freundlich von Dir, aber dafür bist Du, glaube ich, viel zu jung ... Ich muß einfach nur ein wenig für mich sein und nachdenken, ist das in Ordnung?”
„Du mußt das nicht allein tun ... ich wecke die Ausgewachsenen ...”
„Nein, es ist gut, wie es ist ...” Renée strich dem Winzigen sanft über den Rücken. „Denk' daran, ich bin ein Mensch, nicht jemand von Euch - bei uns ist das alles etwas anders ...” Behutsam bettete sie das kleine Wesen unter den Flügel des fremden Ausgewachsenen, nachdem sie ihre Beine darunter hervorgezogen und die Decke im Sand ausgebreitet hatte, damit Sinyia darauf liegen konnte. Diese rückte sich zurecht und blinzelte sie müde an.
„Ich werde ein Stück spazieren gehen”, bedeutete Renée ihr, „spazierengehen und nachdenken - so machen wir Menschen das ...”
„Und Du brauchst wirklich keine Hilfe?” fragte das Geschöpfchen, schon im Halbschlaf.
„Nein, wirklich nicht ...”

Kurze Zeit später hatte Renée sich Stiefel und Socken ihrer Kampfmontur, die sie - mehr aus Gewohnheit als aus irgend einem anderen Grund - immer noch trug (hatte es tatsächlich eine Zeit gegeben, in der ihr ihr Äußeres etwas bedeutet hatte?), ausgezogen und wanderte nachdenklich durch das flache warme Wasser der Anbrandungszone. Einer der Monde dieser Welt war aufgegangen, ein kleiner, fast weißer, und tauchte alles in silbriges Licht.
Seltsamerweise hatte sie das sichere Gefühl, daß das, was immer die Bewohner dieser Welt mit ihr täten, um zu heilen, was verhinderte, daß sie Nachwuchs bekam, funktionieren würde ... und daß diese, würde sie sie fragen, ob sie das Gleiche für all die anderen betroffenen Frauen auf der Erde tun könnten, antworten würden: „Selbstverständlich ...”
Warum hatte ihr die angehende Erdvolk-Gesangshüterin dieses Angebot überhaupt gemacht? Was für einen Nutzen ...
Nein - sie würde hier völlig umdenken müssen ... Diese Wesen hier waren weder Menschen noch Taelon - der einzige Vorteil, den sie davon hatten, etwas für sie, Renée, zu tun, war, daß ihnen danach das, was ihr weh getan hatte, ebenfalls keinen Schmerz mehr zufügte ...
Sie hatte sich nie klar gemacht, was einhundertprozentige Empathie wirklich bedeutete ...
Und sie hatte nie wirklich hingefühlt, was die Tatsache, daß Wesen, die nicht einmal Menschen waren, einfach entschieden hatten, ihren Körper einer seiner entscheidenden Fähigkeiten - der der Reproduktion - zu berauben, eigentlich in ihr bewirkt hatte.
Auf die Wut und die Bitterkeit, die jetzt in ihr hoch kamen, nach all der Zeit, war sie nicht gefaßt gewesen ...
Ihr Körper gehörte ihr, ihr allein, und niemand außer ihr hatte das Recht, darüber zu verfügen ...
Sie könnte zurückgewinnen, was sie verloren - nein, was man ihr genommen hatte - aber ...
Welchen Sinn hätte das noch?
Sie war keine zwanzig Jahre mehr alt ... Wie lange hätte es gedauert, bis ihr Körper die Fähigkeit zur Reproduktion von selbst verloren hätte? Immerhin, fünfzig war sie auch noch nicht ...
Und die Wechseljahre gehörten zum ureigenen Rhythmus weiblicher menschlicher Physis dazu ...
Aber sie befand sich nicht mehr auf der Erde.
Sie war unterwegs durch Zeit und Raum, mit unbekanntem Reiseziel und ohne zu wissen, ob sie ihren Heimatplaneten überhaupt wiedersehen würde ...
Welchen Sinn hätte es, sich reproduzieren zu können, ohne einen männlichen ...
Nein, das stimmte nicht ...
Liam?
Aber selbst wenn - wozu?
Wozu sollte sie, Renée, Kinder bekommen - was sollte aus ihnen werden? Ohne ein Leben, wie es nur die Erde Menschen zu bieten hatte? Raumvagabunden, die keinen Himmel, kein Meer, kein ...
Auch das stimmte nicht ... über ihr war Himmel, und sie watete in warmem Meerwasser ...
Kinder - auf fremden Welten?
Warum nicht?
Warum?
Wäre sie wieder fruchtbar, entschiede immer noch sie selbst, ob aus Lust und Vergnügen - Bleibendes würde ...
Ein Teil von ihr wunderte sich gerade, wie weit sie in der kurzen Zeit schon die Ausdrucksweise der Eingeborenen hier übernommen hatte - und der andere ließ sie plötzlich ganz still stehen, mit offenem Mund.
Was hatte die Erdvolk-Weibliche ihr gesungen, als sie in ihren Armen geweint hatte wie nie im Leben zuvor? Irgend etwas von ... von „ganz werden” ...
Das war es.
Sie sehnte sich danach, wieder ganz zu sein - alle ihre Fähigkeiten wieder zu haben, die sie im Laufe ihres Lebens eingebüßt hatte, und das waren viele ... die, zu weinen und die, sich reproduzieren zu können, waren nur zwei davon ...
Ganz zu sein, alle Potentiale auszuschöpfen, die - die einem Menschen zur Verfügung standen ... Alle Möglichkeiten offen zu haben, die die ungewöhnliche Reise, zu der sie sich entschlossen hatte, anzubieten haben würde ...
Die heftige Sehnsucht nach etwas kaum Benennbarem, das all dies umfaßte und noch viel mehr, trieb ihr erneut die Tränen in die Augen.
Eine Fähigkeit, die sie wieder hatte ...
Sie würde das Angebot der kompakten, muskulösen Weiblichen mit der tiefroten Haut annehmen.
Sie würde sich heilen lassen ...
Als sie die angehende Gesangshüterin in dem großen schlafenden Kontaktkreis gefunden hatte und sich so neben sie bettete, daß sie sie berührte, wurde prompt die kleine Sinyia wach, die quer über deren Beinen gelegen hatte, kletterte zu der Verletzlichen, legte ihr ein Flügelhändchen auf die rechte Schulter und begann zu strahlen.
Wenig später lagen auch die Menschenfrau und sie in traumlosem Schlaf.

Liam schlug die Augen auf und erschrak heftig. Was war geschehen? Was fehlte dem Mutterschiff, daß es so dunkel war um ihn herum und totenstill?
Er hatte sich schon auf die Füße erhoben, geduckt und angriffsbereit an den Baum gedrückt, unter dem er ...
Baum?
Was, um alles in der Welt ...?
Etwas raschelte hinter ihm, und er fuhr herum.
Nichts war zu sehen außer nächtlichem Wald, dicht und scheinbar undurchdringlich. ‚Für Ausgewachsene, gleich welcher Art, gibt es hier keine Gefahren ...’
Er kam sich plötzlich lächerlich vor, wie er da stand, die rechte Hand mit offener Handfläche gegen das schweigende Dickicht gerichtet, als wolle er ...
Schwindel erfaßte ihn. Was, zur Hölle, war das für ein Ort, und was tat er hier eigentlich?
‚Ruhe ...’ ermahnte er sich innerlich. ‚Ruhig bleiben ... Du hast schon ganz andere Situationen gemeistert ...’
Er senkte den rechten Arm und lauschte in seine Umgebung.
Er war eindeutig nicht auf dem Mutterschiff.
Es war so still ...
Bis auf das leise an- und abschwellende Rauschen des Meeres, das sich auf dem im Mondlicht silbrig schimmernden Sand brach ...
Allmählich dämmerten ihm die Ereignisse der letzten Stunden wieder, und seine momentane Desorientierung legte sich. Er befand sich auf Shainshiyees Heimatplaneten, der Welt der Vier Völker,
er hatte so etwas wie eine Begegnung der Dritten Art mit deren Urältesten gehabt, und diese hatte ihm ein Angebot gemacht, das ihn völlig aus der Bahn geworfen hatte.
Und er war geflüchtet, geflüchtet vor all dem, was das in ihm ausgelöst hatte, blindlings geflohen ins Dunkle, bis er vor Erschöpfung zusammengebrochen war.
Er hockte sich hin, an den Baum gelehnt, unter dem er - wie viele Stunden? - geschlafen hatte, und schaute sich bewußt um. Angst oder Schrecken empfand er nicht mehr.
Sein Blick fiel auf das merkwürdige Bündel, das er von Shas Leuten mitbekommen hatte, und er spürte, wie sein Magen sich schmerzhaft zusammenzog. Was hatte Aveena gesagt? ‚Laß' Dir Wasser, zu essen und eine Feuerschale ...’ Demnach enthielt dieser - Sack? Aus was immer er bestehen mochte, Stoff, wie Liam ihn kannte, war es jedenfalls nicht - wohl genau das ...
Er öffnete ihn, indem er die kräftige Schnur entknotete, die ihn zusammenhielt, und faltete ihn auseinander - nein, es, es war wirklich nur eine um ein paar Dinge zugebundene Hülle, mehr nicht - und betrachtete, was darin enthalten war.
Eine flache, sehr schön geformte steinerne Schale, deren geschwärztes Inneres ihren Zweck verriet - darin entzündeten die Eingeborenen Feuer ... Liam fragte sich, was das sollte - warum machten sie das nicht einfach auf dem Boden, wo sie sich doch sowieso die meiste Zeit im Freien aufhielten, so, wie Menschen das in gleicher Situation auch taten? Die kleinen Holzstückchen, der kantige schwarze Stein und der grob gefertigte metallene Ring waren wohl eine Art primitive Anzündevorrichtung ...
Außer den Brennutensilien gab es eine Handvoll glänzender, offenbar in etwas wie eine Folie eingehüllter länglicher Dinge - Nahrungskonzentratriegel, eine Art jaridianischer Feldproviant, erinnerte er sich schaudernd, so etwas hatte Sha im Gepäck gehabt und ihm freundlich davon angeboten, und er hatte aus Neugier gekostet - genau so gut hätte er in ein Stück Pappkarton beißen können ... Neben den Riegeln lagen drei faustgroße, offenbar in Blätter gewickelte Klumpen und vier flache, orangefarbene ovale Dinge und etwas, das aussah wie eine Art antiken Weinschlauchs, der vielleicht drei Liter Flüssigkeit faßte - das mußte ein Wasserbehältnis sein ...
Mit einem Mal fühlte sich Kincaid so hungrig, daß er sogar mit den geschmacklosen Nahrungsriegeln allein vorlieb genommen hätte ... statt eines solchen griff er nach einem orangefarbenen Etwas. Der süße, exotisch anmutende Duft, der davon aufstieg, rief ihm ins Gedächtnis, was das war - eine geschälte und getrocknete Ph'taalfrucht ... auch davon hatte Shainshiyee ihm und den anderen angeboten, und er wußte wieder, wie angenehm das geschmeckt hatte, ihn an sämtliche Südfrüchte erinnernd, die er je probiert hatte ...
Er schlang die getrocknete Frucht herunter und nahm dann einen von diesen Blätterklumpen. Wie aß man so etwas? Was war das überhaupt? Es roch salzig ... würzig ... unbekannt, aber sehr verlockend ... Er biß vorsichtig in eines der Blätter, in die der eigentliche Klumpen gehüllt zu sein schien.
Es schmeckte nach gar nichts, nur die feinen langen Härchen darauf fühlten sich seltsam an auf der Zunge.
Nachdenklich betrachtete Liam das, was er da in den Händen hielt und bemerkte endlich die feine Schnur aus geflochtenem Gras, die das Gebilde zusammenzuhalten schien. Er entfernte sie vorsichtig, die beiden großen haarigen Blätter lösten sich von dem, was sie umhüllten, und zum Vorschein kam das, was diesen würzigen Duft ausströmte ...
Kincaid brach ein kleines Stück davon ab und kostete.
Es war wie nichts, das er kannte - aber gut ...
Nach diesem und einem weiteren halben Klumpen und der Hälfte des Inhaltes des Wasserschlauches gab sein Magen endlich Ruhe - dafür meldete sich das, was er in die hintersten Regionen seines Bewußtseins verdrängt zu haben glaubte, mit erbarmungsloser Vehemenz.
Und ließ sich nicht erneut verdrängen.
Aveenas Angebot ...
Der einstmalige Anführer der Widerstandsbewegung saß da, unter dem Baum neben dem ausgebreiteten Bündel, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, die leeren Augen auf das Meer gerichtet und sich hin- und herwiegend, ohne daß er merkte, was er da tat.
Kimera ...
Sie hatten ihm angeboten, ihn wieder zum Kimera zu machen, in gleichem Ausmaß, wie er Mensch war ...
Er sollte sich entscheiden ...
Die im Kontakt mit der Urältesten aufgebrochene Wut war wieder da.
Ausgerechnet ER sollte sich - ENTSCHEIDEN ...
Er, der von dem Moment an, in dem er gezeugt wurde, nichts als das Werkzeug irgendwelcher galaktischen Mächte gewesen war, die ihn für ihre Schicksalsspielchen gebraucht hatten ... und zwar vor allem seine Kimera-Seite ... Er hatte versucht, sie wegzusperren, er hatte nichts davon wissen wollen und war, wann immer sie sich gezeigt und agiert hatte, eigentlich nur entsetzt gewesen darüber ... er hatte einfach nur leben wollen, wie jeder andere Mensch auch ... aber das, was er war, hatte ihm Verantwortung aufgezwungen, die alles überstieg, was ein Mensch zu tragen haben sollte ... hatte ihn in Konflikte gestürzt, die so schmerzhaft waren, daß er nie wieder daran erinnert werden wollte ... hatte ihm eine völlig ungewisse Zukunft aufgezwungen, auf Irrwegen durch Raum und Zeit, für ein Ziel, das nichts, aber auch gar nichts mit ihm und seinen Wünschen zu tun hatte ...
Sein Kimeraerbe ...
Warum hatte er das Gefühl gehabt, etwas zerbreche in ihm, als er alles, was ihn zum Kimera machte, weggab im Bruchteil eines Augenblicks, um all diese Leben zu retten?
Welcher wahnwitzige Anteil in ihm war es, der - der bis heute trauerte um das, was er da verloren hatte?
Kimera ...
In ihm war leiser Gesang, fremdartig und anrührend, drei-, nein, neunstimmig ... nein, viel, viel komplexer ... Sha hatte ihm damals ermöglicht, dieses Lied einmal zu hören - das Lied, das sein Innerstes sang - und es behutsam wieder ausklingen lassen, als sie spürte, wie unangenehm ihm das war ...
Unangenehm?
Etwas so - Schönes?
Leuchtendes Violett, mit zwei regenbogenfarben schimmernden Strängen eine perfekte Spirale formend ...
Er selbst, gebadet in Klang ...
Und das, was er im Kontakt mit der Urältesten beiseite geschoben hatte - was er eigentlich sein ganzes Leben lang beiseite geschoben hatte - brach über ihn herein mit einer Macht, die jeglichen Widerstand fortspülte.
Sehnsucht.
Zelltiefe, unvorstellbare, brustkastensprengende Sehnsucht ...
Sehnsucht nach - Kimera.
‚Liam Kincaid, Du kannst nur wirklich ganz sein, wenn Du anerkennst, daß Du es längst bist ... Mensch und Kimera ... dann ist Dein Weg für das Ganze Erfüllung und Freude, egal, vor welche Herausforderungen er Dich noch stellen wird ...’

 

Ende von Kapitel 6

 

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