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  „Aveenas Lied” von AlienVibe   (Emailadresse siehe Autorenseite)
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Thema:  Verstehen, warum - auf der Suche nach Lösungen
Zeitpunkt:  weit vor Beginn der ersten Staffel
Charaktere:  die Gesangshütenden des Erd- und des Wasservolkes, der Sprecher und der Navigator der Jaridians, Aveena, der Planet, auf dem die Völker leben (ein Atavus-Stamm, zwei weitere Jaridians)
 

 

AVEENAS LIED

Kapitel 6

 

Wir blickten beide auf das Bild und versuchten zu begreifen.
Mir wurde klar, daß es nicht einmal ausreichen würde, wenn beide Rassen ihren Krieg beenden und einen Weg finden würden, in dieser Galaxis nebeneinander zu leben ... sie würden aufeinander zu gehen und teilen müssen, einander geben, was der jeweils andere benötigte, um weiter existieren zu können ... der Jaridian folgte meinen Gedanken bis zu einem Bild, in dem ein Taelon und ein Jaridian einander die offenen Handflächen entgegenhielten, um in Kontakt zu gehen - und dann flammte sein Zorn auf, der schmerzvolle, ungezügelte Zorn auf die Taelons, heiß und unerbittlich, wieder verbunden mit einer Flut von Erinnerungen an Kampf, Zerstörung und gnadenlose Vernichtung ... „Das kann nicht sein,” stieß er hervor, „ich glaube es nicht ... es kann nicht sein...”
Ich schaute durch seine Erinnerungen hindurch auf das Bild von Himmel und Feuer, das merkwürdig unvollständig wirkte und sich dennoch wahr anfühlte ... die, die einst eins gewesen waren und jetzt getrennt, mußten erneut zusammenkommen, sonst wäre eines Tages niemand von ihnen mehr da ...
Todfeinde würden bereit sein müssen, Todfeinden zu geben. Und - unendlich viel schwerer - Todfeinde müßten bereit sein, von Todfeinden zu nehmen ... ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn die Taelons hierher zurück kämen, ihr Mutterschiff über unserer Welt schweben würde, ihre Shuttles hier landeten und ich schließlich einem der Ihren gegenüberstünde - mit all meinen Erinnerungen an das, was auf unserer Welt geschehen war ... und in dem Gedankenbild wich ich vor diesem Wesen zurück, unfähig, es zu berühren und den Kontakt herzustellen; ich hatte nur den Wunsch, es möge fortgehen und wen es das nicht täte, würde ich es zwingen - ich stand plötzlich fest mit beiden Füßen auf dem Untergrund und hatte schon die Resonanzsehnen angespannt, um singend die Erde beben zu lassen ...
Uns hatten sie nur einmal bedroht, aber die Jaridians bekämpften sie seit Äonen ... Der Zorn des Jaridian wurde zu meinem eigenen, ich stand in Flammen wie er, und ehe mir bewußt war, was ich tat, hatte ich schon die Trägerwelle aufgebaut für den Gesang des Platzschaffens, so wie ihn die Erdleute damals für die Taelon - Behausung angestimmt hatten ...
Die tiefe Schwingung stieß auf unnachgiebigen Widerstand - eine komplexe, vielstimmige Gegenfrequenz, mit Obertönen wie Goldfunken, die zwischen den furchtbaren Bildern in meinem Geist auftauchten und sich vage vertraut anfühlten. Dann nahm ich Berührung wahr und hätte diese im ersten Moment fast abgeschüttelt, bis ich die Energie erkannte, die mir dadurch zufloß - nicht die kalte, blaue Energie eines Taelons, sondern die sonnenhelle Kraft meines Stammes ... plötzlich waren die meisten Gedankenbilder aus meinem Geist verschwunden, und ich verlor den Halt. Ich wurde von zahlreichen Flügelhänden aufgefangen, und ganz langsam legte sich das Feuer in mir; die Flammenwand, durch die ich geschaut hatte, wurde durchsichtig ... ich erkannte die Meinen um mich, die den Kontakt zwischen dem Jaridian und mir sanft unterbrochen hatten und uns beide, getrennt voneinander, hatten ins Ph'taal-Laub des Mitte-Lagers sinken lassen.
Taelon ... allein der Gedanke daran ließ die Flammen in mir wieder hochsteigen, das Bild unserer beinahe „sterilisierten” Welt vor Augen, und mein ganzer Körper verkrampfte sich und ich konnte nur noch mit allen Stimmbändern schreien, bis ich keinen Atem mehr hatte.
Irgendwann später tauchte ich aus Stille und Dunkelheit wieder auf und merkte, daß ich nicht mehr aufhören konnte zu zittern ... ich krümmte mich zusammen, so fest ich konnte, und schlang die Flügel um mich, aber das half nicht ... so weiß glühend ich vorher in Flammen gestanden hatte, so unendlich kalt war mir jetzt, und ich hätte alles gegeben für einen winzigen Funken Wärme und Licht, egal woher oder von was für einem Wesen ...
In mir war nichts.
Nichts außer Kälte, Schwärze und Leere ...
Atavus.
Mir war so kalt ...

Irgendwo war Wärme.
Irgendwo war Kontakt.
Irgendwo war jemand Lebendiges ...

Eine rote Berührung war als erstes da, auf meiner Brust und auf dem Rücken.
Goldfarbene Berührung kam dazu, an Kopf, Bauch und Flügeln ... und die Energie, die mir darüber zufloß, erreichte etwas in mir, das ich inzwischen in dem Abgrund aus Leere verloren geglaubt hatte - meine eigene heilende Kraft, die sonnenhelle Energie des Volkes, das der Wind trägt.
Das war ich - kein Atavus, kein Taelon, kein Jaridian - eine vom Volk, das der Wind trägt ... ich fühlte, wie meine Kraft zu fließen begann, allerdings verschwindend dünn, in Resonanz mit dem, was mir die anderen zuströmen ließen.
Die Berührungen gaben mir Kontur und Substanz, und die Kälte ließ nach. Die anderen im Kontakt wurden fühlbar - wie viele das plötzlich waren ...
Als ich irgendwann später wieder in der Lage war, bewußt hinzuspüren, nahm ich wahr, daß der Teil unseres Stammes, der jetzt diesen Ph'taal hier bewohnte, offenbar Hilfe geholt hatte, als der Jaridian und ich in diesen Strudel aus Zorn und Entsetzen geraten waren. Die Gesangshüterin der Erde war an meiner Seite. Dicht an dicht hockten Erd- und Windstamm - Leute aus unserem Gehölz hier beieinander in zwei sich berührenden Kreisen, einen um den Sprecher der Jaridians, einen um mich ... Ich fühlte zu dem Jaridian hin, der, von den Seinen und Unsrigen umringt, vollkommen erschöpft eingeschlafen war, dann zu der Erd-Gesangshüterin, deren Energie ich zuvor als erstes gespürt hatte.
Diese schaute mich prüfend an und drückte mich sanft ins Laub zurück, als ich Anstalten machte, mich aufzurichten. „Das darfst Du nie wieder tun,” sagte sie eindringlich, „nie wieder ... diese Gesänge müssen gesungen werden, aber sie gehören in ein Ritual, das wir erst noch finden müssen ... wenn diese Gesänge nicht von der Ordnung der Stimmen aller, die das Ganze bilden, getragen sind, bringen sie keine Heilung, sondern zerstören die Singende und verletzen das Ganze ...”
Ich blickte sie verständnislos an. „Was habe ich getan? Was habe ich gesungen?”
„Du hast für sie gesungen,” sie deutete auf die Jaridian, deren Navigator zu uns herüber schaute, „für sie und für uns. Du warst die Stimme des Zorns, die Stimme des Entsetzens und eine der vielen Stimmen des Todes ... und Du hast gesungen, was sein wird, wenn nicht irgendwann gelingt, was der Sprecher und Du gefunden habt ...” Sie wob das Bild von den weißvioletten Flammen und dem kalten blauen Himmel in den Kontakt, und ich schauderte, als ich es erneut anschaute und das Wahre daran fühlen konnte ...
Nach allem, was geschehen war in unvorstellbaren Zeiträumen - wie sollte das je gelingen können?

Irgendwann in dieser Dunkelphase betteten wir uns alle zum Schlafen, dicht an dicht, die Jaridians dazwischen. Ich fürchtete mich davor, von Krieg und Zerstörung zu träumen, aber zum Wachbleiben war ich zu erschöpft, also fielen mir irgendwann die Augen zu ...
Zusammen mit dem Sprecher der Jaridians war ich wieder auf der Heimatwelt des Atavus-Volkes, diesmal aber nicht auf dem Hügel, sondern mitten unter den gebannt nach oben schauenden Atavus-Leuten. Das Vorzeichen war am Himmel erschienen und tauchte alles in blaues Licht.
Wie die anderen beobachtete ich diesen seltsamen Stern, der immer rascher fiel, sich immer weiter ausdehnte und plötzlich in Myriaden von Funken zerstob ... und dann war die Luft erfüllt von blau funkelnden Splittern, und einer davon bohrte sich in mein Brustfell. Es gab einen kurzen, scharfen Schmerz. Unwillkürlich versuchte ich den Splitter abzustreifen, aber er war verschwunden, es gab nur einen Blutstropfen an der Stelle, in die er eingedrungen war ... Etliche von den Atavus-Wesen waren offenbar ebenfalls getroffen worden, untersuchten einander auf Spuren der Splitter und fanden nur winzige Wunden, die sich rasch schlossen.
Der Splitterhagel dauerte an und schließlich suchte alles Schutz in den Behausungen. Ich fand einen Baum mit dichtem Geäst nahebei, in dessen Krone ich kletterte, um den Rest dieser Dunkelphase darin zu verbringen.

Nach einer Weile begann sich eine merkwürdige Kälte in meiner Brust auszubreiten, von der Mitte her sich ausdehnend und verbunden mit dem Gedankenbild eines riesigen Raumes, wie eine gigantische Höhle, deren Wände und Decke sich in der Ferne und in der Höhe verloren, aus Gestein in der Farbe der Sternensplitter. Ich lehnte an einer der Wände, hatte Mühe zu atmen und lauschte auf die mächtige Schwingung, die die Höhle durchzog, unablässig, wie tausende von Stimmen, die in vollkommener Harmonie tausende verschiedene Lieder zugleich sangen und damit einen komplexen, anhaltenden Akkord woben, der nichts anderes war als die Farbe des gefallenen Sterns, dieses Blau, in Töne und Klänge übersetzt ...
Das Gedankenbild löste sich auf, und ich war wieder in dem Baum bei der Atavus-Siedlung, völlig überrascht. Ich hatte nie zuvor so etwas gesehen, weder auf meiner Heimatwelt noch auf dieser hier. Die Kälte in meinem Brustkorb war inzwischen entlang meines Rückgrats bis in den Kopf aufgestiegen; das Gefühl war unangenehm und ich beschloß, den Baum zu verlassen und eine längere Runde zu fliegen, in der Hoffnung, die Bewegung würde die Kälte vertreiben. Es fielen längst keine Splitter mehr, und der Himmel war sternenklar.
Als ich wieder in dem Baum landete, war mir zwar warm, aber ein merkwürdiges Unbehagen war geblieben ... als gerade flügge Gewordene war mir einmal das Gift einer unsauberen Wunde ins Blut gedrungen, und das hier fühlte sich ähnlich an. Ich untersuchte meinen Körper auf Verletzungen, fand aber äußerlich nichts; selbst die kleine Wunde, die der Splitter verursacht hatte, war nicht mehr zu sehen ... also konzentrierte ich mich auf meine inneren Strukturen, auf Muskeln, Sehnen, Organe und Energiebahnen - und fand etwas, das zuvor nicht da gewesen war: eine filigrane, komplexe blau schimmernde Struktur, die sich in mein energetisches System eingewoben hatte, mit je einem Zentrum im Brustkasten und im Kopf ...
Der blaue Splitter. Das einzige, was mir in der letzten Zeit eine Verletzung zugefügt hatte, war dieser Splitter von dem gefallenen Stern gewesen ... Vorsichtig berührte ich die fremde Energiestruktur in mir - sie pulsierte in dem selben komplexen Frequenzband, das die blaue Höhle durchzog in dem Gedankenbild ... Etwas war in mich eingedrungen und schien mich jetzt zu bewohnen, vielleicht so, wie ich daheim einen Ph'taalbaum bewohnte ... Es bewirkte nichts, außer daß ich mich etwas seltsam fühlte, und es reagierte nicht, als ich meine Energie vorsichtig aktivierte und es damit berührte. Ratlos tauchte ich aus der Tiefenwahrnehmung wieder auf und beschloß, das Ganze erst einmal auf sich beruhen zu lassen. So bald es wieder hell war, würde ich mit den Atavus-Wesen darüber sprechen können; schließlich hatten ja auch einige der Ihren Splitter abbekommen.

Als die Sonne eine Zeit lang wieder am Himmel stand und der Atavus-Stamm seine Hellphasen-Aktivitäten aufgenommen hatte, nahm ich Kontakt mit einem der Ihren auf, der ebenfalls von einem Splitter getroffen worden war. Er hatte ein ähnliches Körpergefühl und das Gleiche in seinem Geist erlebt wie ich, und als ich über die Berührung vorsichtig in ihn hineinfühlte, bot sich ein ähnliches Bild wie bei mir - auch er war „bewohnt” von einer blauen energetischen Struktur ...
Im Laufe der nächsten Zeit waren alle, die vom gefallenen Stern gezeichnet worden waren, sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich merkte, wie das, was die übrigen Atavus-Leute taten, mir mehr und mehr fremd wurde. Ich hatte fast aufgehört, Nahrung zu mir zu nehmen, weil mein Geist so viel Zeit in der blauen Höhle verbrachte und versuchte, den komplexen vielstimmigen Gesang der gigantischen Schwingung zu verstehen ... aus den unvorstellbar vielen Liedern, die hier gleichzeitig gesungen wurden, verstand ich immer mehr einzelne Worte, von denen jedes - produziert von tausenden von Stimmen - unzählige Bedeutungen aufwies. Das Wort „Leben” beispielsweise bedeutete „ewige Energie”, „losgelöst”, „Überdauern der Ewigkeit”, „anderer Tod”, „fortgehen” und noch so vieles mehr ... „Liebe” konnte ebenso „Annehmen”, „Wegstoßen”, „Warmhalten” bedeuten wie aber auch „eine Grenze setzen” oder „zwei sein” ... Die jeweilige Klangfarbe, die jeweilige Schattierung des Blautons, die aus der Komplexschwingung mit diesem Wort herausgegriffen wurde, bestimmte die Bedeutung des gewählten Begriffes.
Zwischen den Zeiten, die mein Geist in der Höhle verbrachte, war ich mit den Atavus-Wesen zusammen - aber nur noch mit denen, die gezeichnet waren wie ich. Mit den anderen konnte ich nichts mehr anfangen. Wir untereinander gebrauchten fast nur noch die Sprache der Komplexschwingung, von der schließlich jeder von uns eine Art Ableger in sich trug. Die Gesänge meines eigenen Volkes sang ich so gut wie nicht mehr. Wir fühlten uns dadurch einander sehr nahe, nahmen am Leben der Nichtgezeichneten gar nicht mehr teil und wollten diese auch nicht mehr in unserer Nähe haben - sie teilten das hier nicht mit uns und beschäftigten sich nur mit primitiven Alltagsdingen anstatt mit dem, was uns stetig geistig wachsen ließ ... Einen aus unserer Gruppe beschäftigte besonders das Wort „Leben” mit seinen vielfältigen Bedeutungen, von denen so viele mit dem Begriff „Ewigkeit” zu tun hatten; er war vollkommen fasziniert davon, vielleicht selbst eines Tages „Ewigkeiten überdauern” zu können ...

Übergangslos befand ich mich in einer vollkommen anderen Szenerie. Anstatt mit der Gezeichneten - Gruppe zusammen zu sein, flog ich über der Welt des Atavus-Volkes, und zwar über einem Berghang, über den kurz zuvor ein Unwetter niedergegangen war. Ich sah umgestürzte und herausgerissene Bäume, und es hatte eine Steinlawine gegeben ...
Aus der Zerstörung heraus rief eine Stimme um Hilfe. Ich ließ mich davon leiten und landete neben einem am Boden liegenden Atavus. Er war verletzt. Das rechte Bein war doppelt gebrochen, der Unterschenkel mit offen herausstehenden Knochen, und er hatte eine klaffende Wunde quer über dem Bauch. Ich untersuchte ihn vorsichtig, keine der Verletzungen war akut lebensbedrohend, aber allein hier in der Wildnis würde er trotzdem ohne Hilfe sterben ... es war ein Nichtgezeichneter, und ich war sehr überrascht, daß mir das in dieser Situation überhaupt auffiel - schließlich brauchte er meine Hilfe ... und plötzlich waren tausende flüsternde Stimmen in meinem Kopf, einige wenige sonnenhell und golden, die meisten aber blau. „Ich helfe ihm” ... „er ist nicht gezeichnet” ... „ich muß ihm zuerst die Schmerzen nehmen” ... „er wird nie wieder richtig laufen können” ... „ich bringe ihn von hier fort, ich kann ihn tragen” ... „er wird nicht mehr von Wert sein für seinen Stamm” ... „er muß zu den Seinen” ... „unnützer Esser” ... „ich singe seine Knochen zusammen” ... „er ist nicht gezeichnet, er gehört nicht zu uns” ... „er ist ohne Wert” ... „verschwendete Energie”...
Ich schüttelte heftig den Kopf. Das Bild der blauen Höhle hatte begonnen, sich über den Verletzten zu schieben, der meine Hilfe brauchte; ich versuchte, das Bild und die Stimmen zu verscheuchen, meine Reflexe zu aktivieren und meine Energie fließen zu lassen, überrascht, daß das nicht längst von selbst geschehen war - und es gelang nicht.
Beim dritten mißlungenen Versuch geriet ich in absolute Panik - und erwachte nicht nur selbst mit einem Schrei und am ganzen Körper zitternd, sondern hatte das gesamte Mitte-Lager mit geweckt.
Die Erd-Gesangshüterin war an meiner Seite, fing über den Kontakt die letzten Alptraumbilder aus meinem Geist auf und untersuchte mich rasch und gründlich über Tiefenwahrnehmung. „Du bist intakt,” bedeutete sie mir, „Deine Energie ist verbraucht, aber Du verfügst unverändert über Deine Reflexe ...”
Sie schaute mich an. „Was hast Du gesehen? Was hat Dich so in Angst versetzt?”

Ich versuchte die Bilder aus meinem Geist zu vertreiben, aber die Erd-Gesangshüterin bedeutete mir:
„Nein - halte sie und teile sie mit uns. Schließlich hat Deine Angst uns alle geweckt - es muß also um etwas Wichtiges gehen ...”
Sie stellte den Kontakt her, indem sie mich aufrichtete und an sich lehnte, und alle anderen schlossen sich an, irritiert und erwartungsvoll zugleich. Ich zitterte immer noch, als ich begann, die Szenen dessen, was viel mehr gewesen war als nur ein Traum, in den Kreis zu geben, den Splitter in meiner Brust, die blaue Höhle, die Komplexschwingung ... das merkwürdige Gefühl, bewohnt zu werden von etwas, mit dem man selbst keinen Kontakt aufnehmen kann ... etwas regte sich in meinem Gedächtnis, während ich davon sang, etwas, was ich vor längerer Zeit einmal im Kontakt mit dem Taelon Zo'or aus dessen Geist aufgefangen, aber wohl wieder vergessen hatte ... ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, aber der Fetzen Erinnerung wurde von den anderen Eindrücken, die in den Kontakt drängten, davongespült. Die Worte ... die Worte aus den tausend Liedern mit ihren zum Teil vollkommen gegensätzlichen Bedeutungen ... und diese Worte plötzlich in mir, und ich konnte dem Atavus nicht helfen ...
„Du bist intakt,” ließ die Erd-Gesangshüterin mir zufließen, „Deine Reflexe funktionieren einwandfrei ...”
Ich nahm sie und die anderen im Kreis nur undeutlich wahr, überlagert von den Bildern und Worten, gewoben aus dem, was wir aus der Zellerinnerung des Sprechers der Jaridians geborgen hatten und dem, was aus den Kontakten mit den Taelons im nicht bewußten Teil meines Geistes haften geblieben und in dieser Dunkelphase in mein Bewußtsein gespült worden war.
„So sind sie zu Taelons geworden,” sagte ich langsam, und der vergessene Erinnerungsfetzen aus dem Kontakt mit Zo'or war wieder aufgetaucht. „Sie wurden - implantiert?” Ich stolperte über dieses merkwürdige Wort, das ich sofort als eines aus der Komplexschwingung wiedererkannte, mit Bedeutungen wie „intelligent”, „gestärkt”, „vergrößert”, „loyal”, „bewohnt” oder auch „unterdrückt” oder „befestigt”. Ein anderes Bild tauchte in mir auf, diesmal ein Eindruck aus dem Kontakt mit dem Sprecher der Jaridians, in dem es um den Tod seiner Gefährtin gegangen war - die fünfgliedrigen Wesen in undurchsichtigen Kampfanzügen ... Die Taelons hätten sie rekrutiert, hatte der Jaridian gesagt, aber sie hatten mehr als nur das mit ihnen getan; sie hatten ihnen energetische Strukturen eingesetzt, die Worte in ihnen flüsterten, nach denen sie handeln mußten - weil sie ihre eigenen Impulse nicht mehr aktivieren konnten ...

Der gefallene Stern war kein Meteorit gewesen, sondern eine fremde Intelligenz - oder das lebendige Werkzeug einer solchen ... ein riesiges, komplexes Lebewesen, das sich offenbar auf diese Weise replizierte; indem es sich in unzählige Einheiten teilte, die in sich einzeln exakt genau so gestaltet waren wie das Wesen als Ganzes, nur in einer anderen Dimension ... die winzigen Einheiten drangen in geeignete andere Lebewesen ein und wuchsen darin und sorgten dafür, daß die sie Beherbergenden zueinander fanden, um für Ihresgleichen - und damit für das sie Bewohnende - optimale Lebensbedingungen zu schaffen ... tausende Lieder, von tausenden von Stimmen in vollkommener Harmonie gesungen ... und die Lieder in den bewohnten Wesen werden diesen wichtiger als alles, was jemals Bedeutung gehabt hatte für sie ...
Die Taelons waren eins geworden mit dieser energetischen Lebensform, die um ihrer selbst willen deren Weiterentwicklung dahin vorangetrieben hatte, wo sie sich jetzt befanden. Im Gemeinwesen zusammengeschlossen, formte die Gesamtheit der Taelons die Komplexschwingung, die ihr gesamtes Handeln beeinflußte. Eigene Impulse, bewahrt aus dem, was sie vor unvorstellbarer Zeit einmal gewesen waren, kamen trotzdem durchaus zum Tragen - wenn sie den Interessen des Gemeinwesens/der Komplexschwingung nicht zuwiderliefen oder wenn sie diese förderten.

In unseren konzentrierten Kontakt hinein drang irgendwann ein lauter, unangenehmer Summton, der sich nicht ignorieren ließ und von einem der Geräte ausging, die die Jaridians benutzten, um sich über große Entfernungen miteinander zu verständigen. Der Sprecher der Jaridians löste sich aus dem Kreis, griff nach dem Gerät, schaltete den Summton ab und begab sich beiseite, um uns nicht mehr zu stören. Was er sagte, blieb unverständlich, aber das, was ich durch den Baum hindurch von ihm wahrnehmen konnte, machte mir Angst ... Wenig später war er wieder im Kreis, bebend vor Zorn. „Die Taelons ...”
Alles wandte sich ihm zu. „Sie haben einen Weg in diesen Spiralarm der Galaxis gefunden - praktisch an uns vorbei. Und in diesem Spiralarm gibt es bewohnte Welten mit bewußten, intelligenten Geschöpfen, so wie ihr es seid ...”
Die anderen Jaridians waren schon auf den Füßen. Ihr Sprecher rief eines der Shuttles, und kurze Zeit später waren sie fort - es war keine Zeit geblieben, auch nur eine einzige unserer Fragen zu beantworten.

Andere bewohnte Welten ... Welt um Welt war seit unvorstellbaren Zeiträumen in diesen Krieg hineingezogen worden, unzählige Völker ausgerottet, Planeten verwüstet und für immer unbewohnbar ... ich fühlte mich elend und krank und bitter damit und fand nichts in mir, was dagegen half ... in meinem Kopf flüsterten noch die Stimmen aus der blauen Höhle, und meine Muskeln schmerzten vor Anspannung ...
Alle im Kontakt waren in Sorge und Unruhe, in Angst um Wesen, die wir uns kaum vorstellen konnten, in Angst um uns und unsere Zukunft und die, die richtig hinfühlen konnten, auch in Angst um die Jaridians und die Taelons ... meine Reflexe reagierten auf die Gefühle der anderen im Kreis, aber es war keine Energie mehr da. Ich öffnete die Reserven - nichts, verbraucht ... ich hatte mich noch nie im Leben so hilflos gefühlt - nichts, nichts konnte ich tun, ich konnte nicht kämpfen wie die Jaridian, ich konnte meinem Stamm keine Kraft mehr geben, ich konnte nicht einmal mehr hinfühlen und verstehen, weil ich die Stimmen aus der Höhle nicht mehr loswurde, die flüsterten und murmelten: „Keinen Wert ... es hat keinen Wert ... nicht wie wir ...” Ich konnte nicht einmal mehr schreien, um die Stimmen zu übertönen, meine strapazierten Stimmbänder gaben das nicht mehr her ... ich drückte mir die Flügelhände gegen den Kopf, um es darin zum Schweigen zu bringen, aber statt dessen wurden die Stimmen nur lauter und deutlicher verständlich: „Keinen Wert ... nicht wie wir ...”
„Aufhören, Ihr sollt aufhören!” schrie ich innerlich - und stand übergangslos wieder selbst in der blauen Höhle, die Stimmen waren verstummt, dafür war die Komplexschwingung wieder hör- und fühlbar. Es war, als ob ich ihr gegenüberstünde, sehr klein, ein verschwindend winziger sonnenheller Funke in all dem Blau ... der Klang dieser mächtigen Schwingung hatte nach wie vor etwas sehr Faszinierendes, so viele Stimmen, eine solche Harmonie ... es zog einen hinein; Sehnsucht, sich nur noch damit zu beschäftigen, eins damit zu werden, sich darin aufzulösen, selbst nichts mehr zu sein als eine dieser tausend Stimmen ...
Das krächzende Geräusch, das ich produzierte, als ich unwillkürlich versuchte, in das Lied der Komplexschwingung einzustimmen, brachte mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Ich lag auf dem Mitte-Lager eines Ph'taalbaumes, zusammengekrümmt, die Flügelhände an den Kopf gepreßt und mir tat alles weh ... die anderen waren ein Stück von mir abgerückt, hielten aber den Kontakt über den Baum ... Unruhe, Angst und das Gefühl der Hilflosigkeit, nichts, gar nichts tun können ...
Ich war kein Teil der Komplexschwingung.
Ich war weder Taelon noch Jaridian.
Ich war eine aus dem Volk, das der Wind trägt, mit einer Wurzel in denen, die das Dunkle birgt ... und mit der Stimme beider Völker ... eine Hüterin der Gesänge ...
Mit weit ausgebreiteten Flügeln in einem wolkenlosen Himmel in der Sonne schweben ... im Sturzflug in die Fluten des Meeres tauchen ... die Flügel um einen Stammesgenossen legen ... ein erschöpftes Nichtflügges, das gerade erst in die Krone geklettert war, am Brustfell wärmen ... die gebrochenen Rippen eines der Unseren zusammensingen, der im Sturm verunglückt war ... ein Begrüßungslied singen für Angehörige eines anderen Erdstammes, die den unter unserem Gehölz beheimateten Stamm besuchten ... den Bittgesang an das Wasservolk vortragen um Regen für unseren Wald ...
Ich hatte mich aus meiner zusammengekauerten Stellung aufgerichtet und Füße und Flügel ausgestreckt mit der Bitte um Kontakt, und wir rückten alle wieder dicht zusammen. Mir war warm geworden, und ich konnte einen hellen Funken Energie in meiner Brust spüren, als ich heiser, aber sicher im Ton den Gesang vom Ursprung der lebenden Völker anstimmte und alle einfielen ... Das Singen vom Gewordensein und von dem, was wir jetzt waren, ließ die Angst weniger werden, und die letzten Strophen, die den Weg beschrieben, der vor uns und unserer Welt liegen mochte, erinnerten uns einmal mehr an das, was wir bald zu tun hatten: unsere Zukunft ins Leben singen ... und die Gesangshüterin der Erde und ich schauten einander an und variierten gleichzeitig den Text der letzten Zeilen:

„Wir finden unseren Weg
den Weg,
Teil der Heilung zu sein
für das Ganze ...”

Eine Zeit später war unser Stamm auf dem Weg zur Höhle der Gesänge. Die Dunkelphase des Rathaltens über unsere Wege und Aufgaben im neuen, großen Ganzen rückte immer näher, und diesmal mußten gründlichere Vorbereitungen getroffen werden als je zuvor. Mehrere Erdstämme waren bereits dabei, mit der Erlaubnis unserer Welt die Höhle der Gesänge beträchtlich zu erweitern. Alle Stämme der drei Völker wollten an diesem Rathalten teilnehmen und so dicht darin verwoben sein,wie es irgend ging; wer eine Möglichkeit fand, selbst dabei zu sein in direktem Kontakt anstatt durch die Vermittlung durch Erde, Wasser, Wind und Bäume, würde sie nutzen - wir mußten so viel Platz und Unterkunft schaffen, wie es dieses und die umliegenden Gehölze überhaupt nur zuließen. Das bedeutete, hier in der Umgebung wälder- und gewässerweit provisorische Behausungen aller Art zu gestalten - und für die Stämme, für die das Dabeisein in direktem Kontakt eine Reise um unsere halbe Welt bedeuten würde und daher nicht möglich war, die besten vorstellbaren Kontaktmöglichkeiten zu schaffen ... Es galt, Felsen auszurichten, um Schwingung ungebrochen über weite Entfernungen weitergeben zu können, Bächen und Flüssen zu singen, daß sie Schwingung hintragen zu den Unsrigen auf der anderen Seite der Welt, Ph'taalbäume zu bitten, über Laub, Äste, Stamm und Wurzeln unseren Gesang weiterzugeben an alle, die darin und darunter hausten, so lange das Rathalten andauern mochte, und den Wind selbst zu bitten, um unsere Welt zu tragen, was immer gesungen werden würde ...
Keiner von uns fühlte sich wohl. Die Jaridians tauchten nicht mehr auf, um an dem, was wir taten, teilzuhaben. Ihr riesiges Schiff war nach wie vor fühlbar über unserer Welt, aber keiner der Ihren ließ sich bei uns sehen ... Wir hatten fühlen können, wie erschüttert sie über die Nachricht, die Taelons wären weiter vorgedrungen, gewesen waren. Da niemand genau wußte, was augenblicklich gerade geschah, waren wir unruhig und nicht bei dem, was wir eigentlich zu tun hatten ... und da war noch irgendetwas anderes, etwas wie körperliches Unbehagen, kein Schmerz, eher das Gefühl von - Mangel ... es hatte acht von uns gebraucht, um meine Energie so weit wieder aufzufüllen und zu aktivieren, daß ich überhaupt in der Lage war, zu fliegen oder irgendeine Arbeit zu tun, und jeder von ihnen konnte nur wenig Energie geben, sogar die beteiligten Erdstamm - Angehörigen ... ich hatte kaum gewagt, diese Energie anzunehmen, als ich spürte, wie mühsam es für alle war, aber die Gesangshüterin des Erdstamms hatte darauf bestanden: „Du schaffst es nicht allein und wir brauchen Dich - wer soll Deine Arbeit tun?”
Mit diesem Minimum an Kraft fiel mir selbst das Singen für die Ph'taalbäume rund um die Höhle der Gesänge schwer, aus deren Kronen wir Behausungen für die zu erwartenden Besucher flochten - eine Arbeit, die mir normalerweise angenehm und Erholung war ... ich versuchte, eine letzte Energiereserve, die sich von selbst nur in wirklichen Notfällen öffnet, über die Resonanzsehnen zu aktivieren, aber auch das bewirkte nichts. Entweder war ich wirklich völlig verausgabt, oder etwas ganz anderes stimmte nicht.
Allen anderen aus meinem Stamm ging es ähnlich. Das Wetter war sehr warm und trocken; wir hätten rasch vorwärts kommen müssen, zumal in dieser Zeit im Umlaufzyklus die hell belaubten Zweige das Flechten und Biegen zum Vergnügen werden lassen konnten - aber es war Mühe und Anstrengung und auch den Ph'taal war es unangenehm - sie ließen sich überhaupt nur flechten, weil sie die Dringlichkeit unseres Anliegens verstanden hatten ... daß es letztendlich um den Bestand unseres Ganzen hier ging ...

Die Erdstamm-Angehörigen hatten mit ihrer Arbeit genau so zu kämpfen wie wir mit der unseren. Ihre sonst kompakte, warme Energie wirkte ausgedünnt und abgekühlt, die Hitze und den Rhythmus für das Platzschaffen brachten sie kaum mehr auf. Anstatt wie gewohnt alle gemeinsam zu singen und zu tanzen, lösten sie einander in Gruppen dabei ab, während die anderen kraftlos am Boden hockten, um sich auszuruhen.
Die nächste Pause, die ich brauchte, nutzte ich, um hinaus aufs Meer zu fliegen, mich ins Wasser sinken zu lassen und nach jemandem aus dem Volk in den strömenden Tiefen zu rufen. Selbst das Wasser fühlte sich anders an als sonst, und es roch und schmeckte anders ... etwas fehlte, etwas Wichtiges, etwas, das um diese Zeit, bei diesem Sonnenstand auf jeden Fall hätte da sein müssen ...
Neben mir tauchte jemand auf; ein sanftes Gesicht mit großen Augen, über denen sich sofort die durchsichtigen Zwischenlider schlossen, erschien über den Wellen, und ich wurde zwischen ein Paar riesige Flossen genommen. Der Gesangshüter des Wasservolks ... Allein der Kontakt mit ihm war wohltuend und linderte das Gefühl von Mangel und Leergebranntsein ... „Und Du bringst Licht und Farben”, meinte er, „und das tut gut ...”
Auch den Wasserbewohnenden ging es nicht gut. Und sie hatten als Erste verstanden, warum das so war ... „Die Wasser aus den Hochgebirgen sind ausgeblieben ...”
Wenn die Warmphase beginnt, strömen von den höchsten Bergen unserer Welt die zuvor gefrorenen Wasser hinab in die Ebenen und von dort aus in die Meere und bringen den Geschmack des Anfangs mit sich ... Was hatte in der Höhle jemand vom Erdvolk gesagt? „Die Wurzel-Würmer haben sich bisher nicht gerührt ...” Diese Wesen sorgen für lockere, nährstoffreiche Erde, bevor die Ph'taal in den nächsten Wachstumsschub gehen ... und dann war mir endlich gegenwärtig, wofür ich unbewußt in jeder Hellphase, in der es mir aufgefallen war, und in jeder Dunkelphase, in der ich einen bestimmten Duft vermißt hatte, immer irgendeine beruhigende Erklärung gefunden hatte: das Zwischenholz in den Wäldern trug nicht eine einzige Blüte - nicht einmal Knospen ...
Die Feiern. Die Feiern des Neubeginns, zu Anfang einer jeden Warmphase, in denen die Stämme sich mischen, um neues Leben hervorzubringen ...
Keine Wasser aus den Höhen. Keine Aktivität unter den Wurzeln der Ph'taal. Keine Blüten im Zwischenholz ...

Unserer Welt zelltief verbunden, reagieren wir zyklisch auf die Zeichen, die sie uns gibt während einer Umlaufphase, auf den Geschmack der Luft, des Wassers und der Erde, auf das Verhalten der Ph'taalbäume und aller anderen Lebewesen, mit denen wir Wälder, Höhlen und Wasser teilen, und unser eigenes Gestimmtsein und Verhalten schwingt sich immer wieder neu darauf ein ... und dieses Mal waren die Zeichen ausgeblieben. Die Warmphase hatte begonnen, ohne daß unsere Welt uns bedeutet hätte, unsere Energien zu wandeln und zu stärken in den Feiern des Neubeginns ...
Deshalb waren wir rastlos, gereizt und kaum in der Lage, unsere Aufgaben zu bewältigen ... Die Feiern begannen nie in jedem Umlaufzyklus exakt zum gleichen Zeitpunkt. Aber so weit in die eigentliche Warmphase hinein hatten sie sich noch nie verschoben ... in einem sehr alten Gesang wurde davon berichtet, daß es vor langer Zeit einmal einige Umlaufzyklen ohne Feiern gegeben haben mußte, nachdem eine tödliche Krankheit riesige Waldgebiete vernichtet und deren Stämme heimatlos gemacht hatte.

Keine Feiern des Neubeginns in diesem Zyklus? Keine wilde, begeisterte Zeit, in der es nur die unbändige Freude des Zueinanderfindens gab? Keine Ungeschlüpften, keine Nichtflüggen im nächsten Zyklus? Der Gesangshüter der Wasser und ich hielten uns gegenseitig, getragen von den Wellen, und schauten einander ratlos an. Die Zeit der Not, der schweren Unwetter, des Kampfes um unser Weiterbestehen war eigentlich lang genug vorbei und die Verschiebungen der Phasen dadurch waren inzwischen wieder ausgeglichen - daran konnte das Ausbleiben der Zeichen nicht liegen ...
Die Jaridians? Wir hatten sie immer mehr in unser Leben hier mit einbezogen - und sie hatten weder uns noch unserer Welt je irgendetwas zugefügt, sie waren nur achtsame Beobachter und hatten sogar geholfen.
„Wir müssen Kontakt aufnehmen,” sagte der Wasser-Gesangshüter, „wir müssen verstehen, was die Welt, die uns trägt, mit uns teilen will, und das bald ...”
Wir beschlossen, uns zu Beginn der Dunkelphase, nach Abschließen dessen, was heute noch getan werden mußte, am hiesigen heiligen Ort zu treffen, der tief unter der Höhle der Gesänge lag und mit dieser durch einen langen Gang verbunden war. Bis dahin verabschiedeten wir uns voneinander, und ich erhob mich aus dem Wasser, um zur Höhle der Gesänge zurück zu fliegen, die Hüterin der Gesänge der Erde und alle anderen von dem zu verständigen, was wir gefunden und beschlossen hatten und weiter meinen Teil zum Biegen und Flechten der Gast - Behausungen beizutragen.

Unterschwellig hatten wir es alle gefühlt, aber es nicht wahrhaben wollen, daß die Zeichen, die die Feiern des Neubeginns ankündigten, ausgeblieben waren. Niemand von uns, selbst die Ältesten nicht, konnte sich daran erinnern, selbst einen Umlaufzyklus ohne Feiern erlebt zu haben; wir wußten nur, daß es diesen Gesang davon gab - den aber weder die Erd - Gesangshüterin noch ich auswendig zu singen wußten. Wir verstanden es nicht, und es machte Angst - als ob unsere Welt sich entschieden hätte, sich von uns abzuwenden ...
Als die Dunkelphase anbrach, war die Arbeit nicht geschafft, also beschlossen alle gemeinsam, damit fortzufahren, so lange es irgend ging und die eigenen Kräfte es zuließen. Die Gesangshüterin des Erdvolks und ich machten uns allein auf an den heiligen Ort unter der Höhle der Gesänge, um mit unserer Welt Kontakt aufzunehmen ...
Der heilige Ort hier ist eine sehr kleine Höhle, mit einem Zugang zum Meer und direkt daneben einer Stelle, an der die Feuer des Inneren offen liegen, wodurch dieser Platz sehr warm und immer in orangerotes Licht getaucht ist. Durch die Nähe zum Feuer des Inneren ist auch das Meerwasser warm, genau wie das Gestein, das Wände und Boden der Höhle formt und besonders schwingungsfähig ist ... wenn man sich in wirklich tiefe Konzentration singt, ist es hier leicht, die Stimme unserer Welt zu hören und zu fühlen und die Bilder aufzufangen, die sie aus ihrem Innersten aufsteigen läßt ...
Wenn wir das gemeinsam tun, hocken Erd- und Windleute dicht an dem Zugang zum Meer, in Kontakt mit den Angehörigen des Wasservolkes, die hier in ihrem Element bleiben können, was für sie um so vieles angenehmer ist ...
Wir, die wir die Gesänge der Stämme hüten, sind oft hier unten, allein oder miteinander im engen Kreis, und unsere Krallen, Flügel und Flossen haben in unzähligen Umlaufzyklen die Plätze geformt, die wir einnehmen. Nur an der Stelle neben der Öffnung hinab zu den Feuern des Inneren ist das Gestein glatt und ohne Spuren; dort hält sich nie jemand auf, selbst wenn viele Angehörige der Stämme hier unten sind.
Als die Gesangshüterin des Erdvolkes und ich, gleichzeitig mit dem gerade auftauchenden Gesangshüter der Wasser, dieses Mal den heiligen Ort betraten, sah ich für den Bruchteil eines Augenblicks bei den Feuern des Inneren jemanden sitzen - eine dunkle, kraftvolle Gestalt in aufrechter Haltung und mit absolut konzentriertem Gesichtsausdruck. Überrascht ging ich einen Schritt auf die Gestalt zu, um sie besser erkennen zu können, und im selben Moment war sie verschwunden. Ich blinzelte und versuchte meinen Blick scharf zu stellen - da saß niemand ...
Ich sah den Gesangshüter der Wasser an, der auf die gleiche Stelle blickte wie ich. „Du hast es auch gesehen ...” sagte ich, „wer oder was war das?” Er schaute mich an und meinte lächelnd: „Seit wann schaut das Windvolk in die Zukunft? Das ist doch eigentlich unsere Aufgabe ...” „In die Zukunft?” fragte ich verwirrt. Er antwortete, indem er die Zwischenlider über seinen empfindlichen Augen schloß - und dadurch wußte ich, daß zumindest das, was er gesehen hatte, eine Vision gewesen sein mußte. Die Wasserleute sehen in anderen Dimensionen klar mit weit offenen Augen, egal ob sie sich an Land oder in ihrem Element befinden; wenn sie in der Dimension, die wir hier miteinander teilen, deutlich sehen wollen, müssen sie über Wasser ihre Augen mit den Zwischenlidern schützen.
„Ich habe jemanden sitzen sehen bei den Feuern ...” sagte jetzt auch die Erd - Gesangshüterin, mit einer Stimme, die von weit her zu kommen schien. Wir schauten einander staunend an, während wir in Kontakt gingen und den flüchtigen, intensiven Eindruck miteinander teilten. War das eine erste Antwort unserer Welt gewesen auf die Fragen, die wir ihr stellen wollten?

Die Hüterin der Gesänge des Erdvolkes stimmte den warmen, tieffrequenten Gesang der Konzentration an, wir anderen nahmen ihn auf und schließlich vibrierte der heilige Ort selbst in dieser Frequenz ... keine Angst mehr, keine Unruhe ... keine Gedanken mehr, nur noch Gesang, dessen Rhythmus immer langsamer wurde, bis schließlich ein einziger tiefer, gehaltener Akkord blieb, der den Durchgang nach unten öffnete, den Zugang zur Stimme unserer Welt selbst ... Tiefe, Offenheit, Wärme ... und in dieser Tiefe ein lebendiges, pulsierendes, unendlich groß erscheinendes Leuchten ... unsere Frage, unser Anliegen erschien mir mit einem Mal winzig, klein und unwichtig angesichts dieser Größe; trotzdem mußte es vorgebracht werden - um des Ganzen willen, das wir waren und dessen Gefüge nicht im Gleichgewicht schien ...
Ich fühlte in den Kontakt hinein zu den beiden anderen, und gemeinsam konzentrierten wir uns auf das, was uns hierher geführt hatte, um es unserer Welt zu singen:

„Welt, die uns trägt,
wir kommen
mit der Bitte um Verstehen
Welt, die uns trägt,
wir kommen
mit der Bitte um Kontakt.

Ausgeblieben
sind Deine Zeichen
für die Zeit des Neubeginns
ausgeblieben
Deine Einladung zur Freude
Was haben wir getan?

Du hast Deine Stimme erhoben
in der Zeit größter Not
und unser Ganzes gewahrt
Du hast die nicht vertrieben
die die Notzeit
hat zu Unsrigen werden lassen
Du duldest die,
die nach der Notzeit kamen
mit dem Wunsch,
Dich zu schützen
und von unserem Ganzen zu lernen
Was haben wir getan?”

Das Leuchten in der Tiefe schien heller zu werden und im Rhythmus unseres Gesangs zu pulsieren ... und in den Akkord, den wir schließlich wieder hielten, wob sich eine neue Stimme, kraftvoll und tragend, obwohl ihr Gesang den unseren nicht übertönte:

„Nichts habt Ihr getan
das das Ganze verletzt hätte
auch die, die die Notzeit brachte,
achten es
es geht nicht um das Gewesene
es geht um das, was sein wird ...”

Die Stimme unserer Welt ... deren Gesang sich jetzt zu pulsierenden Formen und Farben wandelte ... blaugrün, rot, braungrau und sonnenhell ineinanderwirbelnd, immer schneller ... und dann war plötzlich klar und deutlich wieder die bei den Feuern des Inneren sitzende Gestalt da. In dem Moment, in dem ich sie zu erkennen glaubte, war sie verschwunden - ersetzt durch eine der Erinnerungen des Sprechers der Jaridians: ein Taelon - Mutterschiff, von einer Energiewaffe der Jaridians getroffen, zerbarst in Trümmer, die sich sofort in Myriaden blauer Sternensplitter verwandelten ... und sich auflösten in den Feuern des Inneren unserer Welt, deren Leuchten in der Tiefe vibrierte ... wieder ein deutlicher Eindruck: eine Gruppe von Wasserbewohnern, an der Meeresoberfläche versammelt um ein großes, bleiches Wesen, dessen Haut fast vollständig verätzt, zerrissen und verbrannt war; sie hatten ihre Flossen auf das Geschöpf gelegt und sangen dafür ... ich sah mich selbst, tanzend und singend unsere Welt anrufen, nachdem wir den Weg gefunden hatten, unser Ganzes vor dem Angriff der Taelons zu schützen ... ich sah den Sprecher der Jaridians, der seiner toten Gefährtin die Waffe abnahm ... und unseren Stamm, um ein Mitte-Lager versammelt, auf das knochige, schwarzfedrige geflügelte Geschöpfe gebettet waren, alle verletzt und verängstigt, keines davon gehörte auf unsere Welt, und wir hielten Kontakt mit ihnen und sangen für sie ...
Irgendwann ebbte die Bilderflut ab, und nichts blieb mehr außer dem Leuchten in der Tiefe und der leisen Vibration des Gesangs des Konzentrierens im Gestein der Höhle. In die Stille hinein wob sich noch einmal die Stimme unserer Welt:

„Ihr habt eine Wahl zu treffen
trefft die richtige
nur dann
kann es Neubeginn geben ...”

Eine letzte Folge von Bildern: Die stille, weiße Weite der gefrorenen Wasser auf den Höhen unserer Welt.
Regungslosigkeit im dichten Wurzelgeflecht eines Ph'taal.
Zwischenholzsträucher, kahl und ohne Knospen ...

 

Ende von Kapitel 6

 

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