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  „Entscheidung” von AlienVibe   (Emailadresse siehe Autorenseite),   Dezember 2002
Alle hier vorkommenden Personen gehören den jeweiligen Eigentümern. Earth: Final Conflict gehört Tribune Entertainment Co., Lost Script Prod. Inc., Atlantis Films und VOX. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Geteilter Schmerz / Ra'jel bricht zusammen / Was Liam verbirgt
Zeitpunkt:  nach Ende der 5. Staffel
Charaktere:  Renée Palmer, eine angehende Erdvolk-Gesangshüterin, ein Männlicher des gleichen Volkes, Sinyia, die Bergende, Shainshiyee, Ra'jel, Liam Kincaid, Aveena (andere Angehörige der vier Völker)
 
Anmerkung:  Diese Geschichte wurde als Teil des Adventskalenders 2002 geschrieben.
 

 

ENTSCHEIDUNG

Kapitel 5

 

Renée entwand sich dem Halt der Weiblichen vom Erdvolk, den Geist überflutet von Bildern ... Diese Eingeborenen hier waren starr vor Entsetzen wegen eines willkürlich und grundlos gefällten Baumes - hatten sie denn nicht einmal den Hauch einer Ahnung von der Spezies, deren zwei einsame Vetreter sie so bereitwillig auf ihre Welt eingeladen hatten - und die sie, Renée Palmer, geradezu herausragend repräsentierte? Hatte ihnen ihre geflügelte Botschafterin, die zwar nur eine sehr kurze Zeit mit ihnen verbracht hatte, denn überhaupt nichts berichtet über sie? Darüber, wie Menschen lebten, und welchen Stellenwert - das Nehmen von Leben in ihrem Dasein einnahm?
Wieviel davon hatte Shainshiyee, die damit gleich an ihrem ersten Tag bei ihnen damit konfrontiert war, eigentlich wirklich verstanden?
Der Menschenfrau war nicht bewußt, daß sie sich im Sand zusammengekrümmt und die Hände vors Gesicht geschlagen hatte, zitternd.
Daß das Nichtflügge geradezu geflohen war aus der Berührung mit ihr, hatte etwas in ihr geöffnet ... etwas, das ihr ganzes Leben lang verschlossen geblieben war - bis jetzt ...
Sie selbst hatte niemals Zeit gehabt, über das Nehmen von Leben nachzudenken - sie hatte es einfach getan - wie so viele, wie unzählige andere Menschen auch ...
Sie hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen - und gleichzeitig oben an der Kante zu stehen, sich selbst zuschauen, wie sie, schreiend vor Angst, fiel und fiel - und in Renée, der Beobachterin, sagte eine Stimme, die in ihren Ohren klang wie die der winzigen Sinyia: „Das hast Du verdient - genau das, und nichts anderes ...”
Sie hatte lebendige Wesen, Ihresgleichen und anderer Spezies - verletzt und getötet, wieder und wieder ...
Die Berührung der Erdvolk-Angehörigen, die ihr behutsam eine Klauenhand auf die rechte Schulter gelegt hatte, nahm sie nicht wahr.
Sie fiel und fiel ...
Weihnachtsbäume hatten ihr nie wirklich etwas bedeutet ... Sie hatte das Fleisch irgendwelcher Tiere gegessen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden ... aber was zählte das, gemessen an dem, was sie sonst noch getan hatte - ebenfalls ohne auch nur im geringsten darüber nachzudenken ...
Nachdem sie dem Widerstand gegen die Taelon beigetreten war, war sie wieder und wieder in Situationen geraten, in denen es auf Leben und Tod ging. Sie hatte zugeschlagen und Knochen gebrochen, sie hatte Waffen benutzt und getroffen - und was aus den Gegnern geworden war, hatte sie nie - oder nur in Ausnahmefällen - interessiert ... Sie hatte, als die Taelon verschwunden waren und die Atavi, die die Eingeborenen hier als ‚die des Dritten Weges’ bezeichneten, die Erde fast übernommen hatten, gegen diese und die Menschen, aus denen sie Ihresgleichen zu machen versuchten, gekämpft, und sie hatte nichts anderes gewollt, als sie auszurotten - sie hatte vielen von ihnen das Leben genommen - Yulin hatte eigentlich nur Glück gehabt ...
Sie hatte niemals auch nur eine Sekunde gezögert ... sie hatte niemals nachgedacht, nichts in Frage gestellt ...
Alles, was ihr so lange Halt gegeben hatte - der Zorn auf die Taelon, der Haß auf die Atavi, die Wut auf so viele Menschen - eine Wut, die fast so alt war wie sie selbst, begriff sie plötzlich - brach weg.
Brach weg und ließ nichts zurück außer ...
Die Taelon hatten gut daran getan, sie so zu verstrahlen, daß sie niemals Nachwuchs in die Welt setzen konnte - sie hatte genug angerichtet, das, was sie war, brauchte die Welt kein zweites Mal ...
Sie fiel und fiel in der Dunkelheit, und sie würde niemals mehr aufhören zu fallen.
„Das ist, was Du verdienst ...”

„Nein, nein, nein ...”
Die Erdvolk-Weibliche hatte die zusammengekrümmte Verletzliche längst aufgerichtet, wieder in festen Halt genommen und zu wiegen begonnen. Das Wesen mit dem hellen Kopffell zitterte haltlos, und sein Gesicht war naß von - ‚Tränen’ nannten die Menschen diese klare Flüssigkeit, die aus ihren Augen strömte, wenn sie von intensiven Gefühlen bewegt waren ... Alle anderen waren so dicht wie möglich an die Menschenfrau herangerückt, und alle, die irgendwie in Reichweite waren, waren in engen, warmen Kontakt gegangen, einschließlich Sinyia und die beiden Winzigen aus den Tiefen. Die Ausgewachsenen mußten die Nichtflüggen immer wieder abblocken, damit diese Renée nichts von ihren unausgeformten Kräften zufließen ließen - und alle waren mit Gesang, allen Sinnen und ihrer Energie bei diesem Geschöpf, das in einer Not war, wie sie solche selten in jemandem wahrgenommen hatten ...
„Sie darf sich nicht wegwerfen ...” „Sie hat so gelitten ...” „Sie hat es nicht besser gewußt ...” „Die Menschen sind in Not ...” „Sie kann nichts dafür ...” „Sie ist so sehr verletzt ... sie war noch nicht einmal flügge und wurde immer wieder verletzt ...” „Was nicht heilt, verletzt wieder und wieder, auch andere ...” „Kein Wesen sollte so etwas aushalten müssen ...”
Renée begann sich heftig zu wehren, als sie all diese Wesen um sich wieder fühlte. Sie sollten wegbleiben von ihr ... wegbleiben, ehe sie ... sie war das hier nicht wert, nicht nach dem Leben, das sie geführt hatte ... sie mußte für diese Geschöpfe ja alles verkörpern, was sie zutiefst ablehnten - Gleichgültigkeit, Gewalttätigkeit, Grausamkeit, blinde Wut, Bosheit ohne jeden Grund ...
„Ich fühle nichts Böses in Dir ...” Die volle, tiefe, warme Stimme der Erdvolk-Weiblichen. „Das, was Ihr Menschen ‚böse’ nennt, gibt es eigentlich gar nicht ... Es gibt Not und Verzweiflung, und beides fühle ich in Dir. Ich fühle ein Wesen, dem so großes Leid angetan wurde, daß es das nicht ertragen hat - es hat dafür gesorgt, daß es das nicht mehr fühlen muß, und jetzt kann es sich nicht einmal mehr daran erinnern, deshalb hat es nie heilen können ... Verletzen und Leben nehmen geschieht immer aus Not, selbst wenn diejenige, die Wunden zufügt und Abschied erzwingt, diese nicht einmal mehr wahrnimmt ...”
Renée konnte nicht aufhören, zu schluchzen und zu zittern. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so geweint zu haben ... sie konnte sich nicht erinnern, überhaupt jemals geweint zu haben - wenn sie es denn je getan hatte, hatte sie es sich wohl sehr, sehr früh abgewöhnt, wann auch immer ...
Wie war es möglich, daß diese ganz besonderen, so freundlichen Geschöpfe hier sie nicht verabscheuten?
Nach allem, was sie getan hatte?
Eine weitere Erinnerung stieg in ihr auf - eine weitere Erinnerung an - Leben nehmen ... an Gren, den Atavus, in den Street, die junge Frau, die gemeinsam gekämpft hatte mit ihr, sich mehr als verliebt hatte ... und deren Gefühl erwidert wurde, erwidert von einem Geschöpf, das nur überlebte, indem es anderem Lebendigen die Energie nahm ... und das irgendwann, verzweifelt, weil sie, Renée, sich vorgenommen hatte, es und alle Seinesgleichen zu vernichten, versucht hatte, Street einzuspannen, die Seinen zu schützen ...
Vielleicht hätte es gereicht, ihn bewußtlos zu schlagen, Street mit sich zu ziehen und ...
Statt dessen hatte sie - ihn geköpft.
Und es richtig und gut gefunden in diesem Moment ...
Sie zitterte und schluchzte, mit dem Gefühl, ihr zerbräche das Herz.

„Yulin hast Du gerettet ... ihn und alle auf dem Schiff derer des Dritten Weges ... Du bist jemand, der trotz aller Not immer und immer den bestmöglichen Weg gegangen ist ...” sang ihr die aus dem Dunklen.
„Ich sehe all Dein Helles und Liebevolles ... Du sorgst so freundlich für die, die Dich brauchen ... Du bist immer da für die, die es nicht gut haben ...” Die winzige, irgendwie hellgoldene Stimme gehörte Sinyia.
„Du hast sogar immer wieder geholfen, Taelon zu retten ...” „Du hast Dich immer wieder um anderer Willen selbst in Gefahr gebracht ...” „Du warst bereit, selbst in den Abschied zu gehen um des Wohles Anderer willen ...”
Renée registrierte überrascht, daß sie nicht mehr fiel ... und daß es hell geworden war um sie, hell und warm und vielfarbig ...
„Warum sollten wir Dich verabscheuen? Warum sollten wir die Menschen verabscheuen? Wir wissen, wie die Not über Eure Welt kam ...”
Die Menschenfrau spürte den Halt, der sie umfing - und die bedingungslose Annahme, die damit verbunden war.
„Das Ganze hat Dir längst vergeben ... Die Einzige, die Dir noch vergeben muß, bist Du selbst ...”
Das sanfte Gewiegtwerden und die Wärme all dieser Wesen um sie waren - das Beste, was sie je erlebt hatte ...
Das Beste ...
Das war das Einzige, dessen sie sich sicher war - sie hatte immer das Beste gewollt für alle, die ihr je etwas bedeutet hatten. Es war ihr so oft gleich gewesen, was aus ihr selbst wurde - gekämpft hatte sie immer für die, die ihr wichtig waren ...
„So ist es”, kam es bestätigend von allen Seiten. „So ist es ...”
Das heftige Schluchzen war abgeebbt, obwohl ihr immer noch Tränen über das Gesicht liefen und von da aus über die Brust des Wesens, das sie an sich gedrückt hielt. „Es tut mir leid”, ließ sie die Erdvolk-Angehörige wissen, etwas zusammenhanglos.
„Es ist in Ordnung ...” antwortete diese, „das hier hätte schon längst geschehen müssen ... Du hast all Deinen Schmerz nie geteilt ... gut, daß Du es jetzt mit uns tust, damit Du endlich ganz werden kannst ... damit es heilen kann in Dir und Du ganz wirst - und das Ganze wieder fühlen kannst, daß uns alle hält ...”
Renée begriff nicht wirklich, was das tiefrote warme Geschöpf ihr da sang, aber es tat unendlich gut ...
So gut wie die sanften, tiefen Klänge, die die Worte trugen, und die strömenden Farben, die sie umhüllten und ihr Innerstes erfüllten ...
Sie entspannte sich mit einem Mal, plötzlich nur noch erschöpft.
„Das hast Du gemeint, als Du uns vorhin hast wissen lassen, daß Du keinen Nachwuchs haben kannst ... Nicht allein Dein Selbst ist verletzt, sondern auch Dein Körper ...”
Renée fühlte, daß ihr da wohl Wichtiges gesungen wurde, konnte aber kaum mehr folgen, und als die, die sie hielt, das wahrnahm, schloß sie die Tiefensinne und ließ nur noch Energie für die Verletzliche strömen.
„Ruh' Dich aus, Menschenfrau, ruh' Dich aus ... wenn es wieder hell wird, hast Du wieder Kraft, und wenn Du es wünschst, können wir schauen, ob wir Dich heilen können ...”
Die Frau in ihren Armen schien eingeschlafen, ehe sie ihr das hatte zu Ende singen können.
„Sie können nichts dafür ... die Menschen können nichts dafür ... der Dritte Weg hat die Not über sie gebracht ...” sang es in dem großen Kreis, der an den um Liam und die Urälteste angrenzte und diesen berührte. „Zwei von Vielen ... Zwei von Vielen sind aufgebrochen, das heilen zu helfen ...”

Als Shainshiyee begriffen hatte, daß das, was sie wahrnahm, eine auf sie gerichtete schiffsinterne Waffe war, die zu dessen Selbstschutzsystem gehörte und normalerweise gegen unerwünschte Eindringlinge oder meuternde Besatzungsangehörige benutzt wurde, war es zu spät - die gebündelte Energie entlud sich mit einem heftigen Geräusch ...
... und hüllte sie in einen diffusen vielfarbigen Funkenschauer, der heftig auf ihrer Haut kribbelte, ansonsten aber nichts bewirkte.
Es hätte ein gebündelter Strahl sein sollen, der sie vollständig gelähmt hätte ...
Sie strich sich einige Male grob mit den Flügelhänden über den Leib, um den Juckreiz zu lindern, den die Waffe verursacht hatte, den Blick auf den Taelon gerichtet, der sich inzwischen wieder an der ‚Konsole’ festhielt.
„Sie gehorcht Dir nicht mehr, Ra'jel”, stellte sie fest. „Auf die Hilfe der Bergenden kann die Synode nicht mehr zählen.”
Das Energiegeschöpf starrte sie an, und die Farbschauer, die es überliefen, verrieten seine innere Bewegtheit. Seinen Gesichtsausdruck deutete Sha richtig als Erschrecken.
Sie war mit drei Schritten bei ihm, als er zusammensackte, und fing es auf.
„Was geschieht mit mir?” fragte Ra'jel, verzweifelt. „Ich habe nichts mehr unter Kontrolle, nicht einmal mich selbst ...”
„Du mußt Dich entscheiden”, ließ Sha ihn wissen. „Du mußt entscheiden, bevor die Synode es tut ... es geht auch um Dein Leben ...”

„Du magst vor langer Zeit aufgegeben haben, Deine Kimera-Gaben, so weit sie Dir überhaupt zur Verfügung standen, zu nutzen”, ließ die Urälteste dieser seltsamen Welt Liam Kincaid wissen. „Aber Du bist nicht weniger Kimera, als Du es je gewesen bist ...”
Der ehemalige Anführer des menschlichen Widerstandes gegen die Taelon empfand zunehmende Neugier, aber auch etwas wie Ärger in sich aufsteigen, konnte aber letzteres Gefühl nicht wirklich zuordnen.
„Wenn Du willst, zeige ich Dir, was ich meine ... wenn ich Dich mit den Tiefensinnen wahrnehme, und Du schaust und fühlst mit mir ...”
Die Neugier überwog, daher stimmte Kincaid zu. Das mit den Tiefensinnen hatte Shainshiyee damals auch mit ihm gemacht, als er über das, was er von seinen außerirdischen Fähigkeiten entwickelt hatte, noch verfügte ... und es hatte sich, wenn er ehrlich war, unendlich interessant angefühlt ...
„In Ordnung, dann beginne ich jetzt ... entspann' Dich, Kimera, entspann' Dich ...”
Der Wasservolk-Angehörige ließ Liam respektvoll los und klaubte behutsam die schlafende Windvolk-Nichtflügge von dessen Schulter. Die beiden Kleinen auf seinem Schoß wuselten davon, blieben aber nahe genug, um auf jeden Fall mitzubekommen, was immer geschehen würde ...
Das uralte Geschöpf ließ Kincaids Hände los, rückte dicht an ihn heran, legte die pergamentartigen Flügel um ihn und zog ihn mit überraschender Kraft an sich, so daß sein Gesicht auf ihrem knochigen Brustkasten zu liegen kam ... Flüchtig bemerkte er ihren etwas unregelmäßigen Herzschlag, dann verschob sich seine Wahrnehmung plötzlich vollkommen.
Es war sein eigener Herzschlag, der ihm jetzt in den Ohren dröhnte wie die Baßtrommel eines gut gespielten Schlagzeugs, und was sich da kraftvoll und rhythmisch zusammenzog, war - sein Herz, gesehen/gehört/gefühlt durch diese erstaunliche Fähigkeit des Wesens, das ihn hielt, die es als ‚Tiefensinne’ oder ‚Tiefenwahrnehmung’ bezeichnete ...
Erneut wechselte die Ebene, aus dem Dröhnen wurde Strömen wie das eines Wasserfalls, aber immer noch rhythmisch strukturiert ... lange, faserige Strukturen, die planvoll ineinandergriffen, schienen sich im Takt des strömenden Geräusches zusammenzuziehen und wieder auszudehnen, und gleichzeitig war ihm klar, daß es die Bewegung dieser Strukturen war, die das, was um ihn erklang wie fremdartige Musik, überhaupt erst hörbar machte ...
Die nächst tiefere Ebene - er war jetzt wie gebadet in Klang, und vor ihm lag ein längliches, unendlich zart erscheinendes, kompliziert gestaltetes Gebilde mit etwas wie einem dunklen, festen Kern in der Mitte - eine Zelle der Muskulatur seines Herzens, in ständiger, wie pulsierender Bewegung, aber da war nicht nur ein Rhythmus, den er da hörte und fühlte, sondern viele verschiedene Stimmen, die unglaublich gut zusammen zu passen schienen ... Begriffe wie ‚Stoffwechsel’, ‚Zellelektrizität’ und ‚Enzymaktivierung’ wirbelten durch seinen Geist, bevor die Urälteste, die ihn hier führte, erneut die Perspektive wechselte.
Liam blieb die Luft weg.

Er hatte selten in seinem Leben etwas - so Schönes gesehen ...
Er schwebte zwischen zwei unvorstellbar grazilen, feinstgewebten Gebilden, die sich rechts und links von ihm in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen. Jedes davon bestand aus insgesamt drei Einzelsträngen, zwei transparenten und einem leuchtend violetten, die perfekt ineinandergriffen und eine exakt gleichmäßig gedrehte Spirale formten ... In dem sanften Licht, das hier herrschte, schienen die transparenten Stränge in allen Regenbogenfarben zu schimmern, und beide Spiralen vibrierten in einem komplexen Rhythmus - noch vielschichtiger als der, den er zuvor wahrgenommen hatte ... Er glaubte, sich ständig wandelnde Klänge zu hören, jeweils dreistimmig ... nein, mehr ... neun Stimmen pro ...
Er gab es auf und gab sich ganz dem Staunen hin.
„Das bist Du”, ließ Aveena ihn wissen. „Das bist Du, mit jeder Faser Deines Seins ... das ist Dein Erbe ...”
Er verstand jetzt endlich, was sie ihm da zeigte - sie waren im Innersten einer seiner Herzmuskelzellen angelangt, im Kern, und das, was er, gemeinsam mit der Urältesten, die ihm die Hand führte, behutsam berührte, war - seine eigene DNS ...
„Das hat das Ganze geformt aus dem, was Siobhan Beckett, Ronald Sandoval und Ha'gel gegeben haben, um neu zu weben, was es braucht ... Das bist Du ... Kimera und Mensch, Mensch und Kimera, nicht weniger als das ...”
In Liam war die Neugier einem Gefühl gewichen, das Ehrfurcht gleichkam, und aller Ärger war im Moment verflogen. Das, was sich da noch auftat, schob etwas in ihm energisch beiseite ...
„Aveena, wie kann das hier sein? Als ich mich damals entscheiden mußte, ausschließlich Mensch zu werden, um dadurch die Taelon und alle anderen auf dem Mutterschiff, es selbst eingeschlossen, vor dem Tod durch die dunkle Materie zu retten, hat Ha'gel mir alles genommen, was mich zum Kimera machte, um diese Masse damit aufzulösen ...”
„Er hat Dir die gesamte Kimera-Energie genommen, die Dir damals zur Verfügung stand, im Bruchteil eines Augenblicks, und Ihr habt sie gemeinsam zur Entladung gebracht ...”
In der Berührung war das gleißende Licht, das alles durchflutete und in dem sowohl die tödliche Materie als auch Liams kimerianischer Vater von einem Moment zum nächsten verschwunden waren.
„Es war der Schock der schlagartigen kompletten Entleerung und der Rückkopplung dieser gewaltigen Entladung, von dem Dein System sich bis heute nicht erholt hat - und von dem es sich ohne Hilfe auch nicht erholen wird ...” Aveena ließ ein weiteres Bild von Kinkaids Innerem auftauchen, etwas, von dem er vermutete, es sei eine Art Überblick über sein Nervensystem - er erkannte Gehirn, Rückenmark und die davon abzweigenden wichtigsten peripheren Stränge.
„So ist es”, bestätigte die Urälteste, „und jetzt schau genau hin ...”
Im ersten Moment hatte er das Gefühl, zu schielen, und versuchte vergebens, seinen Blick zu justieren.
Exakt gleich mit dem menschlichen Nervengewebe schien etwas wie ein zweites derartiges Netz zu verlaufen ... er schaute genauer und erkannte teils transparente, teils merkwürdig trüb wirkende Kanäle und Stränge, die, im Gegensatz zu den vibrierenden Nervenfasern, schlaff und leblos erschienen. Interessiert verfolgte er entsprechende Strukturen, die sich seine Arme entlang zogen und genau in der Mitte seiner Handflächen endeten, indem sie unter der Haut eine Art Ring zu formen schienen ...
„Richtig, in dem, was aussieht wie ein zweites Nervennetz, strömt bei den Kimera - und den Jaridian, die allerdings eine andere Anatomie haben als Du und Deinesgleichen - das Shaqarava ...”
Aveena berührte Liam sanft an der Brust, genau über dem Herzen.
„Liam Kincaid, wisse, Du kannst nur dann wirklich ganz sein, wenn Du anerkennst, daß Du es längst bist ... und wenn Du Deinen Weg für das Ganze als der gehst, der Du bist, Mensch und Kimera zugleich, ganz - dann wird er Erfüllung und Freude, egal, vor welche Herausforderungen er Dich stellt ... Wisse, daß wir, die vier Völker auf der, die uns trägt, Dir wiedergeben können, was Du glaubst, für immer verloren zu haben ... wir kennen Wege, Dein System zu heilen, seinen Schockzustand zu lösen, auf daß Dir Deine Kimera-Gaben wieder zur Verfügung stehen - auf daß Du werden kannst, was Du bist - ganz ...”
Liam starrte die Urälteste an, mit offenem Mund.
In ihm war ein Gefühlssturm losgebrochen, von dem er nichts, aber auch gar nichts einordnen konnte ...
„Du mußt Dich entscheiden ...Wir tun das sehr gern für Dich, aber nur, wenn Du es wirklich wünschst ...”
Kincaid brachte kein einziges Wort heraus.
Das uralte Geschöpf strich ihm sehr sanft über das Gesicht.
„Du brauchst Zeit ... das verstehe ich ... laß' uns erst einmal zu den anderen zurückkehren und ausruhen - inzwischen dürfte es dunkel sein ...”
Sie zog den inzwischen zitternden Liam an sich und hüllte ihn in ihre Flügel. Die schimmernden Stränge und das Bild seiner Nerven- und Energiebahnen verblaßten, und er hatte mit einem Mal das Gefühl, aufwärts gezogen zu werden ...für einen Augenblick empfand er Schwindel, dann gab es einen sanften Ruck, und er spürte wieder Sand unter und Großes, Dünnes, Warmes um sich - die Flügel der Urältesten, und jetzt war es auch wieder ihr Herz, das er hörte ...
Sie löste die seltsame ‚Umarmung’, in der sie ihn gehalten hatte, rückte ein Stück von ihm ab, um ihm in die Augen schauen zu können, und blickte ihn an.
So, wie alle Anderen um ihn herum es auch taten - voller - Erwartung ...
Mit einem Mal fühlte sich sein Hals an wie zugeschnürt, und der merkwürdige Ärger, den er ganz zu Anfang dieser seltsamen Prozedur hier empfunden hatte, war wieder da - und schob sich in den Vordergrund.
Was, um alles in der Welt, bildeten diese Geschöpfe sich eigentlich ein? An ihm und seinem Leben war wahrlich genug herumgepfuscht worden ...
Sie meinten es gut, rief er sich selbst zur Ordnung, aber das half nicht ...
Er wollte nur noch hier weg, weg von all den Wesen, die - die alle etwas von ihm zu verlangen schienen ... er kannte diese Geschöpfe nicht, er wünschte nichts von ihnen und er war niemandem hier irgend etwas schuldig ...
Er atmete tief auf, und sein Verstand begann wieder zu arbeiten. Es war bestimmt nicht klug, hier irgendwen zu verärgern, schon gar nicht dieses dürre alte Etwas, das hier zweifelsohne so etwas wie eine Respektsperson war ...
Das alte Etwas schien schon wieder zu grinsen, und er merkte, daß aus seinem Ärger Wut zu werden drohte.
Er sammelte seine Gliedmaßen zusammen und erhob sich, sich dabei endgültig aus der Berührung lösend. Aveena tat es ihm gleich - jetzt wirkte sie wieder einfach nur freundlich.
„Urälteste, ich danke Dir für das, was Du mir gezeigt und gesagt hast”, sagte Kincaid, innerlich erleichtert, wie ruhig er das herausbrachte. „Ich würde gern darüber nachdenken - und dafür brauche ich Zeit, und zwar allein, wenn das hier gestattet ist.”
„Selbstverständlich ... Du kannst Dich hier auf dieser Welt bewegen, wohin Du willst ... für Ausgewachsene jeglicher Art gibt es hier keinerlei Gefahren. Such' Dir einen Platz, an dem Du Dich wohl fühlst und bleib' dort, so lange es Dir angenehm ist ... Laß' Dir von den Unseren Wasser, zu essen und eine Feuerschale samt Zubehör mitgeben, und nimm' Dir alle Zeit, die Du brauchst.”
Liam starrte sie überrascht an.
Irgendwie hatte er damit gerechnet, sie würde ihn zu überreden versuchen - zu überreden, was immer sie vorhätten, sofort mit ihm tun zu können ...
Er bedankte sich etwas verwirrt und verbeugte sich dann tatsächlich vor ihr - und das Geschöpf erwiderte die Geste, was ihn vollends aus der Fassung brachte.
Er wandte sich schließlich ab und bahnte sich unsicheren Schrittes seinen Weg aus dem dichten Kreis all dieser so unterschiedlichen Geschöpfe ... Eine sehr dunkelhäutige Feuervolk-Angehörige mit der typischen groben Gesichtszeichnung drückte ihm ein Bündel aus irgendeinem seltsamen Material in die Hände, und dann stolperte er blindlings ins Dunkle, den Strand entlang, nur weg, weg von all dem, was ihn vollkommen durcheinander brachte ...
Als er irgendwann das Gefühl hatte, schlicht nicht mehr laufen zu können, kämpfte er sich hoch zum Waldrand und ließ sich unter den nächstbesten Baum fallen. Er hatte den Kopf noch nicht auf das Bündel gebettet, als er bereits schlief.

 

Ende von Kapitel 5

 

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