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  „Aveenas Lied” von AlienVibe   (Emailadresse siehe Autorenseite)
Alle hier vorkommenden Personen gehören den jeweiligen Eigentümern. Bitte veröffentlichen Sie diese Geschichte nicht ohne vorheriges Einverständnis der Autorin.
 
Thema:  Vom Umgang mit Feinden
Zeitpunkt:  weit vor Beginn der ersten Staffel
Charaktere:  der Heiler und der Sprecher der Jaridians, die Gesangshütenden des Wasser-, Erd- und Windvolkes, der auf dem Weg, einzelne Zhawi (die Besatzung des Sokara-Kreuzers und des Zhawi-Schiffes, Angehörige der vier Völker)
 

 

AVEENAS LIED

Kapitel 13

 

Bis auf den aus den Feuern bekam jeder von uns ein Injektionsgerät überreicht. „Es ist ein Hochdruck-Injektor,” erklärte der Heiler, hockte sich neben einen der Zhawi und drehte vorsichtig dessen Kopf zur Seite. Um den Hals des Wesens lief ein Geflecht aus bräunlich schimmernden, in langsamem Rhythmus pulsierenden Adern. „Ihre Flüssigkeitszirkulation funktioniert etwas anders als die Eure ... sie nehmen offenbar leicht Stoffe durch die Haut direkt in den Kreislauf auf, zum Beispiel über solche Gefäßnetze ... ” Er deutete auf eine der kräftigeren Adern, setzte den Injektor darüber auf der Haut an und betätigte ihn. Der Inhalt des Gerätes war verschwunden. Der Heiler bedeutete mir, mich um das Wesen zu kümmern, und ich hockte mich zu ihm und legte ihm die Flügelhände auf den Kopf ...
Nichts geschah. Ich spürte nur das CVI in ihm ...

Und dann etwas anderes. Zunehmende Wärme ... ich ging in Tiefenwahrnehmung und sah und fühlte die Nanokristalle. Angezogen von Nervengewebe, hatten sie ihren Weg dorthin gefunden, wo es am dichtesten gepackt war - in den Schädel ... und die ersten reagierten bereits auf das CVI ... und dann waren alle Kristalle aktiviert, und das Material des Implantates geriet in Bedrängnis ... ich konnte die Hitze nicht mildern, die seine Zerstörung verursachte, aber ich sang Heilung für das Denkgewebe des Zhawi, sobald das blaue Gleißen erloschen war ... ich sang, bis ich die beginnende Regeneration in ihm spürte, dann erhob ich mich, tauschte das leere Dosierbehältnis des Injektors gegen ein volles aus und wandte mich dem nächsten Unbehandelten zu.
Das Injizieren selbst kostete mich so lange Überwindung, bis ich mich daran erinnerte, daß der Heiler mit mir das Gleiche getan und ich nichts wahrgenommen hatte außer eines kurzen Kältegefühls. Und der Injektor verletzte nicht einmal die Haut ...
Schließlich trug keiner der Zhawi mehr ein CVI. Der Hüter der Gesänge der Tiefen hatte inzwischen das Mittel gegen das in seinen Körper geratene Toxin erhalten und atmete wesentlich leichter, auch wenn der seltsame Ring in seinen Augen noch deutlich sichtbar war. Sein Bereich der Unterkunft war leer gepumpt, Sand und Pflanzen waren fort. Zwanzig Besatzungsmitglieder des Kreuzers, alle holographisch zu Zhawi geworden, hatten sich bei uns eingefunden und hielten Wasser und die bisher verfügbare Menge an Nährlösung mit Botenstoff bereit.
Bei ihrem ersten Erwachen waren die Zhawi noch so erschöpft und benommen, daß sie sich, umgeben von vielen „Stammesangehörigen”, mit der Erklärung, sie seien alle in Sicherheit und es werde für sie gesorgt, zufrieden gaben, Wasser und Nährlösung annahmen und daraufhin in die gleiche Art tiefen, regenerativen Schlafes fielen wie der erste der Ihren, den wir behandelt hatten.
Beim zweiten Mal sah das ganz anders aus.
Der Angehörige des Feuervolkes hatte wieder eine schützende, wärmende Hülle aus Energie um uns alle auf dem Mitte-Lager gewoben, die für alle spürbar war, auch für die Zhawi, die fast gleichzeitig zu sich kamen. Sie fühlten, daß sie in Sicherheit waren, sie nahmen einander wahr und registrierten ihre Vollständigkeit als Besatzung, aber sie bekamen Angst, als sie spürten, daß mit ihrem Denken offenbar etwas überhaupt nicht in Ordnung war ...
Ich hockte zwischen dem, dem wir gemeinsam das Implantat genommen hatten, und dem ersten, den ich selbst mit den Kristallen behandelt hatte, und erklärte erneut, daß der Angriff, den sie auf unsere Welt geflogen hatten, fehlgeschlagen war. „Warum haben wir Euch überhaupt angegriffen?” fragte der Zhawi zu meiner Linken. „Ihr habt uns gar nichts getan ...” Er schaute mich verwirrt an, versuchte herauszufinden, woher er mich kennen müßte und welchen Streit ... „Die Feinde der Taelons sind unsere Feinde,” brach es plötzlich aus ihm hervor, und er strahlte mich an, stolz, einen Zusammenhang erkannt zu haben; verbunden war das mit einem Eindruck in seinem Geist vom Anflug auf unsere Welt und einem unförmigen Behältnis mit Zeichen darauf, die Taelon-Schrift darstellten. „Davon haben wir mehr als genug an Bord ...” Ich richtete ihn vorsichtig auf und gab ihm einen Becher Wasser in seine seltsam geformten Hände, so, wie es die Gesangshüterin derer im Dunklen zuvor mit seinem Artgenossen getan hatte. „Du mußt trinken ... Ihr habt viel aufzuholen ...” Der Zhawi schaute überrascht auf den Becher, dann auf mich. „Nimm davon ... fragen kannst Du später noch ...” Er trank einen Schluck, dann noch einen, und schließlich den Rest in einem Zug. Ich nahm ihm den Becher ab und reichte ihm einen neuen, mit Nährlösung gefüllten, weiter mit ihm in Berührung. Er hielt das Nährlösungsgefäß fest und starrte mir in die Augen, versuchte in seinem Geist das riesige Behältnis mit den taelonischen Schriftzeichen mit dem überein zu bringen, was er hier gerade erlebte. „Du bist mein Feind,” meinte er, „Du bist mein Feind, und ich sollte Dich töten.” „Ich bin nicht Dein Feind,” ließ ich ihm zufließen, „im Gegenteil ...” Ich ließ ihn die Sorge der Unseren um ihn und die Seinen spüren, den Wunsch, sie zu heilen, sie wieder so zu sehen, wie sie wirklich waren ... „Wo sind wir hier eigentlich?” fragte er, nicht ganz zusammenhanglos. „Wenn Ihr nicht unsere Feinde seid ... wo sind dann die Taelons?”
Vor dieser Frage hatten wir uns alle gefürchtet.
Wie würden diese Wesen reagieren, wenn sie erführen, daß die Todfeinde der Taelons sie an Bord ihres Schiffes genommen hatten? In Lebensgefahr geraten konnten sie nicht mehr ... und um uns anzugreifen oder Fluchtversuche zu unternehmen, waren sie zu schwach. Wenn einer der Ihren so in Furcht geraten würde, daß er Schaden nahm, waren wir da, um ihn zu heilen ...
Sie mußten es irgendwann erfahren.
„Ihr seid auf einem Verbündetenschiff ...” gab ich in die Berührung. „Und zwar auf einem Schiff unserer Verbündeten ...” In dem zugehörigen Gedankeneindruck zeigte ich ihm ein Taelon-Mutterschiff, das ich sofort wieder verschwinden ließ. „Das sind nicht unsere Verbündeten ...” „Wie denn auch,” meinte der Zhawi zuversichtlich, wieder etwas begriffen zu haben. „Schließlich seid Ihr Feinde der Taelons ...”
Und dann begriff er wirklich.

Er erstarrte innerhalb eines Augenblicks, mitten in der Bewegung. Seine Augen wurden ausdruckslos und merkwürdig trüb, und in seinem Geist war nichts mehr. Ich blieb in Kontakt mit ihm. Irgendwann fing er an zu zittern, ohne daß das seine starre Haltung gelöst hätte. Einer der Jaridians hockte sich zu uns und stützte ihn vorsichtig.
Welchen CVI-Impuls der Zhawi auch immer erwartet hatte - dieser blieb aus. Eindrücke begannen langsam in ihm aufzusteigen. Ein Sokara-Kreuzer, der auf das Schiff zu hielt, zu dessen Besatzung er gehörte - eine Stimme, die laut rief, er selbst, der an einer Steuerkonsole Tasten betätigte ... treibender Raumschutt anstelle des Kreuzers. Unsere Welt, aus der Perspektive seines anfliegenden Schiffes gesehen, die Konsole, an der er saß, stand in Verbindung mit den mit Taelon-Zeichen beschrifteten Behältern. Sein furchtsames Gesicht, gespiegelt in meinen Augen. Die heftigen Vibrationen, die sein Schiff beinahe zerrissen hätten, als es mit Mühe unserem Schild entkam ... wieder ein Sokara-Kreuzer, und das Bild eines Jaridian, der eine Waffe auf einen Zhawi richtete ...
Er ließ den Becher fallen und krümmte sich zusammen, jeden einzelnen Muskel verkrampft. Er hatte verstanden, daß das Schlimmste, was ihm passieren konnte, Wirklichkeit geworden war - er war den Jaridians in die Hände gefallen, und er war nicht tot.
Ich hatte noch nie eine so furchtbare Angst in einem anderen Wesen gespürt ... Meine Reflexe reagierten, und ich nahm das panische Geschöpf zwischen die Flügel. Mit den vertikalen Stimmbändern und den Resonanzsehnen sang ich ihm Beruhigung, Wärme und Loslassen, und unter diesen tiefen Frequenzen lockerte sich seine Muskulatur um ein Weniges.
Ich hüllte den Zhawi in sonnenhelle Energie, und schließlich gelang es mir, ihn zu erreichen und seine Aufmerksamkeit von den Schreckensbildern von Gefangenschaft und Mißhandlung in seinem Geist abzulenken. „Hör' mir zu ...” sang ich ihm, ihn festhaltend, „hör' mir zu und fühle ... hier geschieht etwas anderes ... was immer man Dich glauben gemacht hat, es ist ganz anders ...”
Der Zhawi entspannte sich, als ihm langsam dämmerte, daß, hätte ich ihn töten wollen, das wohl schon längst getan hätte. Aber was war mit den Jaridians? Würde ich ihn vor ihnen schützen können, wenn sie ...? Ich bat den Jaridian, der inzwischen mich stützte, sein Hologramm abzuschalten. Er hatte sofort verstanden. „Warte einen Moment ...” Er stand auf und holte einen Becher mit Nährlösung. Dann hockte er sich wieder zu uns, jetzt ungetarnt, und legte eine Hand auf meine linke Schulter.
Die Gesangshüterin des Erdvolkes, der Hüter der Gesänge der Tiefen und der auf dem Weg hatten mittlerweile dafür gesorgt, daß alle übrigen Zhawi sich uns zugewandt hatten. Sie hielten Kontakt mit so vielen von ihnen, wie möglich war, und es herrschte eine seltsame, gespannte Ruhe im Raum.
Ich richtete den Zhawi, der sich inzwischen an mein Fell klammerte, vorsichtig auf. „Wir alle hier haben verstanden, daß nicht Ihr es wart, die gegen uns gekämpft haben ...” ließ ich ihm zufließen. Er begriff nicht. „Nicht Ihr ward es, sondern das hier ...” Ich zeigte ihm ein Gedankenbild des CVI, das ihm vor langer Zeit eingegeben worden war und sich in seinem Gehirn eingenistet hatte. Er schaute auf das Bild und begann erneut zu zittern, als als Antwort darauf in seinem Geist eine Folge von Eindrücken auftauchte: er selbst, viel, viel jünger, als er jetzt war, aber schon genau so federlos und unterernährt ... reglos und voller Angst, obwohl er sich einredete, es müsse so sein, er müsse seiner Bestimmung folgen, auf eine harte, blanke Fläche geschnallt ... und ein glänzendes Gerät, das auf seinen Hals zielte und näher kam ... sein Kopf war fixiert, so daß er nicht ausweichen konnte ... der Schmerz, den das Gerät schließlich verursachte, war so groß, daß er bewußtlos wurde, und danach war nichts mehr wie zuvor.
„Es ist fort,” ließ ich ihn über die Berührung wissen. „Es ist fort ...” Der Zhawi blickte mich verständnislos an. „Du und die Deinen, Ihr seid frei ... wir haben die CVIs entfernt, und es wird Euch nie mehr jemand so etwas antun können.” Ich zeigte ihm sein Denkgewebe, in dem das Einzige, das nicht von ihm selbst stammte, die ruhenden Kristalle waren. „Sie haben das Implantat verbrannt, und jetzt schützen sie Dich vor einem neuen ...” Er fühlte in sich hinein, versuchte zu erfassen, was das alles bedeutete. Wieder ein Bild von ihm selbst, diesmal aus einem späteren Abschnitt in seinem Leben: er stand vor einem Taelon, den ich nicht kannte, glühende Bewunderung in den Augen. „Alles, was ich bin, für sie ...” flüsterte es in seiner Erinnerung, und für einen Moment hatte er diese tiefe Verehrung tatsächlich in seinem in die Ferne gerichteten Blick. Dann schob sich der riesige Behälter mit der Taelon-Schrift darauf über das Erinnerungsbild, gefolgt vom Eindruck eines Wesens, das aussah wie ich und mit weit aufgerissenem Schnabel tot am Boden lag. Der Zhawi krümmte sich wieder, dieses Mal nicht aus Angst. „Was habe ich getan ...” Er versuchte sein Gesicht zu verbergen, aber ich hinderte ihn daran. „Nichts,” sagte ich. „Du hast nichts getan. Es hat nicht funktioniert. Unserer Welt geht es gut, und deshalb seid Ihr hier ...” Das alles hier würde noch harte Arbeit kosten, vor allem für die Zhawi ...
Ich schob das Bild von dem abgezehrten, ungefiederten jungen Implantanten beiseite, das mich nicht in Ruhe ließ, und konzentrierte mich auf das Wesen zwischen meinen Flügeln. „Euch ist genau so Unrecht angetan worden wie den Jaridians und vielen anderen Rassen ... und irgendwann muß jemand damit aufhören, sonst hat es nie ein Ende ... und Ihr hier müßt jetzt vor allem wieder gesund werden, und dazu braucht es Wasser, Nahrung und Medizin ...” Ich half dem Zhawi, sich so zurecht zu setzen, daß er sich mit dem Rücken an mich lehnte, und hielt ihn weiterhin, während der Jaridian, der alles über den Kontakt verfolgt hatte und gar nicht erst versuchte, seine Reaktionen darauf zu verbergen, ihm den Becher mit Nährlösung anbot.
Über die Berührung fühlte der Zhawi, was den Jaridian bewegte - nicht Haß auf ihn und die Seinen, kein Wunsch, ihn zu verletzen oder zu mißhandeln, sondern Schmerz und Mitgefühl dafür, wie sehr er gelitten hatte, Zorn auf die Taelons, die den Willen eines freien Geschöpfes versklavt hatten - und die bedingungslose Bereitschaft, den Zhawi gegen jeden Taelon zu verteidigen, der es wagen würde ...
Er schaute ihn eine Weile lang an, mit Überraschung, Unverständnis und ganz langsam aufkommender Erleichterung. Der Jaridian hielt ihm den Becher hin, und schließlich hob er die Hände und nahm ihn entgegen. Für einen Moment berührte die warme Hand des Jaridian die seinen.

Der Zhawi trank die Nährlösung aus, und über den Kontakt war spürbar, daß er auf der Stelle mehr davon wollte, viel mehr, aber er wagte nicht zu fragen, also erhob sich der Jaridian unaufgefordert, um den Becher wieder aufzufüllen. Der Zhawi schaute ihm nach. „Ich verstehe das alles kaum ...” flüsterte er. „Warum haßt er mich nicht? Warum haßt Du mich nicht?” In seinen Gedanken erschien wieder der Behälter auf seinem Schiff. „Das ist ein biologischer Kampfstoff ... kein einziges Wesen auf Eurer Welt, das auch nur annähernd etwas wie eine Lunge besitzt, hätte das überlebt ... und ich bin derjenige, der diese Waffen in Position bringt, aktiviert und innerhalb der Atmosphäre eines Planeten absetzt ... wie könnt Ihr mich so behandeln?” Der Jaridian war wieder in Kontakt mit uns und fing das auf. In seinen Gedanken erschien ein Bild des Zhawi, in dessen Schädel ein blaues Licht pulsierte. Der Eindruck war mit aufsteigendem Zorn verbunden, und sein Shaqarava aktivierte sich. „Wie sollten wir Euch denn anders behandeln? Nach allem, was die mit Euch gemacht haben ... jemandes Willen zu brechen, ist mit das Schlimmste, was man ihm antun kann ... das ist genau so widerlich wie das mit den Skrills ...” Ein Eindruck eines großen Wesens, ähnlich den Fünfgliedrigen, auf dessen armähnlicher Gliedmaße ein viel kleineres Geschöpf - angewachsen? gefesselt? - war und unter heftigem Schmerz einen grellen Energieblitz von sich gab - ein Skrill, offenbar ein Angehöriger einer anderen von den Taelons versklavten Rasse. Der Jaridian bebte vor Wut und hatte Mühe, sich zu beruhigen, als er spürte, daß er dem Zhawi Angst machte. Er schaute ihn an. „Fühlst Du denn keinen Zorn? Wie es aussieht, haben sie Dir Dein halbes Leben gestohlen ...” Der Zhawi sackte langsam in sich zusammen. „Nein ... ich weiß es nicht ... ich weiß es einfach nicht ...” Seine tiefe Erschöpfung wurde wieder spürbar, und wir bekamen ihn gerade noch dazu, den zweiten Becher Nährlösung auszutrinken, bevor er wieder in den Schlaf sank. Ich bettete ihn in die flockige weiche Substanz. Der Jaridian blieb bei ihm, während ich aufstand, um nach den anderen zu schauen.

Es hatten sich in unserer Unterkunft viele ähnliche Szenen zwischen Zhawi und Jaridians abgespielt wie die, die wir erlebt hatten. Offenbar waren alle, die hier halfen, zuvor sehr gründlich darüber unterrichtet worden, wie die Implantate auf die Zhawi eingewirkt hatten - und für die Jaridians zählten der freie Geist und Wille eines Individuums zu den schützenswertesten Dingen überhaupt ... Was immer die Zhawi jetzt in ihren Augen waren - Kriegsgefangene jedenfalls nicht mehr.
Das verkündete auch der Sprecher, der sehr viel später, als die meisten Zhawi wieder einmal wach waren, zusammen mit dem Heiler unser Quartier aufsuchte. „Wenn wir Euch gefangen hielten, wären wir nicht besser als die, die Euch versklavt haben ...” sagte er, mit einem langen Blick zur Hüterin der Gesänge des Erdvolkes. „Wir haben Euer Schiff gesichert. Euer Interdimensionsantrieb ist zerstört. Ob Ihr in der Lage seid, ihn zu reparieren, wissen wir nicht - wir können es nicht. Der Impulsantrieb scheint zu funktionieren, und manövrierfähig seid Ihr im Normalraum auch. Wir haben alle Informationen aus Eurem Schiff gezogen, die es hergegeben hat. Von Euch erwarten wir nicht, daß Ihr Euch an irgend etwas erinnert, das für uns von Belang wäre. Die, die hier mit Euch arbeiten, haben uns vermittelt, daß Ihr kaum mehr wißt, wer Ihr seid ...” Er vollführte eine Geste der Resignation, und ihm war anzumerken, wie erschöpft er war. „Ihr seid unsere Gäste, so lange Ihr bleiben wollt. Ansonsten nehmt Euer Schiff und fliegt damit, wohin es Euch zieht - es steht Euch frei.”

Ohne eine Antwort darauf abzuwarten, wandte er sich um, um uns wieder zu verlassen, während der Heiler begann, die Zhawi nacheinander zu scannen. Ich reichte das Wassergefäß weiter, das ich gerade geholt hatte, und folgte dem Sprecher nach draußen. Es war so deutlich spürbar, daß ihm etwas zutiefst Unbehagen bereitete, daß ich ihn darauf ansprechen mußte ... Er blieb mitten im Gang stehen, drehte sich zu mir um und packte mich an beiden Schultern. In ihm waren Sorge und schlecht unterdrückter Zorn zu gleichen Teilen. Er ließ mir den Gedankeneindruck des ID-Antriebs des Zhawi-Schiffes zufließen - aus dem, was davon übrig war, konnte ich nichts mehr zusammen setzen, was eine vorstellbare Gestalt ergab ... Er hatte so sehr gehofft, und erneut war alles zerschlagen.
Vor die Trümmer schob sich das Bild der Zhawi in unserer Unterkunft. „Was tun wir mit ihnen? Sie sind hilflos wie Eure Nichtflüggen ... wir wissen inzwischen, wo ihre Heimatwelt liegt, aber dorthin können sie nicht mehr zurück, sie liegt mitten im Taelon-Territorium ...” „Sie könnten mit uns leben,” meinte ich, bereits überlegend, wo sie sich am wohlsten fühlen würden - sie waren einst fliegende Geschöpfe gewesen ... „Das können sie nicht,” antwortete der Sprecher. „Sie werden krank in Eurer Atmosphäre ... und nein, man kann keine Konzentratoren für sie herstellen wie für Euren Wasser-Gesangshüter, der Stoff ist zu flüchtig, wir haben nichts verfügbar, was ihn bindet ... Wir werden sie, wenn uns nichts anderes einfällt, mit nach Jaridia nehmen müssen, aber dann leben sie wirklich wie Gefangene - in einer speziellen Unterkunft wie Ihr, nur daß sie diese niemals verlassen können ...” Er war wütend über seine eigene Hilflosigkeit. „Sie wissen nicht einmal, was sie selbst wollen ... sie wissen nicht einmal, ob sie überhaupt irgend etwas wollen ...” Seine Gedanken zeigten einen Zhawi, der zusammengesunken, halb in dem weichen Material unseres Mitte-Lagers vergraben, mit leeren Händen da hockte und trübe vor sich hin starrte.
Instinktiv reagierte ich auf den Anblick seiner leeren Hände und drückte ihm ein Gefäß mit Nährlösung hinein - und hatte im selben Augenblick verstanden. „Sie wollen sehr wohl etwas,” ließ ich den Sprecher wissen. „Wir müssen schon darauf achten, daß sie genug Wasser bekommen, sie fragen nämlich nur nach der Lösung mit dem Botenstoff ...” Ich übermittelte ihm einmal mehr, wie die Zhawi eigentlich aussahen: kraftvolle Geschöpfe mit ausdrucksstarken Gesichtern, schwarz gefiedert mit mächtigen Schwingen ... „Zelltief wissen sie, wer sie sind, aber ihr Bewußtsein muß sich erst erinnern ...” Ich ließ ihm meine Erinnerungen daran zufließen, wie er damals den Atavus aus seinem genetischen Gedächtnis heraus geheilt hatte - und wie wir gemeinsam die Erinnerungen an die Anfänge seiner Rasse und die der Taelons aus diesem Wissen geborgen hatten. „Das ist es, was wir bald für sie tun werden müssen - sie müssen sich erinnern ... dieses Wissen ist nicht zerstört, nur verschüttet ...” „Du meinst, wenn sie wissen, wer sie sind, dann wissen sie plötzlich auch, wie ihre Zukunft aussehen soll?” „Ich denke, nur wenn sie wissen, wer sie sind, haben sie überhaupt eine Zukunft,” antwortete ich.
Er machte Anstalten, sich aus dem Kontakt zu lösen. „Versucht es,” meinte er, und er wirkte etwas zuversichtlicher. „Wenn es nicht gelingt, nehmen wir sie mit nach Jaridia - es sei denn, es fände sich unterwegs eine geeignete Welt für sie, die sie aufnähme ... aber was wissen wir schon darüber, was für sie geeignet ist, außer der Zusammensetzung ihrer Atemluft und daß ein paar besondere Moleküle in ihrer Nahrung nicht fehlen dürfen?”

Später - die meisten Jaridians hatten inzwischen unsere Bleibe verlassen und die Zhawi hockten beieinander und versuchten, sich einen Reim auf das alles hier zu machen - hielten wir Rat, wie wir diese am besten dabei unterstützen konnten, sich zu erinnern, wer und was sie waren. Bewußt ins Gedächtnis rufen konnten sie sich - mit viel Mühe - offenbar das, was sie unter dem Einfluß der Implantate getan hatten, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie das Schlafgas eingeatmet hatten. Wir hatten bereits begonnen, ihnen bei jedem Becher Nährlösung, den wir reichten, Eindrücke ihrer eigentlichen Gestalt zu vermitteln, und hatten bei jedem Einzelnen bisher nur vages Erstaunen damit ausgelöst. Es sah so aus, als ob wir wirklich auf die gleiche Weise mit ihnen würden arbeiten müssen, wie es mit den Atavus-Wesen - als sie das noch waren - und mit dem Sprecher geschehen war ... aber hier waren dreißig, die sich erinnern mußten, und wir waren nur zu viert ... Auch wenn der Feuervolk-Angehörige bestimmt sagte, daß er energetisch den Raum halten und darauf achten würde, daß niemand in der Zeit verloren gehe, so daß es den unterstützenden Gesang nicht brauche, der damals ihn, den Sprecher und mich getragen hatte, waren drei zu wenige, um eine so intensive Berührung zu halten, wie es diese Art der Arbeit erforderte. Fünfzehn würden wir sein müssen, ohne den auf dem Weg, jeweils einen von uns für einen der Zhawi ... „Ich gehe den Sprecher fragen,” sagte ich. Die eventuell noch fehlenden notwendigen Kenntnisse für einen Arbeitsaufenthalt hier oben würden wir denen, die bereit wären, zu helfen, im Kontakt rasch vermittelt haben ...
Der Sprecher befürchtete Sicherheitsprobleme und Komplikationen. Er übermittelte entsprechende Eindrücke: halbinformierte, ungeschickt herumstolpernde Windvolk-Leute, die mit ihren Flügeln überall anstießen, jemanden von denen im Dunklen, der mit seinen untersten Stimmbändern und Resonanzsehnen vor sich hin summte, woraufhin Flüssigkeit aus einer Versorgungsleitung zu tropfen begann und einen keuchenden, kraftlos in sich zusammengesunkenen Angehörigen des Wasser-Volkes ... „Das kann ich nicht verantworten ... es darf niemand von Euch hier zu Schaden kommen, und dieses Schiff auch nicht ...” Ich überzeugte ihn schließlich, indem ich ihn zwischen die Flügel nahm und begann, ihm auswendig sämtliche Sicherheitsvorschriften inklusive der zugehörigen Gedankenbilder zu übermitteln, die uns hier beigebracht worden waren. Er machte zur Bedingung, daß niemand zusätzliches vom Volk aus den Tiefen dabei sein durfte, und stellte zwei der Seinen ab, die Gesangshüterin des Erdvolkes und mich auf unsere Welt zu fliegen, um zwölf der Unseren zu Hilfe zu holen.

Während wir den sich rasch zusammenfindenden Kontaktkreis über alles informierten, was sich oben auf dem Kreuzer ereignet hatte und die, die sich bereit fanden, mit den Zhawi zu arbeiten, über alles Notwendige bezüglich des Verhaltens auf dem Schiff aufklärten, improvisierten die Jaridians zusätzliche Sitze und Haltevorrichtungen im Shuttle. Die Gesangshüterin des Erdvolkes verschwand für eine Weile und kehrte mit einem weiteren kleinen Bündel wieder zurück. Wenig später starteten wir, jetzt zu vierzehnt von unserer Welt, dicht an dicht diszipliniert still sitzend, wieder Richtung Kreuzer.
Nachdem alle neu Angekommenen mit einem Vitalscanner versehen und ihnen die wichtigsten Regeln zum Thema „sicherheitsbewußtes Verhalten” zur Zufriedenheit des Sprechers abgefragt worden waren, begleitete uns der Heiler in unsere Unterkunft und bat, bei der Arbeit mit den Zhawi anwesend sein zu dürfen. Niemand hatte etwas dagegen, auch die Zhawi nicht, die die Unseren, die sich angeboten hatten, für sie da zu sein, neugierig beäugten.
Wir hatten versucht, ihnen zu erklären, was wir vorhatten; verstanden hatten sie davon nur, daß es ihnen auf jeden Fall helfen würde, ein normales Denkvermögen zu entwickeln, ihr immer noch sehr lückenhaftes Gedächtnis wieder aufzufrischen und Bewegungs- und Handlungsfähigkeit wieder herzustellen. Es war ihnen peinlich bewußt, daß sie sich weder wie eine normale, kompetente Raumschiffbesatzung fühlten noch sich so benahmen. Sie spürten, daß ihnen im Kopf etwas fehlte - und daß sie nicht genug bekommen konnten von der milchigen, merkwürdig schmeckenden Substanz, auch wenn sie davon seltsam träumten und ihre Haut zu jucken begonnen hatte ...
Wir gestalteten unsere Bleibe für uns alle so bequem wie möglich. Der Gesangshüter derer aus den Tiefen verließ seinen inzwischen gereinigten und neu befüllten Anteil und stieg in das Behältnis, das die Jaridians bereit gestellt hatten, und wir bildeten mit den Zhawi einen großen Kreis, den Heiler einbezogen, so daß immer einer der Ihren neben jemandem von uns saß.
Wir begannen die tiefen, tragenden Frequenzen zu singen, die uns schon früher in diese Art von Arbeit hinein geholfen hatten, während der auf dem Weg den energetischen Schutz um uns wob. Und dann wandte sich jeder von uns, weiter mit dem Rest des Kreises in Berührung, dem Zhawi zu seiner Linken zu und vertiefte den Kontakt. Ich arbeitete mit dem, dem ich als erstem hatte klar machen müssen, daß er sich auf einem Sokara-Kreuzer befand ...
Ich richtete meine gesamte Aufmerksamkeit auf ihn und öffnete die Tiefensinne. „Erinnere Dich ...” sang ich ihm, „Du weißt, wie es geht ... Dein Gedächtnis ist intakt ... Du warst verletzt und krank und hast lange gehungert ... aber all Dein Wissen, alles, was Du bist, ist noch da ...” In mir tauchte das Bild seines ganz jungen Selbst, die Implantation erwartend, auf. „Erzähl' mir davon ... warum hast Du keine Federn mehr?” Der Zhawi betrachtete sich in meinem Geist ... und schien plötzlich zu dem Wesen zu werden, das er da sah. „Was sind ‚Federn’?” fragte er, mit einer viel kleineren, weicheren Stimme als zuvor. Ich zeigte es ihm. „Das kenne ich nicht ... niemand hier hat so etwas ...” In seinen Gedanken erschienen viele seinesgleichen, in ähnliche Kleidung gehüllt wie er sie auf seinem Schiff getragen hatte, auf einem riesigen umzäunten Platz, alle mit Waffen in den Händen, beaufsichtigt von Taelons. „Was ist das für ein Ort?” fragte ich behutsam.
Um uns spürte ich den auf dem Weg, der irgend etwas tat und leise, aber bestimmt ein paar unverständliche Worte sprach ... und plötzlich wirbelte ich, umklammert von dem überraschten Zhawi, in einem Strudel abwärts ... rückwärts durch die Zeit, so wie damals mit dem Sprecher ... und landete unsanft in der Nähe des umzäunten Platzes. Als ich mich umblickte, war ich allein - der Zhawi, noch jünger als zuvor, war unter denen, die dort im Waffengebrauch unterwiesen wurde, und nahm mich nicht mehr wahr.
Viel später tauchten wir nach und nach aus der paarweisen Arbeit miteinander wieder auf, alle gleichermaßen erschöpft. Jeder der unseren und jeder Zhawi gab das, ws wir jeweils zusammen gefunden hatten, in den Kreis - grobe Bruchstücke der Geschichte eines Volkes, das seit vielen Generationen nur noch Werkzeug der Taelons war ...
Die Zhawi hier auf dem Kreuzer waren alle im gleichen Alter. Keiner von ihnen hatte jemals Federn oder Flügel gehabt oder auch nur jemanden gekannt, der darüber verfügte. So weit wir auch zurück gegangen waren, es hatte immer nur die selben Bilder gegeben: Zhawi, die so aussahen wie die, mit denen wir hier arbeiteten, in riesigen militärischen Ausbildungslagern auf ihrem Heimatplaneten - Generation um Generation ...
Die falsche Nahrung auf dem Schiff war keine Verwechslung gewesen.
Offenbar hatten die Taelons die Zhawi sehr genau beobachtet, Probeexemplare dieser Rasse auf ihre Mutterschiffe gebracht und mit ihnen experimentiert, bevor sie ihren Planeten an sich brachten ... Die Zhawi besaßen genau die Eigenschaften, die die Taelons benötigten - sie waren ausdauernd, reaktionsschnell, verfügten über ausgeprägte Intelligenz und sehr scharfe Sinne - die idealen Kämpfer im All ... und das Einzige, das störte, nämlich ihre sperrige, raumuntaugliche Gestalt, ließ sich mit einer unaufwendigen Maßnahme ideal den Erfordernissen anpassen - indem man ihnen die Substanz entzog, die für diese äußere Erscheinung verantwortlich war, und zwar ab Beginn ihrer Existenz. Zhawi wurden ausschließlich für die Kriegführung im Weltraum verwendet ...
In der Erinnerung der Zhawi gab es eine undurchdringliche Barriere - ein wattiges, graues Chaos, das mit verborgenen Spitzen verletzte, sobald jemand versuchte, hinein zu tauchen oder es auch nur berührte ... „Zeit des Sterbens” war der Zhawi-Begriff dafür, und keinem von uns war es gelungen, irgend etwas darüber herauszufinden. Diesseits davon waren nur die Lager - in denen die Zhawi vermehrt, gedrillt und implantiert wurden, von denen aus sie zu effektiven Kampfteams zusammengeschweißt, in Schlachtschiffe gesteckt und an die Front geschickt wurden ...
Es war der auf dem Weg, der dafür sorgte, daß wir bei all dem bei Verstand blieben.
Wir mußten die Arbeit abbrechen, weil niemand mehr in der Lage war, sich zu konzentrieren. Wir sangen einander und den Zhawi Loslassen und traumlose Ruhe, und für die Zhawi gelang das ...
Einer Lösung für sie waren wir nicht einen Schritt näher gekommen.

Ich fand keinen Schlaf ... wie lange ich die Bilder in meinem Kopf gedreht und gewendet hatte und wie oft ich versucht hatte, diese diffuse und schmerzhafte Barriere, die „Zeit des Sterbens”, in Gedanken zu durchtauchen, wußte ich nicht, als ich plötzlich eine kühle Berührung an meinem linken Flügel spürte. Ich erkannte den Zhawi, den wir als ersten von seinem CVI befreit hatten, und wandte mich ihm zu. Der Heiler hatte auch ihm zur Sicherheit eine Dosis der geprägten Nanokristalle injiziert, bevor wir mit der Arbeit begonnen hatten.
In ihm waren Erschöpfung und abgrundtiefe Trauer, verbunden mit nach wie vor spürbarem Hunger. Meine Reflexe reagierten, und meine Energie strömte ihm zu ... aber da war noch etwas anderes, etwas, das zuvor nicht da gewesen war ... Er schaute mir in die Augen, unsicherer als bei unserem allerersten Kontakt. Und dann fragte er, halblaut und über die Berührung: „Aveena? Was ist ein Erinnerer?”

Ich hatte die Tiefensinne bereits geöffnet, um das Neue, das ich an ihm spüren konnte, leichter wahrzunehmen, und antwortete ihm, noch ehe mein Verstand es begriffen hatte: „Du.”
Er hatte zu zittern begonnen und hielt sich an mir fest, weil für ihn alles um ihn herum schwankte. Ich richtete mich auf, nahm ihn zwischen die Flügel und zog ihn an mich. Nicht nur seine Haut hatte angefangen, sich zu verändern - es würde nicht mehr lange dauern, bis er Federn hätte - das, was in ihm aktiv geworden war, befand sich woanders. Ich untersuchte ihn behutsam über die Tiefenwahrnehmung.
Das Neue war in seinem Kopf. Sein Denkgewebe, sein Gehirn hatte sich verändert und veränderte sich noch.
Es hatte etwas zu wachsen begonnen darin, und das war nichts Krankes, sondern etwas, das absolut zu ihm und nur zu ihm gehörte, etwas, das ihn von allen anderen unterschied ... das wachsende Gewebe war dunkel und fest und in sich unendlich viel komplizierter als das Nervengewebe, von dem es umgeben war. Ich fühlte vorsichtig hinein - es vibrierte vor Aktivität, und sein Frequenzband war derartig komplex, daß ich es nicht als Ganzes erfassen konnte ... was immer das hier bedeutete, es fühlte sich richtig an ... und als ich den Zhawi das spüren lassen wollte, befand ich mich plötzlich Seite an Seite mit ihm innerhalb dieses Gewebes, dessen einzelne Stränge riesige Ausmaße angenommen hatten. Wir standen auf so einem Strang, es herrschte ein silbriges Licht, das in unregelmäßigen Abständen grell aufflammte, und der Zhawi nahm meine rechte Flügelhand in einen festen Griff, jetzt alles andere als unsicher, und zog mich vorwärts ... Er schien den Weg genau zu kennen, den wir zu gehen hatten. Wir wechselten immer wieder den Strang, und plötzlich war nichts mehr da, worauf wir hätten gehen können ... Der Zhawi setzte zu einem gewaltigen Sprung an und zog mich mit sich.
Noch ehe ich die Flügel ausbreiten konnte, berührten meine Füße etwas sehr Kaltes.
Wir befanden uns hoch oben auf einem Gebirgszug, unter einem klaren, weiten, türkisfarbenen Himmel mit einer fast weiß scheinenden Sonne. Es gab nichts außer Fels und gefrorenen Wassers - und einer Öffnung in der steinernen Wand vor uns, auf die der Zhawi eilig zustrebte. Ich folgte ihm, und vor uns tat sich eine Höhle auf, in der es genau so hell war wie draußen. Ich brachte keinen Laut heraus und konnte nur noch schauen.
Die Wand gegenüber des Eingangs war von der Decke bis zum Boden über die ganze Breite bedeckt mit winzigen, zum Teil funkelnden Steinen, die alle zusammen ein einziges Bild formten. Dargestellt waren überwiegend Zhawi in ihrer eigentlichen Gestalt, die die unterschiedlichsten Dinge taten, die linke Hälfte des Bildes zeigte jedoch auch Zhawi ohne Federn und Flügel, teils mit, teils ohne Kleidung, sowie Taelons und verschiedene Wesen, die ich nicht kannte. Genau in der Mitte der riesigen Darstellung, unten, so daß man, wenn man davor stand, in seine Augen schauen konnte, war aus schwarzen, bräunlichen und goldfarbenen Steinen die Gestalt eines einzelnen Zhawi mit ausgebreiteten Schwingen geformt. Am Ende jeder Schwinge befanden sich zwei Greifkrallen.
Der Zhawi, der mich hier her geführt hatte, ging langsam auf sein Ebenbild zu, dem er so schmerzhaft unähnlich war, den Blick auf dessen goldfunkelnde Augen gerichtet. „Das Tor ...” flüsterte er, mit vor Ehrfurcht rauher Stimme. „Damit wir niemals vergessen ...”
Er stand jetzt unmittelbar vor der Wand, breitete die Arme weit aus, legte seine krallenlosen zweifingrigen Hände in die Greifklauen seines Abbildes und drückte zu.
Der Boden begann unter meinen Füßen zu vibrieren. Der Zhawi trat ein paar Schritte von der Wand zurück - und das mächtige Bildnis begann sich zu verschieben, bis sich dort, wo sich zuvor die lebensgroße Figur befunden hatte, ein Durchgang auftat und die Sicht frei gab auf einen wattigen, grauen Nebel, in dem es immer wieder rötlich aufflammte. Der Zhawi trat in den Durchgang und bedeutete mir, ihm zu folgen, aber ehe ich mich in Bewegung setzen konnte, spürte ich jemandes Hand auf meiner Schulter und eine tiefe, vertraute Stimme sagte: „Nein.”
Der auf dem Weg ... Ich schaute ihn überrascht an. „Ich bin Euch gefolgt,” meinte er schlicht. Er schaute den Zhawi an. „Ich werde Dich begleiten.” Zu mir sagte er, freundlich, aber spürbar keinen Widerspruch duldend: „Du darfst es nicht ... Du bist schon einmal jenseits der Zeit verloren gegangen, und es sind nicht genügend der Deinen anwesend, die Dich zurück singen könnten ... Warte auf uns, wir sind bald wieder hier.”
Ich spürte, daß er Recht hatte. Das offen stehende Tor führte aus dem Inneren der Höhle hinaus in die Zeit, die wogenden Nebel waren die Barriere in der genetischen Erinnerung der Zhawi, die wir nicht hatten überwinden können ... Der Feuervolk-Angehörige wandte sich dem Zhawi zu. Zusammen schritten sie durch das Tor und waren in den Nebeln verschwunden.

 

Ende von Kapitel 13

 

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